Farben. (Dichtkunst) Poetische Farben nennt man alle die Hülfsmittel, deren sich der Dichter bedient seinen Gegenstand der Einbildungskraft so deutlich darzustellen als wenn er vor unseren Augen gemalt wäre, Leben oder Bewegung hätte. Dazu gehören die Bilder und alle Tropen und Figuren, wodurch die Einbildungskraft lebhafter gerührt wird als sie durch die eigentliche Beschreibung, durch den natürlichen Ausdruck geworden wäre.
Du Bos meint, dass die Farben der Dichtkunst das Schikcksal der Gedichte bestimmen. Vermutlich denken einige Dichter eben so, die in der poetischen Malerei weder Maß, noch Ziel, noch Grade beobachten. Ihre Reden sind ein beständiges Gewebe von Bildern und Tropen von der seltsamsten Art. Nicht nur Tugenden und Laster, sondern auch die zufälligsten Begriffe werden zu Personen erhöhet, so dass den Personen selbst wenig zu tun übrig bleibt. Die eigentümlichen Redensarten werden fast überall vermieden als wenn sie ganz unbrauchbar wären.
Diese Üppigkeit hat eine Armut wichtigerer Vorstellungen zum Grund; das Herz bleibt dabei kalt und die Einbildungskraft wird so überhäuft, dass sie ermüdet. Solcher Überfluss schadet, wie die Verschwendung der Zierraten am Kopfputz und der Kleidung, durch welche das Auge nicht hindurch drin gen kann, um das Schöne im Gesicht und der ganzen Gestalt zu sehen. Selbst in lyrischen Stücken, die doch den poetischen Farben ihren eigentlichen Ort leihen, schickt sich diese Üppigkeit so wenig als im Trauerspiel und in dem heroischen Gedicht.
Der Dichter soll bedenken, dass aller dieser Schmuk höheren und wichtigern Eindrücken notwendig muss untergeordnet sein. Wozu diente denn endlich die wohlausgezierteste Aussenseite eines Gebäudes, wenn hinter derselben keine Zimmer wären? Jeder Dichter sollte bedenken, dass ein mit aller Einfalt vorgetragener, wichtiger, das Herz oder den Verstand intreßirender Gedanke eine größere Wirkung tut als alle Bilder der Phantasie.
Der rechte Gebrauch der poetischen Farben gibt uns von den Einsichten und dem Geschmack eines Dichters und Redners den zuverläßigsten Begriff. Ein glänzendes Kolorit, ohne Stärke der Zeichnung, ohne natürliche Schilderung solcher Gegenstände, die über die Einbildungskraft hineindringen und wichtige Empfindungen zurück lassen, verrät einen an Kleinigkeiten hängenden Geschmack. Der gänzliche Mangel poetischer Farben ist noch eher zu ertragen als ihr Überfluss. Die größten Dichter, Homer und die tragischen Verfasser der Griechen haben darin einen großen Geschmack gezeigt, dass sie die hellesten Farben auf die Stellen gesetzt, die zwar des Zusammenhangs halber unumgänglich notwendig gewesen, aber einen geringen Eindruck ohne diese Erhöhung würden gemacht haben. Wo man dem Verstand und dem Herzen Ruhestellen setzt, da kann die Einbildungskraft gerührt werden.