Erfindung. (Schöne Künste) Man ist fast durchgehends gewohnt mit diesem Wort einen zu eingeschränkten Begriff zu verbinden und nur diejenigen Dinge Erfindungen zu nennen, wodurch überhaupt die Masse der Erkenntnis oder der Künste bei ganzen Völkern vermehrt wird. Dergleichen Erfindungen, die sich über ganze Wissenschaften oder über Hauptgattungen der Geschäfte erstrecken, werden selten gemacht und hier ist auch davon die Rede nicht; sondern von der Erfindung, wodurch jedes Werk der schönen Künste, auch jeder Teil eines Werks, das wird, was es sein soll. Denn in dem allgemeinsten Sinn heißt etwas Erfinden so viel als, aus Überlegung etwas ausdenken, das den Absichten, die man dabei gehabt hat, gemäß ist. Man kann jedes Werk der schönen Künste als ein Instrument ansehen, durch welches man eine gewisse Wirkung in den Gemütern der Menschen hervorbringen will. Hat der Künstler durch Nachdenken und Überlegung das Werk so gemacht, dass es die abgezielte Wirkung zu tun geschickt ist, so ist die Erfindung desselben gut.
Wenn man also in schönen Künsten von der Erfindung als einer zu jedem Werk des Geschmacks nötigen Verrichtung des Künstlers spricht; so versteht man dadurch die Überlegung und das Nachdenken, wodurch er diejenigen Teile seines Werks findet, die es zu dem machen, was es sein soll. So erfindet der Redner seine Rede, wenn er durch Nachdenken auf die Vorstellungen kommt, aus denen die Wahrheit dessen, was er beweisen will, erkennt wird.1 Überall, wo man Absichten oder einen Endzweck hat, müssen die Mittel ausgedacht werden, wodurch der Zweck erreicht wird und dieses nennt man Erfinden. Es sind aber zweierlei Wege, wodurch man auf Erfindungen kommt; entweder ist der Zweck oder die Absicht des Werks gegeben und man sucht die Mittel, wodurch er erhalten wird; oder man hat eine Materie oder einen Stoff, vor sich und findet aus Beobachtung desselben, dass er ein gutes Mittel abgeben könnte, einen gewissen Zweck zu erhalten, dass er tüchtig sein könnte, zu gewissen Absichten gebraucht zu werden. Der Redner geht immer den ersten Weg, er hat bei seiner Rede einen bestimmten Zweck und erfindet die Mittel zu demselben zu gelangen; der dramatische Dichter und der Maler geht meistenteils den anderen Weg; indem er eine Geschichte ließt, findet er im Nachdenken darüber, dass sie einen guten Stoff zum Drama oder zum historischen Gemälde geben könnte.
Die Erfindung ist allemal ein Werk des Verstandes, der die genaue Verbindung zwischen Mittel und Endzweck entdeckt; weil aber die Gegenstände, wodurch die zweckmäßige Wirkung geschieht, in den schönen Künsten sinnliche Vorstellungen sind, so muss zu dem Verstand Erfahrung, eine reiche und lebhafte Phantasie und ein feines Gefühl hinzukommen: diese Dinge zusammen machen die Fähigkeit zu erfinden aus. Hat der Künstler sich einen gewissen Endzweck vorgesetzt, nämlich einen gewissen Eindruck bestimmt, den sein Werk machen soll, so stellt ihm eine lebhafte Einbildungskraft viel sinnliche Gegenstände dar, die dazu tüchtig sind und in desto größerem Reichtum, je mehr Erfahrung und Empfindsamkeit er hat; seine Dichtungskraft hilft ihm, aus diesen noch andere zu erdichten; sein Verstand lässt ihn den Grad der Tüchtigkeit eines jeden erkennen und so erfindet er sein Werk.
Die Erfindungskraft ist, wie die Beurteilungskraft, ein natürliches und dem Geist angeborenes Vermögen, das alle Menschen, aber jeder in dem Maße seines besonderen Genies, haben; und wie man der Beurteilungskraft durch die Vernunftlehre aufzuhelfen sucht, so könnte man auch der Erfindungskraft zu Hilfe kommen, wenn die Kunst zu erfinden, so wie die Logik als ein Teil der Philosophie besonders wäre bearbeitet worden. Dieses ist zur Zeit noch nicht geschehen. Indessen kann es für junge lehrbegierige Künstler, die dieses lesen möchten, von einigem Nutzen sein, wenn hier einige zur Erfindung nötige Arbeiten und danach auch einige allgemeine Hilfsmittel, der Erfindungskraft aufzuhelfen, in nähere Betrachtung gezogen werden.
