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[Müßiggang]

Bemerkenswerte Verschränkung: im Griechentum wird die praktische Arbeit in Acht und Bann getan; obwohl sie im wesentlichen in den Händen von Sklaven liegt, verurteilt man sie nicht zum wenigsten, weil sie ein niedres Streben nach irdischen Gütern (Reichtum) verrät; diese Anschauung dient dann weiterhin der Diffamierung des Kaufmanns als Mammonsknechts: »Platon prescrit dans les Lois (VIII, 846) qu’aucun citoyen n’exerce une profession mécanique; le mot banausos, qui signifie artisan, devient synonyme de méprisable … tout ce qui est artisanal ou manœuvrier porte honte, et déforme l’âme en même temps que le corps. En général, ceux qui exercent ces métiers … n’ont d’industrie que pour satisfaire … ce ›désir de richesse, qui prive tout notre temps de loisirs …‹ Aristote à son tour oppose aux excès de la chrématistique … la sagesse de l’économie domestique … Ainsi, le mépris que l’on a pour l’artisan s’étend au commerçant: par rapport à la vie libérale, qu’occupent de studieux loisirs (σχολή, otium), le négoce (neg-otium, ἀσχολία), ›les affaires‹ n’ont, le plus souvent, qu’une valeur négative.« Pierre-Maxime Schuhl: Machinisme et philosophie Paris 1938 p 11/12 [m 1, 1]

Wer Muße genießt, der entrinnt der fortuna, wer sich dem Müßiggang ergibt, der fällt ihr anheim. Die fortuna, die ihn im Müßiggang erwartet, ist aber eine mindere Göttin als jene war, die der der Muße ergebene floh. Diese fortuna ist nicht mehr in der vita activa zuhause; ihr Hauptquartier ist die Lebewelt. »Les imagiers du Moyen Age représentent les hommes qui s’adonnent à la vie active liés à la roue de la Fortune, s’élevant ou s’abaissant selon le sens dans lequel elle tourne, alors que le contemplatif reste immobile au centre.« P-M Schuhl: Machinisme et philosophie Paris 1938 p 30 [m 1, 2]

Zur Charakteristik der Muße. Sainte-Beuve im Essay über Joubert: »›Converser et connaître, c’était en cela surtout que consistait, selon Platon, le bonheur de la vie privée.‹ Cette classe de connaisseurs et d’amateurs … a presque disparu en France depuis que chacun y fait un métier.« Correspondance de Joubert Paris 1924 p XCIX [m 1, 3]

In der bürgerlichen Gesellschaft hatte die Faulheit – um ein marxsches Wort aufzugreifen – aufgehört »heroisch« zu sein. (Marx spricht von dem »Sieg … der Industrie über die heroische Faulheit« Bilanz der preußischen Revolution Ges〈ammelte〉 Schr〈iften〉 von Karl Marx u〈nd〉 Friedrich Engels III Stuttgart 1902 p 211〈)〉 [m 1 a, 1]

In der Figur des Dandy sucht Baudelaire für den Müßiggang eine〈n〉 Nutzen zu gewinnen, wie die Muße, vordem, solche〈n〉 besessen hat. Die vita contemplativa wird durch etwas vertreten, was man die vita contemptiva nennen könnte. (Teil III meines Manuscripts 〈scil. »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«〉 zu vergleichen.) [m 1 a, 2]

Die Erfahrung ist der Ertrag der Arbeit, das Erlebnis ist die Phantasmagorie des Müßiggängers. [m 1 a, 3]

Statt des Kraftfeldes, das mit der Entwertung der Erfahrung der Menschheit verloren geht, erschließt sie sich ein neues in Gestalt der Planung. Die Masse der unbekannten Gleichförmigkeiten wird gegen die erprobte Vielfalt des Überlieferten aufgeboten. »Planen« ist seither nur noch in großem Maßstab möglich. Nicht mehr im individuellen, das heißt: weder für das Individuum noch durch dasselbe. Daher sagt Valéry mit Recht: »Les desseins longuement suivis, les profondes pensées d’un Machiavel ou d’un Richelieu auraient aujourd’hui la consistance et la valeur d’un tuyau de Bourse.« (Paul Valéry: Œuvres complètes J 〈Paris 1938 p 30〉) [m 1 a, 4]

Das intentionale Korrelat des »Erlebnisses« ist sich nicht gleich geblieben. Im neunzehnten Jahrhundert war es »das Abenteuer«, In unsern Tagen tritt es als »Schicksal« auf. Im Schicksal steckt der Begriff des »totalen Erlebnisses«, das von Hause aus tö〈d〉lich ist. Der Krieg präfiguriert es aufs Unübertrefflichste. (»Daß ich als Deutscher geboren bin, dafür sterbe ich« – das Geburtstrauma enthält schon den Chock der tö〈d〉lich ist. Diese Koinzidenz definiert das »Schicksal«.) [m 1 a, 5]

