Furcht. (Schöne Künste) Diese Leidenschaft kann auf verschiedene Weise und bei mancherlei Gelegenheit ein Gegenstand der schönen Künste werden. Es ist leicht zu bemerken, aus was für Absicht die Natur den Menschen die Fähigkeit, Furcht zu fühlen, gegeben hat. Sie dient vornehmlich, damit wir durch sie der Gefahr entgehen, die uns droht. Dieses geschieht entweder durch die Flucht oder durch den Sieg, den wir über den uns drohenden Feind erhalten.
Der sinnliche Mensch, der nicht gewohnt ist, seinen Zustand von allen Seiten her mit Überlegung zu betrachten, noch die Folgen seiner Handlungen zum voraus zu überdenken, gerät in eine träge Sorglosigkeit, wodurch er sich in mancherlei Übel stürzt, dem er durch Furcht, wenn er sie nur zu rechter Zeit gefühlt hätte, entgangen wäre. Oft aber geschieht es auch, dass man durch unzeitige Furcht mitten im Übel stecken bleibt, aus welchem man sich mit einigem Mut würde heraus gezogen haben. Leichtsinnigkeit und Mangel der Überlegung machen sorgelos und unbesonnen, so wie sie auch zaghaft machen. Es gehört also zur Vollkommenheit des Menschen, dass er auf der Mittelstraße, zwischen der Unbesonnenheit und Zaghaftigkeit, einhergehe. Dem Künstler liegt ob, keine Gelegenheit zu versäumen, ihm, wo es nötig ist, das Gefühl der Furcht zu schärfen oder zu schwä chen.
Die Furcht entsteht aus der Vorstellung der Gefahr, diese aber, aus einem vorhandenen oder herannahenden Übel. Es ist wichtig, dass ein Mensch jedes beträchtliche Übel, das ihn nach seinen Umständen betreffen kann, kennen lerne. Nun ist es das unmittelbareste Geschäft der schönen Künste, uns alle im menschlichen Leben vorkommenden Vorfälle abzubilden und uns einigermaßen das zu ersetzen, was uns an eigener Erfahrung abgeht.1 Also muss der Künstler, der seinem Beruf Genüge leisten will, jedes Gute und Böse kennen und als ein verständiger und gesetzter Mann, der weder unbesonnen noch zaghaft ist, zu behandeln wissen. Denn dieses ist der einzige Weg, den Gemütern der Menschen, in Absicht auf die Leidenschaft der Furcht, die vorteilhafteste Stimmung zu geben.
Der Künstler muss also keine Gelegenheit versäumen, die Menschen mit allen Arten der Gefahren und des Übels, denen sie ausgesetzt sind, bekannt zu machen. Die beste Gelegenheit dazu haben die epischen und die dramatischen Dichter, deren eigentliches Werk es ist, die mannigfaltigen Szenen des Lebens uns vor Augen zu bringen. Dem Künstler gebührt dabei zu überlegen, wo er die Gemüter mit Furcht oder mit Mut erfüllen soll. Es gibt gewisse Übel, die man sich schlechterdings durch Nachläßigkeit oder schlechtes Betragen selbst zuziehet. Für solche Übel können die Künste nie genug Furcht erwecken. Horaz sagt vom gerechten Mann, pejusque leto flagitium timet.2 Für Schand, Laster und einem bösen Gewissen, muss sich jeder Mensch fürchten. Also müssen Dichter und Redner keine Gelegenheit vorbei gehen lassen, diese so heilsame Furcht dadurch zu erwecken, dass sie wirklich fürchterliche Folgen derselben lebhaft vorstellen. Dadurch erhalten sie, was Aristoteles vom Trauerspiel fordert, dass es die Gemüter durch Erweckung der Leidenschaften, von denselben reinige. Natürlicher Weise könnte man von Menschen, welche oft durch die Beispiele, die sie in dramatischen Vorstellungen gesehen, in Furcht gesetzt worden, erwarten, dass sie sich sehr sorgfältig hüten, nicht selbst in die Fälle zu kommen, die sie der ängstlichen Wirkung der Furcht aussetzen.
Welcher Vater wird sich nicht sorgfältig hüten, allzustrenge gegen einen Sohn zu sein, wenn er an fremden Beispielen fürchterliche Folgen der Härte gesehen hat; und welcher Sohn wird sich nicht auf das Äusserste angelegen sein lassen, seinen Vater durch eine Folge von bösen Taten nicht zur Verzweiflung zu bringen, wenn er fürchterliche Folgen einer solchen Verzweiflung gesehen hat? Wir führen dieses bloß als Winke an, wie die Dichter heilsame Furcht erwecken können. Ihnen liegt ob, die wichtigsten Vergehungen der Menschen in ihren fürchterlichsten Folgen zu schildern.
Eine heftige Furcht mit Angst verbunden, scheint eine so entsetzliche Leidenschaft zu sein, dass der, welcher sie einmal gefühlt hat, den Eindruck davon nie wieder verlieren sollte. Also ist sie natürlicher Weise das beste Verwahrungsmittel gegen Vergehungen. Deswegen ist das Fürchterliche einer der wichtigsten Gegenstände der schönen Künste.
Am vorzüglichsten kann es in dem Drama erweckt werden, weil die wirkliche Vorstellung so wohl der Gefahr als des in Furcht gesetzten Menschen, der ganzen Sache den höchsten Nachdruck und das wahre Leben gibt. Hierin sind unter den Alten Äschylus, unter den Neueren Shakespear und Crebillon vorzüglich glücklich gewesen. Wenn das Drama gar keinen Nutzen hätte als dass es unter allen Werken der Kunst am stärksten die Furcht erwecken kann, so wäre es bloß dieser Ursache halber eine höchst schätzbare Erfindung.
Die Furcht ist auch eine komische Leidenschaft, wo sie zur Unzeit aus Kleinmütigkeit entsteht oder aus Zaghaftigkeit übertrieben ist. Sie wird deswegen oft in der Komödie gebraucht, um den Zaghaften lächerlich zu machen: und eben dieses Lächerliche kann den Zuschauer vermögen, sich gegen diese Leidenschaft zu waffnen.
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1 S. Künste.
2 Od. L. IV. 9.