Es ist vorher angemerkt worden, dass die Werke des Geschmacks, so wie andere Dinge, auf zweierlei Weise erfunden werden; und es kann nützlich sein, wenn dieses etwas umständlicher entwickelt wird. Entweder hat man den Zweck vor Augen und sucht die Mittel, ihn zu erreichen; oder man hat einen interessanten Gegenstand vor sich und man entdeckt, dass er tüchtig sein könnte, zu einem gewissen Zweck zu führen. Den ersten Weg geht, wie schon angemeldet worden, der Redner, der, eh' er seine Arbeit anfängt, sich einen bestimmten Zweck vorsetzt; der Baumeister, dem man ein Gebäude zu einem bestimmten Gebrauch zu erfinden aufgibt; der Tonsetzer, der zu einem vorgeschriebenen Text die Musik zu machen hat; der Dichter, der einen gewissen Charakter oder eine Leidenschaft zu behandeln und zu entwickeln sich vorgesetzt hat; der Maler, der sich vorgenommen hat, bei gewisser Gelegenheit bestimmte Empfindungen zu erwecken; der Dichter und der Zeichner, der ein körperliches Bild sucht, wodurch er abgezogene Begriffe oder auch geschehene Sachen, den Sinne fasslich machen will.
Auf dem anderen Weg kommt der Dichter auf die Erfindung eines dramatischen Stücks oder der Maler eines historischen Gemäldes, indem er den Stoff in der Geschichte findet und ihn durch eine gute Behandlung zu einer bestimmten Wirkung hinlenkt; der Tonsetzer kommt von ungefähr auf einen Gedanken oder hört etwas in einem Tonstück, wodurch er auf die Erfindung kommt, durch eine gewisse Bearbeitung desselben eine bestimmte Empfindung auszudrucken. Es geht damit eben, wie mit den mechanischen Erfindungen zu, wo man sich nicht allemal vorsetzt, eine Maschine zu gewissem Gebrauch zu erfinden, sondern durch genaue Betrachtung der Dinge, die man ungesucht wahrnimmt, auf den Einfall kommt, sie zu gewissem Gebrauch anzuwenden. Auf diese Weise ist man vermutlich auf die Erfindung der Segel gekommen, da man bei gewissen Gelegenheiten beobachtet hat, mit was für Gewalt der Wind, der in ein ausgespanntes Tuch bläst, den Körper, an dem es fest gebunden ist, forttreibt.
Es würde für die genaue Kenntnis des menschlichen Genies sehr vorteilhaft sein, wenn wir die Geschichten der Erfindungen der wichtigsten Werke der Kunst hätten; und es würden sich viele dem Künstler sehr nützliche Beobachtungen daraus ziehen lassen. Zwar wird man einem zum Erfinden untüchtigen Genie durch Lehren und Vorschriften nicht aufhelfen; jedoch ist zu vermuten, dass manches zur Erfindung dienliche Mittel aus der Geschichte der Erfindungen würde bekannt werden, das wenigstens den guten Köpfen die Arbeit der Erfindung erleichtern würde.
Nach Leibnitzens Meinung entsteht in unseren Vorstellungen nie was Neues, sie liegen alle auf einmal in uns; aber von der fast unendlichen Menge derselben ist, nach Beschaffenheit unseres äußerlichen Zustandes, immer nur eine so klar, dass wir uns derselben bewusst sind und dass wir unsere Beobachtungen darüber anstellen können. Indem dieses geschieht, erlangen auch andere in einiger nahen Verbindung stehende Vorstellungen einen merklichen Grad der Klarheit und in desto größerer Menge, je mehr Klarheit die Hauptvorstellung hat und je länger die Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist. Daher kommt es, dass bisweilen eine sehr große Menge der Vorstellungen, die alle an einem Hauptbegriff hängen, sich uns zugleich darstellt. Dann kann man diejenigen, die sich am besten zusammen schicken, die, unter denen die engste Verbindung statt hat, aussuchen und in einen Gegenstand zusammen ordnen; und dieses wäre denn, nach Leibnitzens System, eine Erfindung.
