Fabel. (Dichtkunst) Die Handlung oder Begebenheit, die den Stoff des epischen und des dramatischen Gedichts ausmacht, sie sei wirklich geschehen oder bloß erdichtet. Aristoteles nennt sie die Beschaffenheit der Unternehmungen und Vorfälle. Sie ist das Gewebe, in welches der Dichter die Charaktere, Reden und Entschliessungen der handelnden Personen seiner Absicht gemäs einflicht. Sein eigentlicher Zweck ist die mannigfaltigen Äusserungen der menschlichen Kräfte, bei merkwürdigen Vorfällen, lebhaft zu schildern, die Stärke und Schwäche des Menschen, seine gute und schlechte Seite sehen zulassen und zu zeigen, wie er hier durch die Stärke der Seele über alle Zufälle erhaben, dort ein Spielzeug des Schikcksals oder seiner eigenen Leidenschaften ist. Er sucht Vorfälle und Begebenheiten von der Beschaffenheit, dass sie alles, was von wirkender oder leidender Kraft in der menschlichen Seele liegt, reizen und an den Tag bringen. Die Fabel dient dem Gedicht, wie das Knochengerippe des Körpers, zum Gerüst, an dem die Edlern zum Leben und zur Empfindung dienenden Teile angeheftet werden, damit sie ihre Wirksamkeit ausüben können.
Also ist die Fabel nicht das Wesentliche, auch nicht der wichtigere Teil dieser Gedichte; sie ist nur da um dem Dichter Gelegenheit zu geben, seine Kenntnis der menschlichen Natur auf die vorteilhafteste Weise an uns zu bringen. Wer wird glauben, dass Homerus bei der Ilias die Absicht gehabt habe, den Griechen zu erzählen, was sich vor Troja zugetragen oder dass Sophokles seinen Oedipus geschrieben, blos, um seinen Mitbürgern das Schauspiel des unglücklichen Falles dieses Regenten vor Augen zu legen? Die Fabel ist nicht, wie die Geschicht, um ihrer selbst willen da und muss nach dem Grad ihrer Tüchtigkeit zu Entwicklung der Charaktere und Sinnesarten der darin vorkommenden Personen beurteilt werden. Die beste Fabel ist die, welche dem Dichter die beste Gelegenheit gibt, das, was er uns zu zeigen hat, auf das kräftigste vor Augen zu legen. Jede wirkliche oder erdichtete Geschicht oder Begebenheit, in dem Gesichtspunkte betrachtet, wie bei Gelegenheit derselben die Äusserungen der verschiedenen in dem menschlichen Gemüte liegenden Kräfte, deutlich und lebhaft könnten abgeschildert werden, wird durch diesen besonderen Gesichtspunkt, aus dem man sie ansieht, zur Fabel. Demnach ist die Fabel eine aus der Geschichte genommene oder ganz erdichtete Begebenheit, nach den besonderen Absichten des Dichters angeordnet. Meistenteils wird sie aus der Geschichte genommen, weil ganz erdichtete Personen und Handlungen unsere Aufmerksamkeit weniger reizen als solche die wir für wirklich halten. Wo Personen und Handlungen völlig erdichtet sind, da muss wenigstens der Ort und die Zeit der Handlung so sein, dass sie in unseren schon vorhandenen Begriffen liegen. Eine Fabel aus einem nicht bestimmten Zeitalter und aus einem uns ganz unbekannten Lande würde, wenigstens im Anfang, uns wenig reizen. Erst wenn wir durch wiederholtes Lesen mit Zeit, Ort und den Personen näher bekannt worden, hat die Fabel hinlängliche Reizung für uns.
