Erzählung (Beredsamkeit)

Erzählung. (Beredsamkeit) Ein Hauptteil derjenigen gerichtlichen Reden, in denen es auf die Beurteilung einer geschehenen Sache ankommt. Der Zweck der Erzählung ist dem Zuhörer den Verlauf der Sachen so vorzustellen, dass sein Urteil darüber gelenkt werde. Die alten Lehrer der Redner sind, wie man beim Hermogenes, Cicero und Quintilian sehen kann, sehr weitläufig hierüber. Da hier die Absicht gar nicht ist den Advokaten Anleitung zu geben, wie durch eine schlaue Erzählung eine böse Sache als gut oder eine gute als bös vorzustellen sei, sondern vorausgesetzt wird, der Redner wolle das, was er selbst gesehen oder erzählen gehört hat, so wie er die Sachen wirklich fasst, wieder erzählen, so werden wir uns nur bei Betrachtung einiger allgemeinen Eigenschaften einer guten Erzählung aufhalten. Die Kunst zu erzählen erfordert eigene Gaben, die man nicht durch Regeln bekommt; alles, was die Kritik hier tun kann, ist, dass sie einige Winke und Warnungen gibt.

 Die Erzählung ist in der Beredsamkeit gerade das, was das historische Gemälde in der Malerei ist: beide werden durch einerlei Eigenschaften gut oder schlecht. Jede Erzählung muss die geschehene Sache klar und wahrhaft oder wahrscheinlich vorstellen, damit der Zuhörer über keinen zur Sache gehörigen Umstand in Ungewissheit oder Zweifel bleibe. Zur Klarheit gehört außer dem guten und richtigen Ausdruck, wodurch die Begriffe auf das genaueste bestimmt werden, die Ordnung und die Vermeidung alles dessen, was eigentlich zur Sache nicht gehört, was keinen Einfluss, weder auf den Ausgang der Sache, noch auf das Urteil, das man von der Sache fällt, haben kann. Bei jeder Erzählung hat man eine gewisse Absicht, aus welcher beurteilt werden muss, was zur Sache gehört oder nicht. Der Erzähler muss den Zweck der Erzählung, die Vorstellung, die durch dieselbe in völlige Klarheit kommen soll, auf das deutlichste fassen, um zu beurteilen, was jeder einzelne Umstand dazu beitragen könne. Er muss sich auf das genaueste in die Stelle seiner Zuhörer setzen, um zu erkennen, was sie eigentlich durch seinen Vortrag erfahren wollen oder müssen. Eine notwendige Eigenschaft der Erzählung in Absicht auf die Klarheit ist die Gruppierung der Sachen, das ist, die genaue Unterscheidung der Hauptteile. Die Erzählung muss nicht so unabgesetzt in einem fortgehen, dass der Zuhörer gar nichts begreife, bis man fertig ist. Sie muss in ihre Hauptperioden abgeteilt sein, deren jede besonders kann gefasst werden. Zur Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit ist vor allen Dingen notwendig, dass keine Lücke in der Erzählung gelassen, dass nichts übergangen werde, daraus das, was danach folgt, begreiflich wird. Aber dieses ist noch nicht allemal hinlänglich. Gewisse Teile der Erzählung müssen genau, umständlich und durch solche Kleinigkeiten ausgezeichnet sein, dass der Zuhörer bei der Sache gegenwärtig zu sein glaubt. Dadurch wird die Erzählung um so mehr wahrscheinlich, da der Zuhörer sich nicht vorstellen kann, dass alles so umständlich würde können bezeichnet werden, wenn sich die Sachen nicht wirklich so verhielten. So wie es gewisse Gemälde gibt, von denen man leicht urteilen kann, dass sie bloß aus der Phantasie, nach einem Ideal gemacht sind, andere hingegen, wo man aus verschiedenen sehr zufälligen Kleinigkeiten gewiss erkennt, dass sie nach der Natur gemacht sind; so ist es auch mit den Erzählungen beschaffen, deren Wahrheit oder Erdichtung man aus Kleinigkeiten am besten beurteilt. Folgendes Beispiel aus dem Quintilianus1 kann zur Erläuterung dienen. In portum veni, navim prospexi, quanti veheret interrogavi, de pretio convenit, conscendi, sublatæ sunt anchoræ, solvimus oram, profecti sumus. Alles dieses sagt im Grunde nichts anders als die zwei Worte: E portu navigavi. Aber das ausgezeichnete Gemälde macht, dass man die Sache zu sehen glaubt. Da bei jeder Erzählung etwas die Hauptsache ist, das, wonach alles andere beurteilt wird, diese Hauptsache aber, wie die Hauptgruppe des Malers2 in dem Gemälde, voranstehen und am deutlichsten ins Gesicht fallen muss; so muss der Redner durch Bezeichnung kleiner Umstände, die Hauptsache nahe vor das Gesicht bringen. Darin ist Homer ein großer Meister der Kunst. Die Hauptsachen heben sich in seinen Gemälden vom Grund heraus und kommen ganz nahe.