Wenn es mit dieser Erklärung seine Richtigkeit hätte, so ließen sich daraus einige gründliche Lehren ziehen, wodurch die Erfindung erleichtert würde. Überhaupt würde die Erfindungskraft dadurch gestärkt werden, dass man durch beständige Übung die Fertigkeit erlangte, bei jedem klaren Zustand der Gedanken auf das Einzelne darin Achtung zu geben, damit auch die Teile des Ganzen klar würden und also wieder andere Begriffe und Vorstellungen, die an sie grenzen, ans Licht brächten. Wer diese Fertigkeit erlangt hat, wird nicht nur bei jeder klaren Vorstellung weiter um sich sehen oder ein weiteres Feld verbundener Vorstellungen entdecken; sondern auch bei anderen Gelegenheiten werden die Vorstellungen, die einmal bei ihm klar gewesen, durch flüchtige Veranlassungen sich wieder aufs Neue darstellen. Dadurch also würde überhaupt der Erfindungskraft ein weiteres Feld eröffnet. In jedem besonderen Fall aber würde die Erfindung erleichtert, wenn die Vorstellung, darauf sie sich gründet, durch Aufmerksamkeit und langes Verweilen darauf, den höchsten Grad der Klarheit erhielte. Denn dadurch wurde eine desto größere Menge andrer, mit ihr verbundenen Vorstellungen, ans Licht hervorkommen und dem Erfinder die Wahl derselben erleichtern.
Das, was man von einzelnen Fällen glücklicher Erfindungen weiß, scheint zu bestätigen, dass die Sachen in uns wirklich auf diese Weise vorgehen. Wir sehen überall, dass diejenigen, bei denen irgend eine Leidenschaft herrschend worden, sehr sinnreich sind alle Mittel zu finden, wodurch sie befriediget wird. Der Geizige findet überall Gelegenheit zu erwerben, auch da wo kein anderer sie würde vermutet haben. Die Vorstellung des Reichtums als des höchsten Guts, liegt beständig mit Klarheit in seiner Seele, alles, was irgend damit verbunden ist, liegt gleichsam in der Nähe; dieser Mensch sieht nichts als in Beziehung auf seine herrschende Neigung; jetzt kommt ihm von ungefähr etwas vor, das jeder andere übersieht, er aber bemerkt schnell die Verbindung desselben mit seinen Hauptgedanken und erkennt, dass es ein Mittel sein kann, etwas zu erwerben und braucht es. Auf eben diese Weise kommt auch der Künstler auf Erfindungen, so bald die Vorstellung des Werks, das er zu machen hat, herrschend worden ist. So erfand Euphranor seinen Jupiter. Dieser Maler sollte, wie Eustatius erzählt, für die Athener die zwölf großen Götter malen: es wurde ihm sehr schwer das Bild des Jupiters zu erfinden. Der Gedanken, durch was für ein Bild der Gott könnte vorgestellt werden, der an Macht und Majestät alle weit übertrifft, wurde herrschend in ihm und war ihm beständig gegenwärtig. Einstmals ging er vor einem Ort vorbei, da die Ilias laut gelesen wurde und er hörte eben die Stelle .µ
ß..' s.aµ d' a’ .a .a. ˜taµ u. s. f.2 plötzlich ruft er aus, nun hab ich, was ich suchte. Gerade so kam Archimedes auf die berühmte Erfindung, das Verhältnis der verschiedenen Metalle in der Krone des Hierons auszurechnen. In beiden Fällen ist es offenbar, dass die Erfindung bloß dadurch erleichtert worden, dass dem Maler und dem Philosophen der Zweck, den jeder hatte, unaufhörlich in den Gedanken lag. Wer dieses beobachtet, wird auch jede andere sich zeigende Vorstellung sogleich in Beziehung auf seinen Hauptgedanken ansehen und so wird ihm nichts entgehen, was irgendeine wirkliche Verbindung damit hat. Hierin liegt zum Teil auch der Grund, warum durch die Begeisterung die Erfindungen leicht werden. Denn in diesem Zustand ist der Zweck, den man sich vorgesetzt hat, nicht nur die einzige herrschende Vorstellung der Seele, sondern er hat einen hohen Grad der Lebhaftigkeit, wodurch jeder damit verbundene Begriff eine desto größere Klarheit bekommt.