Aber wirkliche Begebenheiten, gerade so, wie sie sich zugetragen haben, mit ihren besonderen Umständen, werden sich sehr selten zur Fabel brauchen lassen. Die Sachen geschehen selten in der Ordnung, wie der Dichter sie braucht und wie sie uns am lebhaftesten rühren; es kommen darin Dinge vor, die seiner Absicht im Wege stehen; die Menschen sind dabei nicht allemal gerade in den Umständen, die ein völlig helles Licht über ihren Charakter verbreiten. Diesen Mängeln abzuhelfen richtet der Dichter die Geschichte nach seiner Absicht ein, er lässt einige Sachen weg, erdichtet andere dazu, verkürzt oder verlängert die Dauer der Handlungen; zeichnet die wichtigsten Gegenstände genauer aus, dass wir sie vor unseren Augen zu sehen glauben. Die Fabel hat, in Absicht der Sachen, die geschehen, vor der Geschichte den Vorzug, dass sie uns durch Erdichtung besonderer Umstände alles lebhafter, ausführlicher und lehrreicher und durch des Dichters Anordnung ordentlicher und wie es uns am stärksten intressiert, vorstellt; vornehmlich aber wie jedes am bequemsten ist, die handelnden Personen von der merkwürdigsten Seite zu zeigen und uns die Stärke und Schwäche ihrer Seelen lebhaft empfinden zu lassen. Deswegen merkt Aristoteles sehr wohl an, dass die Poesie philosophischer und überlegter sei als die Geschichte.1 Daher kommt es, dass wir durch die Geschichte den Menschen nur in einem schwachen Licht und wie in einer Zeichnung, ohne Farben und Leben, in dem epischen und dramatischen Gedicht aber in seiner ganzen Natur und in seinem vollen Leben erblicken.
Der Dichter kommt durch zweierlei Wege zu der Fabel; entweder fällt er zufälliger Weise darauf, eine sich ihm darbietende merkwürdige Begebenheit zur Fabel eines Gedichts zu machen und erfindet dann die Seele oder den Geist, womit er diesen Körper beleben will; oder er sucht zur Ausführung eines Endzwecks, den er sich vorgesetzt hat, eine Begebenheit auf, die er zur Fabel brauchen kann. In beiden Fällen aber muss er die Begebenheit durch Erfindung und Anordnung der Teile, nach seiner Absicht einrichten. Es ist wahrscheinlich, dass Virgilius durch den ersten Weg auf seine Äneis gekommen ist. Er mag zufälliger Weise an die Niederlassung des Äneas in Italien und an die Folgen desselben gedacht haben und dabei auf den Gedanken gekommen sein, dass diese Begebenheit eine sehr gute Fabel abgeben könnte, den göttlichen Ursprung des römischen Reichs und die vom Schikcksal selbst den Juliern bestimmte Herrschaft darin, vorzustellen. Also erfand er zu der schon vorhandenen Geschicht den Geist oder die Seele, womit er diesen Körper danach belebt hat. Homer ist vermutlich durch den anderen Weg auf die Ilias gekommen. Er mag sich vorher vorgesetzt haben, die berühmten Häupter der ehemaligen griechischen Völkerschaften und auch diese selbst, nach ihren Charaktern zu schildern und ihre Taten in ein helles Licht zu setzen. Dann mag ihm eingefallen sein, dass er aus der Geschichte des trojanischen Krieges, worin alle verwickelt gewesen, denjenigen Punkt aussuchen müsse, der ihm die beste Gelegenheit geben würde, jeden in seinem hellesten Lichte zu zeigen. Dieses sind überhaupt die zwei Wege, wie man in den schönen Künsten auf Erfindungen kommt, wie an seinem Orte gezeigt worden.2