Sollte es die Einfühlung in den Tauschwert sein, die den Menschen zum »totalen Erlebnis« allererst befähigt? [m 1 a, 6]

Mit der Spur wächst dem »Erlebnis« eine neue Dimension zu. Es ist nicht mehr darauf angewiesen, das »Abenteuer« zu erwarten; der Erlebende kann die Spur verfolgen, die darauf hinführt. Wer Spuren verfolgt, muß nicht nur aufmerken, er muß sich vor allem schon viel gemerkt haben. (Der Jäger muß den Huf des Tiers kennen, auf dessen Spur er ist; er muß die Stunde kennen, wo es zur Tränke geht; er muß wissen, wie der Fluß verläuft, zu dem es sich wenden wird und wo die Furt liegt, an der er ihn überqueren kann.) Damit kommt die eigentümliche Spielart zur Geltung, in Gestalt deren die Erfahrung in die Sprache des Erlebnisses übersetzt erscheint. Erfahrungen können in der Tat für den unschätzbar sein, der eine Spur verfolgt. Aber es sind Erfahrungen von besonderer Art. Die Jagd ist der einzige Arbeitsvorgang, in dem sie von Hause aus aufzuweisen sind. Und die Jagd ist als Arbeit sehr primitiv. Die Erfahrungen dessen, der einer Spur nachgeht, resultieren aus einem Arbeitsvorgang nur ganz entfernt oder sind überhaupt ganz von ihm gelöst. (Nicht umsonst ist von einer »Jagd nach dem Glück« die Rede.) Sie haben keine Folge und kein System. Sie sind ein Produkt des Zufalls und tragen ganz die wesenhafte Unabschließbarkeit an sich, die die bevorzugten Obliegenheiten des Müßiggängers auszeichnet. Die grundsätzlich unabschließbare Sammlung von Wissenswürdigem, dessen Verwertbarkeit vom Zufall abhängt, hat ihr Prototyp im Studium. [m 22, 1]

Müßiggang hat wenig Repräsentatives, wird aber weit mehr als die Muße ausgestellt. Der Bürger hat begonnen, sich der Arbeit zu schämen. Er, für den sich die Muße nicht mehr von selbst versteht, stellt seinen Müßiggang gern zur Schau. [m 2, 2]

Im Begriff des studios hat sich die intime Assoziation zwischen der Vorstellung des Müßiggehens und des Studienmachens niedergeschlagen. Das studio wurde, zumal für den Junggesellen, eine Art von Pendant zum Boudoir. [m 2, 3]

Student und Jäger. Der Text ist ein Wald, in dem der Leser der Jäger ist. Knistern im Unterholz – der Gedanke, das scheue Wild, das Zitat – ein Stück aus dem tableau. (Nicht jeder Leser stößt auf den Gedanken.) [m 2 a, 1]

Es gibt zwei soziale Institutionen, in denen der Müßiggang integrierend auftritt: der Nachrichtendienst und das Nachtleben. Sie verlangen eine spezifische Form der Arbeitsbereitschaft. Diese spezifische Form ist der Müßiggang. [m 2 a, 2]

Nachrichtendienst und Müßiggang. Feuilletonist, Reporter, Bildberichterstatter stellen eine Klimax dar, in der das Warten, das »parat sein« mit anschließendem »losschießen« gegenüber des sonstigen Leistung immer wichtiger wird. [m 2 a, 3]

Was die Erfahrung vor dem Erlebnis auszeichnet, ist, daß sie vor der Vorstellung einer Kontinuität, einer Folge nicht abzulösen ist Der Akzent, der auf das Erlebnis fällt, wird um so gewichtiger sein je weiter sein Substrat von der Arbeit dessen, der es macht abgelegen ist – der Arbeit, die sich ja eben dadurch auszeichnet, daß sie da von Erfahrung weiß, wo es für den Outsider höchstens zu einem Erlebnis kommt. [m 2 a, 4]