Daraus ziehen wir eine wichtige Lehre für den Künstler, der beschäftigt ist, das zu erfinden, was zu seinem Zweck dient: er enthalte sich aller anderen Gedanken und lasse allein die Vorstellung seines Zwecks klar in seiner Seele; er entziehe die Aufmerksamkeit jedem anderen Gedanken; begebe sich zu dem Ende, wenn dieses sonst nicht geschehen kann, in die Einsamkeit; er gewöhne sich an, jedes was ihm vorkommt, auf seinen Gegenstand zu ziehen, so wie der Geizige alles auf den Gewinnst und der Andächtige alles auf Erbauung zieht. Hat er seinen Geist in diese Lage gesetzt, so sei er unbesorgt; das was er sucht wird sich nach und nach von selbst anbieten; er wird allmählich eine Menge zu seiner Absicht dienliche Begriffe sammeln und zuletzt ohne Mühe die besten auswählen können.
Hierbei aber ist es von der höchsten Notwendigkeit, dass der Künstler seinen Zweck so bestimmt und so deutlich fasse, dass nichts ungewisses darin bleibe. Wie kann der Redner Beweisgründe für einen Satz finden, den er selbst noch nicht völlig bestimmt oder nicht deutlich genug gefasst hat? Und so ist es mit jeder Erfindung. Vergeblich würde der Dichter sich vornehmen, Gedanken zu einer Ode zu finden oder der Maler Bilder zu einem Gemälde, so lang jener den unbestimmten Zweck hat rührend zu sein, dieser etwas schönes zu machen. Ein Werk, dessen Erfindung sich nicht auf ganz deutliche und völlig bestimmte Begriffe gründet, kann nie vollkommen werden. Darum rühmt Mengs von Raphael, dass er allemal zuerst seine Aufmerksamkeit auf die Deutung desselben, das ist auf das, was es eigentlich vorstellen soll, gerichtet habe.3 Durch die Erfindung sucht man dasjenige zu erkennen, wodurch ein Werk vollkommen wird; vollkommen aber wird es, wenn es genau das wird, was es sein soll; also ist offenbar, dass der Erfinder sehr genau erkennen müsse, was das Werk, an dessen Erfindung er arbeitet, sein solle. Demnach setzt die Erfindung einen sehr genau bestimmten und sehr deutlichen Begriff dessen, was das Werk sein soll, voraus. Man sieht es gar zu vielen Werken an, dass die Urheber nie bestimmt gewusst haben, was sie machen wollen. Wie viel Konzerte hört man nicht, dabei es scheint der Tonsetzer habe sich bloß vorgesetzt ein Geräusch zu machen, das von einer Tonart zur anderen übergeht; und wie viel Tänze sieht man nicht, die keine Absicht verraten als allerhand Stellungen, Wendungen und Sprünge zu zeigen? Dieser Mangel einer bestimmten Absicht kann nichts anders als Missgeburten hervorbringen, von denen man nicht sagen kann, was sie sind, wenn sie gleich die äußerliche Form gewisser Werke von bestimmtem Charakter haben. Der Künstler bemühe sich also zuerst, einen ganz bestimmten und deutlichen Begriff von dem Werk zu bilden, das er ausführen will, damit er von jeder Vorstellung, die sich ihm dazu anbietet, urteilen könne, ob sie etwas beitragen werde, das Werk dazu zu machen, was es sein soll. Hat er diesen Begriff gefasst, so richte er seine ganze Vorstellungskraft darauf allein; er mache ihn zum herrschenden Begriff seines Verstandes und gebe dann auf alle Vorstellungen, die sich währender Zeit aufklären, Achtung, ob sie in irgend einer Verbindung mit diesem Hauptbegriff stehen. Dadurch wird er eine Menge Begriffe sammeln, die zu seiner Absicht dienen und er wird nun bloß noch dafür zu sorgen haben, die besten daraus zu wählen.