 Einen großen Grad der Wahrheit kann auch der Ton der Rede einer Erzählung geben. Ein den Sachen, die man erzählt, völlig angemessener Ton, der sich währender Erzählung immer nach der Beschaffenheit der Dinge, die erzählt werden, abändert, ist beinahe allein hinreichend die ganze Sache wahrscheinlich zu machen; so wie ein falscher Ton, besonders da man zur Unzeit wichtig tut oder ins Deklamatorische verfällt, einen sehr großen Verdacht der Unwahrheit erwecken kann.3

 Es erhellt hieraus hinlänglich, dass es eine höchst schwere Sache ist, gut zu erzählen und vielleicht erfordert kein Teil der Beredsamkeit fleißigere Übung als dieser.

  Hermogenes unterscheidet drei Hauptgattungen die Erzählung zu behandeln, die einfache, die ausgeführte, die zierliche. Die erste erzählt die Sache schlechtweg, wie sie geschehen ist, ohne sich in irgend eine Art der Ausschweifung einzulassen. Sie wird da gebraucht, wo die geschehene Sache an sich selbst mit den dabei vorkommenden Umständen hinreichend ist, dem Zuhörer die Begriffe zu geben, die unserer Absicht gemäß sind. Von dieser Art ist die Erzählung in des Demosthenes Rede gegen den Conon. Die Sache war an sich so klar, dass der natürlichste Vortrag derselben am geschicktesten war, die Zuhörer gegen den Beklagten einzunehmen.

 Die ausgeführte Art besteht darin, dass der Redner verschiedenes beibringt, das in der geschehenen Sache nicht offenbar liegt, indem er Ursachen davon angibt, Absichten aufdeckt und etwa Umstände ergänzt, alles in der Absicht die Sache gut oder schlecht vorzustellen. Er hilft also dem Urteil des Zuhörers dabei, da er im ersteren Fall es ihm gänzlich frei gelassen hat. Diese Art ist nötig, wo die vorzutragende Sache etwas zweideutig ist, so dass der Zuhörer, wenn ihm die Sache einfach erzählt würde, auch wohl ein ander Urteil davon fällen oder sie anders fassen könnte als es die Absicht des Redners erfordert.

 Die zierliche Art trägt die Sache mit Zusätzen vor, welche die Einbildungskraft des Zuhörers einnehmen. Er mischt Bilder und Nebenumstände in die Sache, welche ihn für oder gegen die Begebenheit einnehmen, welche er entweder auf eine vorteilhafte oder verhasste Weise vorstellt, so dass er das Urteil des Zuhörers schon in der Erzählung selbst lenkt. Er braucht die Farben der Beredsamkeit sein Gemälde desto kräftiger zu machen. Dieses ist bei gerichtlichen Erzählungen ein Kunstgriff, der den Sachen den Ausschlag geben kann; und darin war Cicero ein großer Meister. Man überlege folgende Stelle. Anstatt bloß zu sagen: Quinctius trauete dem Versprechen des Nävius, trägt er die Sache so vor: Quia, quod virum bonum facere oportebat, id loquebatur Nævius; credit Quinctius eum, qui orationem bonorum imitaretur, facta quoque imitaturum. Dergleichen Wendungen sind um so viel wirksamer zur Überredung, weil der Zuhörer kaum merkt, dass der Redner seinem Urteil vorgreift.

 Es kann zwar geschehen, dass ein Redner seine Erzählung nur nach einer dieser drei Arten vorträgt. Wenn die Sache sehr klar und jedem hinlänglich einleuchtend ist, so tut die erste Art die allerbeste Wirkung. Denn so wie ein Grundsatz durch den Beweis, den man davon geben wollte, nicht nur keine Stärke gewinnt, sondern von seiner Kraft verlieret, so geht es einer offenbar guten oder schlechten Sache, durch eine ausgeführte oder zierliche Erzählung. Die andere Art schickt sich für Begebenheiten, die zwar wenigem Zweifel unterworfen, aber doch durch Erläuterung verschiedener Umstände klarer können gemacht werden. Die dritte Art ist für zweifelhafte Fälle. Indessen geschieht es ofte, dass ein Redner alle drei Arten in einer einzigen Erzählung anbringt; nachdem die besonderen Teile der Sache mehr oder weniger klar sind.

 

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1 L. IV. C. § 41.

2 Gruppe.

3 S. Ton der Rede.

 


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