In der feudalen Gesellschaft war die Muße – das Entbundensein vor Arbeit – ein anerkanntes Privileg. In der bürgerlichen Gesellschaft ist dem nicht mehr so. Was die Muße, wie der Feudalismus sie kennt, auszeichnet, ist, daß sie mit zwei gesellschaftlich wichtiger Verhaltungsweisen kommuniziert. Die religiöse Kontemplation und das Hofleben stellten gleichsam die Hohlformen, in die die Muße des Grandseigneurs, des Prälaten, des Kriegers konnten gegossen werden. Diese Attituden – die der Pietät so gut wie die der Repräsentation kamen dem Dichter zu gute. Sein Werk begünstigte sie zumindest mittelbar, indem es den Kontakt mit der Religion und dem Hofstaat wahrte. (Voltaire brach als erster der großen Literaten mit der Kirche; um so weniger verschmähte er es, sich am Hofe Friedrichs des Großen einen Platz zu sichern.) In der feudalen Gesellschaft ist die Muße des Dichters ein anerkanntes Privileg. Erst in der bürgerlichen wird der Dichter zum Müßiggänger. [m 2 a, 5]

Der Müßiggang sucht jedweder Beziehung zur Arbeit des Müßiggängers, schließlich zum Arbeitsprozeß überhaupt aus dem Wege zu gehen. Das unterscheidet ihn von der Muße. [m 3, 1]

»Alle religiösen, metaphysischen, historischen Ideen sind doch schließlich Präparate aus vergangenen großen Erlebnissen, Repräsentationen derselben.« Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung Lpz Berlin 1929 p 198 [m 3, 2]

Mit der Erschütterung der Erfahrung hängt die Erschütterung der Rechtssicherheit eng zusammen. »In der liberalistischen Periode war die ökonomische Herrschaft weitgehend mit dem juristischen Eigentum an den Produktionsmitteln verknüpft … Mit der im letzten Jahrhundert durch die Entfaltung der Technik vermittelten, rapide fortschreitenden Konzentration … des Kapitals werden die juristischen Eigentümer zum großen Teil von der Leitung … getrennt … Durch die Trennung von der wirklichen Produktion … verengert sich der Horizont der bloßen Inhaber von Besitztiteln …, und schließlich erscheint der Anteil, den sie aus dem Eigentum noch beziehen …, als gesellschaftlich nutzlos … Die Vorstellung eines der Allgemeinheit gegenüber selbständigen Rechts mit festem Inhalt verliert an Gewicht.« So kommt es zu 〈»〉der Beseitigung jedes inhaltlich bestimmten Rechts, die … in den … autoritären Staaten vollendet wird«. Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (Zeitschrift für Sozialforschung 1937, 2 p 285-287) vgl Horkheimer: Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (lc 1935, 1 p 12) [m 3, 3]

»Eigentliches Wirkungsfeld für die anschauliche Darstellung des Zeitgeschehens ist der Erlebnisbericht, die Reportage. Sie geht unmittelbar heran an das Ereignis und hält das Erlebnis fest. Dies hat zur Voraussetzung, daß das Ereignis dem berichtenden Journalisten auch wirklich Erlebnis wird … Erlebnisfähigkeit ist daher eine Voraussetzung … der guten … Berufsleistung.« Dovifat: Formen und Wirkungsgesetze des Stils in der Zeitung (Deutsche Presse 22 Juli 1939 Berlin p 285) [m 3, 4]

Zum Müßiggänger: das archaische Bild der Schiffe bei Baudelaire. [m 3, 5]

Die strenge Arbeits- und Werkmoral des Calvinismus dürfte im engsten Zusammenhang mit der Entwicklung der vita contemplativa stehen. Sie suchte dem Abströmen der in der Kontemplation gefrornen Zeit in den Müßiggang einen Damm entgegenzusetzen. [m 3 a, 1]

Zum Feuilleton. Es galt, das Gift der Sensation der Erfahrung gleichsam intravenös einzuspritzen; das heißt, der geläufigen Erfahrung den Erlebnischarakter abzumerken. Dem bot sich die Erfahrung des Großstadtmenschen am ersten dar. Der Feuilletonist macht sich das zu nutze. Er verfremdet dem Großstädter seine Stadt. So ist er einer der ersten Techniker, die durch das gesteigerte Bedürfnis nach Erlebnissen auf den Plan gerufen werden, (Dasselbe Bedürfnis schafft sich in der Theorie der beauté moderne sein Recht, wie sie von Poe, Baudelaire und Berlioz vertreten wurde. Die surprise ist in ihr ein beherrschendes Element.) [m 3 a, 2]

Der Prozeß der Verkümmerung der Erfahrung beginnt bereits in der Manufaktur. Er fällt, anders gesprochen, in seinen Anfängen zusammen mit den Anfängen der Warenproduktion, (vgl Marx: Das Kapital 〈I〉 ed Korsch 〈Berlin 1932〉 p 336) [m 3 a, 3]

Die Phantasmagorie ist das intentionale Kor〈r〉elat des Erlebnisses. [m 3 a, 4]