Vielleicht wär' es nicht unmöglich, jedem Künstler einige besondere Regeln für die Einsammlung der Begriffe und Vorstellungen zu geben. Aber der, dem es weder an Genie, noch an vorhergegangener fleißiger Übung der Vorstellungskräfte, besonders der Phantasie fehlt, scheint sie nicht nötig zu haben. Für den Redner hat man in diesem Stück am besten gesorgt. Die alten Lehrer der Redner haben mit unglaublichem Fleiß jede Wendung des Geistes zu entwickeln gesucht, durch die man auf irgendeine Entdeckung einer zur Sache dienenden Vorstellung kommen kann.
Welche Weitläufigkeit über die so genannten locos communes, über die status quæstionis, über die Affekten und Sitten, bei dem Aristoteles, Hermagoras, Hermogenes und anderen? Wenn hierin zu viel geschehen, so sind im Gegenteil andere Künste in diesem Stück zu sehr von der Kritik versäumt worden; denn es könnte doch über die besonderen Methoden zu erfinden viel Nützliches gesagt werden. Für die Musik hat Mattheson einen Versuch gewagt, den man nicht ohne Nutzen zum Grund einer nähern Ausführung legen könnte.4
In den zeichnenden Künsten ist vor der Hand kein besseres Mittel als dass der Künstler durch fleißige Betrachtung wohl erfundener Werke seine Erfindungskraft überhaupt stärke, damit er bei vorkommenden Fällen eine desto größere Leichtigkeit habe, so zu verfahren, wie in ähnlichen Fällen andere verfahren sind. So wird das Studium der alten Müntzen, der geschnittenen Steine, der antiken Statuen und des halberhabenen Schnitzwerks, den Zeichner lehren, wie die Alten das Wesentlichste so wohl historischer als allegorischer Vorstellungen durch wenige Bilder von großer Bedeutung haben ausdrucken können.
Unter allen Künsten scheint gegenwärtig keine in diesem Stück mehr versäumt zu sein als die Tanzkunst, wo man, besonders in der ernsthaften Art, selten eine Erfindung von irgend einigem Wert zu sehen bekommt und wo es unendlich rar ist, ein Ballet anzutreffen, von dessen Handlung oder Charakter man sich irgend einen bestimmten Begriff machen könnte. Doch hat auch hierin Noverre den ersten Samen ausgestreuet,5 und jetzt würde es gut sein, wenn jemand alles, was wir noch hier und da bei den Alten von der besonderen Beschaffenheit ihrer Tänze aufgeschrieben finden, sammeln würde.
Der andere Weg zur Erfindung, da man zufälliger Weise den Gegenstand entdeckt, der den Stoff zu einem Werk der Kunst geben kann, scheint etwas ungefähres und keiner Vorschrift unterworfen zu sein; dennoch können auch hier dem Künstler Übungen angezeigt werden, wodurch er zu diesem Geschäfte geschickter und fertiger wird. Man kann ihm überhaupt sagen, dass er auf diesem Weg oft auf Erfindungen kommen wird, wenn er sich unaufhörlich mit Gegenständen seiner Kunst beschäftigt. Was nach dem ersten Weg der Erfindung über den besonderen Begriff des zu erfindenden Werks angemerkt worden, gilt hier von dem ganzen Zweig der Kunst, den jeder bearbeitet. Wer sich unaufhörlich mit den Gegenständen seiner Kunst beschäftigt; wer alles, was er sieht und hört, in Beziehung auf dieselbe beurteilt, dem stoßen notwendig überall Gelegenheiten zu Erfindungen auf. Der Historienmaler, dem alles zu seiner Kunst gehörige beständig gegenwärtig ist, sieht jeden Menschen als eine zur Historie schickliche oder unschickliche Figur an. Trift er einen, dessen Gesicht einen Charakter oder eine Gesinnung vorzüglich gut ausdruckt, so kann ihm dieses nicht entgehen; er wünscht sogleich ihn zu einem Gemälde zu brauchen und nun denkt er auf eine