Sehr wichtig ist es für den Dichter, durch welchen Weg er auch auf den Stoff der Fabel gekommen ist, dass er seinen Wert genau und reiflich beurteile. Wenn die Fabel nicht gänzlich erdichtet ist, so sind mehr oder weniger wesentliche Dinge darin, die er nicht ändern darf; da könnte es sich gerade treffen, dass dieses Wesentliche dem Geist des Gedichts im Weg stühnde oder dass es auch dem, was etwa zur Absicht des Dichters notwendig hinzugedichtet werden muss, hinderlich wäre und so könnten sich wichtige Fehler über das ganze Gedicht verbreiten. Zur Beurteilung der Fabel aber wird eine genaue Bestimmung des Geistes oder der Seele, die man diesem Körper zu geben gedenkt, erfordert. Denn wenn da etwas ungewisses oder unbestimmtes bleibt, so wird die Erfindung dessen, was zur Fabel gehört, ungewiss und es ist ein bloßer Zufall, wenn es gerät. Wir wollen nicht mit dem Pater Le Boßu behaupten, dass das Ganze der Fabel ein bestimmter moralischer Satz sein müsse; dieses ist eine sehr pedantische Einschränkung; doch fordern wir, dass der Dichter den Charakter des Stücks wohl bestimme, dass er die Fabel von mehreren Seiten betrachte, bis er einen bestimmten Eindruck von derselben empfindet, den er auch anderen mitzuteilen wünscht. Dieser Eindruck ist das, was wir den Geist der Fabel nennen. Beispiele, wie der besondere Gesichtspunkt, aus welchem die Dichter die Fabel ansehen, das Zufällige in derselben bestimmt, haben wir an der von den drei griechischen Trauerspieldichtern behandelten Fabel vom Tode der Clytemnestra. Aus dem Trauerspiel des Äschylus, das den Namen Coephoren trägt, sehen wir deutlich, dass den Dichter in dieser Fabel vorzüglich die Vorstellung der Strafe gerührt hat, welche früh oder spät auf große Verbre chen erfolgt. Die ganze Fabel ist auf den finstern Ton gestimmt, der dieser Vorstellung gemäß ist. Daher kommt die Erdichtung des schreckhaften Traumes der Clytemnestra, des ängstlichen Versöhnungsopfers auf dem Grabe des Agamemnons, das Entsetzliche, was von dem Meuchelmord dieses Königs erzählt wird, das böse Gewissen des Ägisthus und endlich, nach vollbrachter Tat des Orestes, die angehende Tollheit dieses unglücklichen Sohnes. Der Dichter ist durchgehends von dem Haupteindruck geleitet worden.
Sophokles sah die Sache aus einem anderen Gesichtspunkte. Ihn rührten hauptsächlich der gottlose Charakter der Clytemnestra und der feurige, aber mit Hoheit verbundene Charakter, unter welchem er sich die Elektra vorgestellt hat. Alles zielt auf die deutliche Bezeichnung und Entwicklung derselben ab. Zu dem Ende hat er die Chrysothemis eingeführt, wodurch er hinlängliche Gelegenheit bekommen, die eine Seite des Charakters der Elektra zu entwickeln und die schöne Erdichtung von der Urna, die dem Vorgeben nach die Asche des Orestes enthielt, wodurch die andre Seite des Charakters der Elektra und zugleich der schändliche Charakter ihrer Mutter in das schönste Licht gesetzt worden.
Euripides hat die Fabel wieder in einem anderen Lichte gesehen. Ihn rührte hauptsächlich das Nieder trächtige und Lasterhafte in dem ganzen Betragen der Clytemnestra und ihres ehebrecherischen Gemahls. Um diese beiden Personen in der niederträchtigsten Sinnesart zu zeigen, hat er zu dem Wesentlichen der Fabel die schöne Erdichtung von der Verheiratung der Elecktra an einen armen Landmann, hinzugetan. Nichts war geschickter als diese Sache an sich selbst und der tugendhafte und edle Charakter dieses geringen Menschen, um den Ägysthus und die Clytemnestra in dem verächtlichsten Lichte zu zeigen.
Hiedurch wird also die vorhergemachte Anmerkung, dass der Dichter seine Fabel allemal aus einem gewissen Gesichtspunkt anzusehen habe, um sie zu seinem Vorhaben geschickt einzurichten, verständlich werden. Wenn der Dichter darin glücklich gewesen ist, so wird der ganze Plan seines Werks selten mißlingen.
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1 Poetic. c. 9.
2 S. Art. Erfindung.