Entsetzen

Entsetzen. (Schöne Künste) Ist ein sehr hoher Grad des Schreckens und also, wie alle Leidenschaften, ein Gegenstand der schönen Künste. Das Entsetzen wird entweder abgebildet oder es wird durch entsetzliche Gegenstände erweckt: das letztere kann nur im Drama oder in der Rede geschehen; denn keine bloße Beschreibung, auch des entsetzlichsten Gegenstandes, wird ein wirkliches Entsetzen verursachen; man fühlt bloß ein Schaudern, ohne wirkliches Schrecken. So liest man in der Odyssee die entsetzliche Szene, die Ulysses in der Höhle des Zyklopen hat ansehen müssen, ohne alles Entsetzen. Nichts könnte entsetzlicher sein als die erstaunlichen Szenen der einbrechenden Sintflut, wie sie in dem achten und neunten Gesang der Noachide beschrieben werden. Um auch zugleich Beispiele zu geben, wie das Entsetzliche groß zu beschreiben sei, wollen wir einige Stellen dieser Beschreibung hersetzen:

Furchtsam schwebte der Mond im Weste, der Spiegel der Sonne;

Damals mit voller Scheibe –– –– ––

–– –– Statt Licht der Erde zu bringen,

Und für die Menschen Trost, vermehrt er die Schrecken des Himmels;

Denn er entwarf in dem Dunstkreis der Erd' ungeheure Gesichte;

Welche die Furcht noch furchtbarer mahlte;

       Gestalten des Todes,

Sebel und Pfeil und Wagen mit Sensen und Baaren mit Leichen.

Über der Luft und dem Land saß taub und Unglückweissagend

Fürchterlich Schweigen. ––

–– –– Einbrechende Kälte

Zeugt in dem warmen Klima den Winter; die Tiere des Feldes

Rochen den Tod, der über sie schwebt' und heulten gen Himmel.

Ängstlich reketen diese den spitzigen Kopf aus der Höle,

Andre liefen die Läng' und die Quer, jetzt vorwärts, dann rückwärts,

Ohne Ruhe; noch andere drängten sich dicht an einander.

          –– –– –– ––

–– Da verließen die Wasser des Ozeans ihre

Gestade,

Hoben den Rücken empor und schwellten gegen den

Stern auf.

Von der Gewalt in der Grundlag' unwiderstehlich erschüttert,

Fielen die Türme zu Trümmern; die Tempel und hohen Paläste,

Hügel sanken auf Hügel und Klippen stießen an Klippen.

Als die Planeten so kämpften, zerriss der Dunstball des Schweifsterns.

Seiten wie vorgebürgte Gestad' entschlüpften zur Erden,

Wanden um sie sich herum, in schwarzen wolkigsten Schläuchen.

         –– –– –– ––

Niemals zuvor, noch danach, hing solcher eiserner Himmel

Über dem Land.

Öfters erhellte die tödlichen Schatten ein schlängelndes Blitzen

Breit wie ein Strom und kreuzend vom Aufgang zum Untergang; Donner

Brüllten mit schmetternder Stimm' und unter die Stimme des Donners

Heulte Verzweiflung. Der Tod war in allen

Gestalten vorhanden;

Hing in der Luft, und wühlt in der Erd und stürmte vom Meer her;

Wo man hinsah', da droht' allgegenwärtig sein Antlitz.

Aber jetzt rissen die Bande der Wolken, die Urnen

       und Schläuche

Taten sich auf und gossen cometische Meere hinunter.

Wen nicht die Erde begrub, den ergriffen die Fluten, sie schleppten

Unerbittlich zum Tod Nationen von Menschen und Tieren.

Von der gehörnten Flut gespart, auf Berge geflohen

Standen da dünne Schaaren, den Tod nur länger zu schmecken;

Käuchten nach Luft und umschlangen mit beiden Armen die Bäume.

Eine Frist von drei Atemzügen vom Tod zu gewinnen.

Über sie rauschte die Flut mit Riesenschritten; nicht müde

Bis sie die Erde durchwandert hatte, von Pole zu Pole.

 

Eben so groß ist die Beschreibung der über die Einwohner der Thamista einbrechenden Flut im IX Gesange.