Erfindung, dazu er diese Figur brauchen könnte. So macht es der komische Dichter; unaufhörlich mit Charakteren und Handlungen beschäftigt, die sich auf die komische Bühne schicken, beurteilt er alle Menschen aus diesem Gesichtspunkt; bemerkt also natürlicher Weise in seinem Umgang jedes, was ihm dienen kann. Stößt er von ungefähr auf einen komischen Hauptcharakter, so entsteht gleich die Begierde ihn zu brauchen und das Bestreben eine Fabel auszudenken, in die er diesen Charakter einweben könnte. Auf diese Weise hat jeder Künstler, dessen Geist ganz mit seinem Gegenstand beschäftigt ist, überall Veranlassungen zur Erfindung; selbst die unbeträchtlichsten Dinge führen ihn darauf. So gesteht Leonhard da Vinci, dass er oft, aus Flecken an alten Mauern und Wänden, gute Gedanken erfunden habe. Er hat deswegen kein Bedenken getragen, unter den wichtigen Beobachtungen über die Kunst diese gering scheinende Sache in einem eigenen Abschnitt vorzutragen. »Wenn ihr, sagt er, irgendwo eine bestäubte fleckige Mauer oder bunte Steine mit mannigfaltigen Adern seht, so werdet ihr bisweilen Dinge daran finden, die sich sehr gut zu Gemälden schicken; Landschaften, Schlachten, Gewölke, kühne Stellungen, außerordentliche Kopfstellungen, Gewänder und mancherlei Dinge dieser Art. Diese seltsam durch einander liegenden Gegenstände sind eine große Hilfe zur Erfindung, und geben vielerlei Zeichnungen und neue Einfälle zu Gemälden.«6 Ohne Zweifel ist dieses der gewöhnlichste Weg zur Erfindung, dass der Künstler in den, ihm von ungefähr aufstoßenden Gegenständen, alles in seiner Kunst brauchbare bemerket. Man bewundert oft, wie die Künstler auf gewisse glückliche Erfindungen haben kommen können und man glaubt, sie müssen ein außerordentlich glückliches Genie zum Erfinden gehabt haben, da doch, wenn man die eigentliche Geschichte der Erfindung wüsste, sich zeigen würde, dass ein Zufall sie hervorgebracht hat. Vermutlich sind die wichtigsten Erfindungen nicht auf die erste, vorher beschriebene Weise, da man den Hauptgegenstand sucht, sondern auf diese zweite Weise entstanden, da der Hauptgegenstand sich von ungefähr zeigt und dem Künstler, der seine Wichtigkeit einsieht, Gelegenheit gibt auf einen Inhalt zu denken, wo er in seinem rechten Licht könnte gesetzt werden. So hat ein großer Tonsetzer mir bekannt, dass er mehr als einmal Dinge, die er irgendwo im Vorbeigehen gehört, zum Thema oder Inhalt eines Tonstücks gemacht habe, das er selbst nie so gut wurde erfunden haben, wenn er sich vorgesetzt hätte, etwas zu suchen, das gerade den Charakter dieses Ausdrucks haben sollte.
Deswegen muss der Künstler unaufhörlich an seine Kunst denken und sein Netz beständig, wo er immer sei, ausgespannt halten, um jeden vorkommenden Gegenstand, der ihm brauchbar ist, einzufangen und danach Gebrauch davon zu machen, so wie es Philopömen in Absicht auf die Kriegskunst machte.7 Voltaire, der so reich an glücklichen Gedanken ist, hatte beständig seine Schreibtafel bei der Hand, um jedes dienliche, das er sah und hörte, wo es immer sein mochte, sogleich zum künftigen Gebrauch aufzuschreiben. Eben so machen es viel Maler und Zeichner, die beständig Papier und Bleistift bei sich tragen, da ihnen dann bisweilen eine Wolke, bisweilen ein Mensch, den kein anderer würde angesehen haben, zu Erfindung eines guten Gemäldes Gelegenheit gibt. Auch ein mittelmäßiges Genie kann auf diese Weise zu sehr glücklichen Erfindungen kommen; wie aus vorhandenen Beispielen könnte gezeigt werden.
