Fließend

Fließend. (Schöne Künste) Dasjenige, was unsere Vorstellungskraft ohne alle Aufhaltung und Hinternis in einem gleichen Grad der Stärke unterhält. Der Ausdruck ist von einem sanft fortfließenden Wasser genommen, dessen mäßige Geschwindigkeit überall gleich ist. Man sagt von einer gebundenen oder ungebundenen Rede, sie sei fließend, wenn sie wie ein sanfter Strom so fortgeht, dass weder das Ohr, noch die inneren Sinne einmal merklich stärker als das andre gereizt werden, wenn alles leicht auf einander folgt, dass man in seinen Vorstellungen, ohne merkliche Unterbrechungen und erneuerte oder veränderte Aufmerksamkeit, sanft fortgeführt wird. Auf eine ähnliche Art ist ein fließendes Tonstück beschaffen oder eine fließende Melodie, wenn alles ungezwungen, ohne schnelle Veränderungen in unseren Vorstellungen hinter einander folgt. Man nennt auch eine Zeichnung fließend, wenn die Umrisse ohne Unterbrechung, ohne starke oder schnelle Wendungen, ohne Zwang, in angenehmen Krümmungen fortgehen.

Das Fließende ist demnach dem Holprigen und Rauen gerade entgegen gesetzt, wobei die Aufmerksamkeit alle Augenblick anstößt, eine Weile gehemmt oder verstärkt wird. Auch das Feurige und Lebhafte und das wilde Rauschende, sind dem Fließenden einigermaßen entgegen.

Das Fließende hat außer der Leichtigkeit auch die Wirkung, dass es das Gemüt nur sanft angreift, angenehm aber fast unvermerkt von einer Vorstellung zur anderen fortführt und uns in stiller Betrachtung einwiegt, wiewohl es uns auch nach und nach bis zum sanften Reitz fortziehen kann. Und hieraus ist zu sehen, dass das Fließende nur in denen Werken oder Teilen der Werke statt hat, welche allmählich auf das Gemüte wirken sollen. Es wäre ein Fehler in den Werken, die uns überraschen, fortreißen oder überhaupt in starke und lebhafte Empfindungen setzen sollen. Es ist eine wesentliche Eigenschaft des bloß Angenehmen und Sanftreitzenden. Stille, wiewohl tiefsitzende Leidenschaften, liebliche Vorstellungen der Phantasie, müssen auf eine fließende Art behandelt werden, eben so wie das, was man Unterhaltend und Ergötzend nennt.

Virgil ist in den angenehmen Szenen, die er beschreibt, Ovidius und Euripides in sanften Affekten und angenehmen Gemälden, Phädrus und La Fontaine in ihren Fabeln Fließend. Grauns meiste Melodien sind Muster des Fließenden.

Es ist ein Zeichen eines schwachen Genies oder eines verdorbenen Geschmacks, wenn man in Werken der Kunst alles Fließend verlangt; denn auf diese Weise könnten die größten Wirkungen oft nicht erhalten werden. Vielmehr ist das Fließende gar oft ein Fehler. Es wäre lächerlich, wenn ein Redner bei Vorstellung einer nahen Gefahr das Fließende in seiner Rede suchen wollte. Es ist allen heftigen und strengen Leidenschaften gänzlich entgegen.

Es erfordert aber einen Reichtum der Gedanken, eine Kunst seine Vorstellungen auf alle Seiten umzuwenden, eine Fertigkeit in allen Wendungen und feine Sinnen, um das Fließende zu erreichen.


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