 

Als mit dem dämmernden Abend die Nacht vom Abgrund herauf kam,

Hörten sie tief ein dumpfig Gebrüll, das unter der Erde

Kreuzend von Süden nach West hinrollte; von fiebrischem Aufruhr

Bebte die Erde, die Türmer wankten, wie Trunkene wanken.

Hier und da schwoll das Land und neue Hügel entstanden,

Die bald rissen und dike cylindrische Säulen gen Himmel

Bleirecht türmten; die spaltenden schwarzen Gipfel

Spritzten Ströhme Gewässers von sich, mit wildem Getöse.

          –– –– –– ––

Bald kam schwärzer als Nacht, von Wirbelwinden getrieben,

Über das Land ein eiserner Himmel und Wolken auf Wolken

Hiengen herab, zusammen gebirgt. Die Menschen auf Erden

Sahen sie hängen, sie sahen die Stirn des Tods in dem Anblick.

Plötzlich zerrissen die äußersten Bande der Wolken, sie platzten

Aufgelöst mit fallenden Seen zur Erde: der Regen Zog ungeheure Furchen in Auen und sandigten Ebenen,

Neue Bette von Ströhmen, die ihre Gestade verließen,

Und nach kurzem in Meere verwandelt, die Felder bedeckten.

         –– –– –– ––

Von der Verzweiflung betäubt, von aller Hilfe verlassen,

Stand Thamista mit stummer Erwartung daniedergeschlagen.

Denn wem wollten sie flehn? –– ––

         –– –– –– ––

Wenn sie die Hände noch rungen, die Brust im Staube sich schlugen

Wars nur ein blinder Trieb und ein Winseln ohne Gedanken.

         –– –– –– ––

Von der Furcht von der Zukunft betäubt, vom Troste verlassen,

Wünschten sie winselnd den Tod und flohn ihn mitten im Wünschen.

         –– –– –– ––

Unter dem Winseln der Sünder vergaß die Flut nicht zu steigen,

Nicht, sie mit ehernen Hörnern zu fassen und dahin zu reißen,

Wo der Tod sie mit unersättlicher Mordlust erwartet.

 

Man wird schwerlich etwas Entsetzlicheres erdenken als die hier beschriebenen Szenen; aber, wie schon gesagt worden, die Beschreibungen des Entsetzlichen erwecken nur Schaudern und Bewunderung. Der Dichter muss das Entsetzliche eben so brauchen, wie die Natur das Schreckhafte überhaupt braucht, den Menschen von verderblichen Dingen abzuschrecken. Die Natur erweckt Schrecken und Entsetzen da, wo der Mensch etwas, das plötzlich seinem Leben droht, gewahr wird; der Dichter muss dasselbe erwecken, wo er Gefahr läuft in große Verbrechen zu fallen.

 Verschiedene Kunstrichter sprechen von den schönen und lebhaften poetischen Schilderungen solcher Gegenstände, die in der Natur traurige oder ängstliche Empfindungen oder gar Entsetzen erwecken, auf eine Weise als wenn sie glaubten, der Dichter müsste sie bloß zur Belustigung seiner Leser brauchen, so wie etwa ein Maler durch eine sehr gute Abbildung eines hässlichen oder fürchterlichen Tieres zu gefallen sucht. Es ist nicht zu leugnen, dass dergleichen Schilderungen gefallen; nicht nur, weil man die Kunst darin bewundert, sondern auch, weil man überhaupt an aufwallenden Empfindungen, die nur eingebildete, aber uns mit keinem Übel drohende Gegenstände zum Grunde haben, ein Gefallen hat. Allein es ist schon anderswo1 angemerkt worden, dass dieses doch der geringste oder unerheblichste Gebrauch ist, den Künstler aus ihrem Vermögen, Empfindungen zu erwecken, machen können. Weit wichtiger ist es also, dass in den Künsten, so wie in der Natur, die Empfindungen zu ihrem wahren Endzweck gebraucht werden.

 So hat Äschylus das Entsetzen in seinen Eumeniden gebraucht, um tiefe Eindrücke des Abscheues für das erstaunliche Verbrechen des Orestes, der seine Mutter ermordet hatte, in seinen Zuschauern zu erwecken und so braucht es auch Shakespeare in verschiedenen seiner Trauerspiele.