Dieses sind die zwei Hauptwege zu guten Originalerfindungen zu kommen: man kann aber auch auf mehrerlei Arten durch Nachahmungen erfinden. Ein Gegenstand hat oft mehr als eine Seite, nach der man ihn interessant findet. Wer also bei Betrachtung schon vorhandener Werke der Kunst, die mehreren Seiten des Hauptgegenstandes erforscht, kann auf Erfindungen kommen, wenn er die ganze Sache aus einem anderen Gesichtspunkt betrachtet. Wer z. B. ein Gemälde von der Kreuzigung Christi vor sich hat, darin der Maler zur Hauptabsicht gehabt, die verschiedenen Eindrücke vorzustellen, die diese Handlung auf die Freunde des Gekreuzigten gemacht, so könnte er leicht auf den Einfall kommen, die ganze Handlung in Absicht auf den Eindruck auf seine Feinde zu behandeln und um alles interessanter zu machen, würde er hierzu den Augenblick wählen, da das Wunder des Erdbebens dabei geschieht. Die Erfindung wäre gut und bloß aus einer Art der Nachahmung entstanden. Wer durch diesen Weg erfinden will, der muss sich in den vor ihm liegenden Werken bestimmte Begriffe von der Erfindung derselben und von dem Zweck, dahin alles abzielt, machen und dann einen anderen, wozu dieselbe Materie mit gewissen Veränderungen sich eben so gut schickt, entdecken. So geschieht es in der Musik gar oft, dass dieselben Sätze oder Gedanken, in einer anderen Bewegung oder in anderem Zeitmaße, sehr geschickt sind, ganz andere Empfindungen auszudrücken: Wer dieses bemerkt, macht durch Nachahmung eine Erfindung.
Eben so leicht kann man auf neue Erfindungen kommen, wenn man bei schon vorhandenen Werken einige Hauptumstände weglässt oder andere Hauptumstände hinzutut oder wenn man mit Beibehaltung des Hauptinhalts und des Geistes der Vorstellung einen anderen Stoff wählet. So hat mancher dramatische Dichter den Geist oder den Haupteindruck seines Drama von einem anderen genommen und eine neue Fabel dazu erdacht; wie Voltaire, der das, was Shakespeare in der Fabel des Hamlots vorgestellt, in die Fabel der Semiramis eingekleidet hat.
Also sind gar vielerlei Wege zu Erfindungen in den Künsten zu gelangen, dazu, außer den Talenten, die von der Natur gegeben werden, ein unaufhörliches Studium der Kunst und der schon vorhandenen Werke derselben, das Hauptsächlichste beiträgt.
Was bis hierher von der Erfindung gesagt worden, betrifft den Hauptstoff oder die Materie im Ganzen betrachtet, es kann aber jedes auch auf die Erfindung einzelner Teile angewendet werden. Jeder Hauptteil eines Werks macht doch einigermaßen wieder ein Ganzes aus, dessen besondere Teile eben wieder so erfunden werden, wie die Hauptteile selbst aus Betrachtung des Ganzen erfunden worden. Ohne Zweifel kommen dem Künstler Fälle vor, wo ihm die Erfindung einzelner Teile so schwer wird als die Erfindung des Ganzen und wo der Mangel eines kleinen schicklichen Teiles das ganze Werk aufhält. Da ist ihm zu raten, nur nicht ängstlich zu sein und sich Zeit zu nehmen. Die Erfindung lässt sich nicht erzwingen und gelingt oft durch die ernstlichsten Bestrebungen am wenigsten. Man weiß die Geschichte des Nealies,8 der mit seinem ganzen Gemälde fertig war, bis auf den Schaum, den er an dem Maule des Pferdes ausdrücken sollte. Aber man ist nicht allemal so glücklich, wie er war. Das Beste hierbei ist, den Schwierigkeiten nachzugeben, nichts erzwingen zu wollen und von der Arbeit zu gehen, sie so gar eine Zeitlang als wenn man sie vergessen wollte, weg zu legen. Denn wo man so große Schwierigkeiten findet, da ist man allemal auf dem unrechten Weg, den man doch für den rechten hält. Also ist das Beste, dass man sich aus dieser falschen Fassung oder Stellung heraussetze. Ein dunkler Begriff dessen, was man sucht, bleibt deswegen doch immer dunkel in unserer Vorstellung; allmählich nimmt die Sache eine andere Wendung und mit angenehmer Verwunderung erfährt man nachher, dass das, was man durch großes Bestreben nicht hat finden können, sich von selbst auf die natürlichste Weise darbietet.
Es ist eine anmerkungswürdige Sache und gehört unter die anderen psychologischen Geheimnisse, dass bisweilen gewisse Gedanken, wenn man die größte Aufmerksamkeit darauf richtet, sich dennoch nicht wollen entwickeln oder klar fassen lassen; lange danach aber sich von selbst und wenn man es nicht sucht, in großer Deutlichkeit darstellen, so dass es das Ansehen hat als wenn sie in der Zwischenzeit, wie eine Pflanze, unbemerkt fortgewachsen wären und nun auf einmal in ihrer völligen Entwicklung und Blüthe dastünden. Mancher Begriff wird allmählich reif in uns und löst sich dann gleichsam von selbst von der Masse der dunkeln Vorstellungen ab und fällt ans Licht hervor. Auf dergleichen glücklichen Äußerungen des Genies muss sich jeder Künstler auch verlassen und wenn er nicht allemal finden kann, was er mit Fleiß sucht, mit Geduld den Zeitpunkt der Reife seiner Gedanken abwarten.
Man rechnet oft auch die Wahl und Anordnung der Teile noch zur Erfindung des Werks: es ist aber von diesen Stücken der Kunst besonders gesprochen worden. Durch die Erfindung im eigentlichsten Verstande werden nur die Teile herbei geschafft und oft viel mehr als nötig sind. Durch die Wahl werden die schicklichsten ausgesucht und die übrigen verworfen, und durch die Anordnung werden sie zum besten Ganzen verbunden.
Es scheint noch hierher zu gehören, dass von Beurteilung der Erfindungen gesprochen werde. Nach dem oben festgesetzten Begriff besteht die Erfindung allemal in Ausdenkung der Mittel, die zum Zweck führen oder in der guten Anwendung einer schon vorhandenen Sache zu einem bestimmten Zweck. Es muss also in jedem guten Werk der Kunst ein Zweck zum Grund liegen, durch welchen alles Vorhandene bestimmt worden ist. Wo kein Zweck zu entdecken ist, da lässt sich auch von der Erfindung nicht urteilen. In der Tat trifft man auch oft Werke der Kunst an, deren Urheber selbst keinen bestimmten Zweck mögen gehabt haben, in denen folglich gar keine Erfindung liegt; die Teile sind von ungefähr so zusammen gekommen, wie die Phantasie des Künstlers, ohne irgend einem Leitfaden zu folgen, sie herangebracht hat; und es kann auch geschehen, dass der, welcher das Werk beurteilt, nicht im Stand ist, den darin liegenden bestimmten Zweck zu entdecken. Hier ist aber von dem Urteil des Kenners die Rede: wo dieser nach genauer Betrachtung nichts entdeckt, wodurch die Teile des Werks zusammenhängen oder wohin die Erfindung des Künstlers zielt; da kann man mit Grund vermuten, dass die Erfindung selbst schlecht sei. Ist aber der Zweck des Werks sichtbar, so erkennt man den Wert der Erfindung aus der Tüchtigkeit der Mittel, zum Zweck zu führen. Bei einer antike Statue weiß man entweder, was der Künstler dadurch hat vorstellen, welchen Gott oder Helden er hat abbilden wollen oder man kann dieses aus genauer Betrachtung des Werks selbst schließen. In dem letzten Fall ist wenigstens etwas Gutes in der Erfindung; denn dass man die Bedeutung des Werks erkennt, beweißt schon, dass der Künstler in diesem Stück seinen Zweck nicht verfehlt habe. Im ersten Fall erkennt man den Wert der Erfindung, wenn in dem Werk alles mit dem Begriff der Sache übereinkommt.. Ein Gemälde, von dem niemand erraten kann, was der Maler hat vorstellen wollen, ist gewiss in Absicht auf die Erfindung schlecht, wie gut sonst immer Zeichnung und Kolorit darin sein mögen; weiß man aber, was der Maler hat vorstellen wollen, findet aber dabei, dass er den Zweck durch das, was im Gemälde ist, nicht wohl hat erreichen können, so ist auch alsdann die Erfindung missraten. Es finden sich aber verschiedene hierher gehörige Betrachtungen, an einem anderen Ort dieses Werks weiter ausgeführt.9
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1 Inventio est excogitatio rerum verarum aut verisimilium, quæ causam probabilem reddunt. Cic. de Invent.
2 Jl. A. v. 529.
3 S. Anordnung S. 63 .
4 S. vollkommener Kapellmeister II Th. 4. Kap. 5 Lettres sur la Danse.
6 Traité de la Peint. Ch. XVI.
7 S. Einbildungskraft S. 294.
8 Hist. Nat. L. XXXV. 10.
9 S. Werke der Kunst.