 Es ist vorher angemerkt worden, dass die Beschreibung entsetzlicher Gegenstände kein wirkliches Entsetzen mache, also hat der Dichter nicht leicht zu befürchten, dass er damit zu stark rühren werde; wenn er nur das Entsetzliche nicht durch solche Gegenstände zu schildern sucht, die einen physischen Ekel oder Abscheu erwecken. Hierüber findet man verschiedene richtige Betrachtungen in den Briefen über die neueste Literatur.2 Horaz hat in Rücksicht auf diese Mäßigung des Entsetzlichen gesagt:

   Nec pueros coram populo Medea trucidet. und in dem angezeigten Werk wird hierüber diese gründliche Bemerkung gemacht, dass durch dergleichen Vorstellungen das Pantomimische der Poesie die Aufmerksamkeit entzieht und sich derselben zu ihrem eigenen Besten bemeistert; dass gewaltsame sinnliche Handlungen durch ihre Gegenwart alle Täuschungen der Dichtkunst verdunkeln. Man könnte noch einen anderen Grund hinzutun, der auch zugleich begreiflich macht, in welchen Fällen überhaupt eine große Mäßigung im Entsetzlichen statthabe. Nämlich, wie Solon zur Bestrafung der Vatermörder kein Gesetz gemacht hat, weil er glaubte, der bloße Begriff dieses Verbrechens sei hinlänglich, einen Athenienser davon abzuschrecken, so ist es auch mit manchen anderen Dingen beschaffen, davon man nicht nötig hat, die Menschen durch ein künstlich erregtes Entsetzen abzuschrecken. So haben die Menschen einen natürlichen Abscheu vor dem Tode, deswegen ist es nicht nötig ihn in seiner entsetzlichsten Gestalt vorzustellen. Jedermann fürchtet sich vor starken Verletzungen der Gliedmaßen und braucht darin nicht durch Abbildung eines von Wunden bedeckten Menschen bestärkt zu werden. So verhält sich die Sache mit verschiedenen Arten des Entsetzlichen, das unlängst gegen allen Geschmack und gegen die gesunde Kritik verschiedentlich auf den französischen und deutschen Schaubühnen ist eingeführt worden. Der bloße Begriff, dass ein Vater den Gedanken bekommt sein geliebtes Kind, um es für der großen Not, die er selbst fühlt, zu bewahren, umzubringen, ist entsetzlich genug und der ist ein Barbar und ein ganz unempfindlicher Mensch, der nötig hat, um dieses Entsetzen recht zu fühlen, die Handlung selbst zu sehen oder im epischen Gedicht eine lebhafte Beschreibung davon zu lesen.

 Also müssen gewisse ganz abscheuliche Dinge, deren bloßer Begriff hinlänglich schreckt, nie lebhaft beschrieben, viel weniger im Gemälde oder gar auf der Schaubühne vorgestellt werden, wo man das Auge davon weg wendet und also nicht einmal die eigentliche Empfindung, die der Künstler hat erwecken wollen, gehörig bekommt. Es ist eine große Schwachheit zu glauben, dass man durch dergleichen Dinge rührender werde, da man bloß ekelhaft wird. Wer für Kannibalen arbeitet, mag solche gewaltsame Mittel zu rühren vielleicht nötig haben; aber wer es mit Menschen zu tun hat, deren Gefühl schon etwas verfeinert ist, der scheucht sie mit solchen Dingen von der Bühne weg. Es ist gerade damit, wie mit einer ganz entgegen gesetzten Empfindung, nämlich der Wollust. Wer nur einigermaßen ein feines Gefühl hat, wird die Gegenstände der Wollust allemal gern mit einem Schleier bedeckt sehen; so bald man ihn durch Wegrückung desselben auf das stärkste rühren will, wird er abgeschreckt und bekommt Ekel für Begierde. Nur ganz grobe Seelen oder so sehr abgenutzte Wollüstlinge, deren Gefühl durch übertriebenen Genuss völlig stumpf worden, haben so starke Reizungen nötig. Für solche grobe Seelen sehen uns die an, die uns nie durch feinere Gegenstände rühren, sondern durch die gröbsten erschüttern wollen. Sie gleichen den Köchen, die für ihre schwelgerischen Herren alles mit beißenden Gewürzen zu rechte machen müssen, weil sie sonst gar nichts davon schmecken.

 

____________

1 S. Empfindung.

2 im V Th. Br. 83. 84.

 


 © textlog.de 2004 • 17.11.2024 19:56:36 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z