Wie der industrielle Arbeitsprozeß sich gegen das Handwerk absetzt, so setzt sich die diesem Arbeitsprozeß entsprechende Form der Mitteilung – die Information – gegen die dem handwerklichen Arbeitsprozeß entsprechende Form der Mitteilung ab, welches die Erzählung ist. (vgl 〈Walter Benjamin:〉 Der Erzähler 〈Orient und Occident, Neue Folge, Heft 3, Oktober 1936〉 p 21 Abs 3 – p 22 Abs 1 Zeile 3; p 22 Abs 3 Zeile 1 – Ende des Valéry-Zitats) Diesen Zusammenhang muß man im Auge behalten, um sich von der Sprengkraft einen Begriff zu machen, die in der Information gebunden lag. In der Sensation wird diese Kraft ausgelöst. Mit ihr wird dem Erdboden gleichgemacht, was der Weisheit, der mündlichen Überlieferung, der epischen Seite der Wahrheit noch ähnlich sieht. [m 3 a, 5]

Für die Beziehungen, die der Müßiggänger zur Halbwelt zu unterhalten liebt, ist das »Studium« ein Alibi. Insbesondere läßt sich von der bohême behaupten, daß sie zeitlebens ihr eignes Milieu studiert. [m 3 a, 6]

Der Müßiggang kann als eine Vorform der Zerstreuung oder des Amusements betrachtet werden. Er beruht auf der Bereitwilligkeit, eine beliebige Abfolge von Sensationen allein auszukosten. Sobald aber der Produktionsprozeß große Massen ins Feld zu führen begann, entstand in denen, die »frei hatten«, das Bedürfnis, sich massenweise gegen die Arbeitenden abzusetzen. Diesem Bedürfnis entsprach die Vergnügungsindustrie. Sie stieß alsbald auf ihre spezifischen Probleme. Schon Saint-Marc Girardin mußte feststellen »combien peu de temps l’homme est amusable«. (Der Müßiggänger ermüdet nicht so schnell, wie der Mann, der sich amüsiert.) [m 4, 1]

Der wahre flaneur salarié (Henri Béraud) ist der Sandwichmann. [m 4, 2]

Die imitatio dei des Müßiggängers; er verfügt als Flaneur über die Allgegenwart, als Spieler über die Allmacht und als Student über die Allwissenheit. Diesen Typ des Müßiggängers stellte am ersten die jeunesse dorée. [m 4, 3]

Die »Einfühlung« kommt durch einen déclic, eine Art von Umschaltung zustande. Mit ihr stellt das Innenleben ein Pendant zum Element des Chocks in der Sinneswahrnehmung. (Die Einfühlung ist eine Gleichschaltung im intimen Sinn.) [m 4, 4]

Gewohnheiten sind die Armatur der Erfahrungen. Von Erlebnissen wird diese Armatur angegriffen. [m 4, 5]

Gott hat die Schöpfung hinter sich; er ruht von ihr aus. Dieser Gott des siebenten Tages ist es, den der Bürger sich zum Vorbild seines Müßigganges genommen hat. In der flanerie verfügt er über dessen Allgegenwart; beim Spiel über dessen Allmacht und im Studium über seine Allwissenheit. – Diese Trinität ist im Ursprung des Satanismus bei Baudelaire. – Die Gottähnlichkeit des Müßiggängers zeigt an, daß das (altprotestantische) Wort »Arbeit ist des Bürgers Zierde« seine Geltung zu verlieren begonnen hat. [m 4, 6]

Die Weltausstellungen waren die hohe Schule, auf der die vom Konsum abgedrängten Massen die Einfühlung in den Tauschwert lernten. »Alles ansehen, nichts anfassen.« [m 4, 7]

Die klassische Beschreibung des Müßiggangs bei Rousseau. Es kommt da ebenso zum Vorschein, daß das Dasein des Müßiggängers etwas göttergleiches hat wie die Einsamkeit als ein wesentlicher Zustand des Müßiggängers zu ihrem Rechte kommt. Im letzten Buche der Confessions heißt es: »L’âge des projets romanesques étant passé, et la fumée de la gloriole m’ayant plus étourdi que flatté, il ne me restait, pour dernière espérance, que celle de vivre … dans un loisir éternel. C’est la vie des bienheureux dans l’autre monde, et j’en faisais désormais mon bonheur suprême dans celui-ci./Ceux qui me reprochent tant de contradictions ne manqueront pas ici de m’en reprocher encore une. J’ai dit que l’oisiveté des cercles me les rendait insupportables, et me voilà recherchant la solitude uniquement pour m’y livrer à l’oisiveté … L’oisiveté des cercles est tuante, parce qu’elle est de nécessité. Celle de la solitude est charmante, parce qu’elle est libre et de volonté.« Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions ed Hilsum Paris 〈1931〉 IV p 173 [m 4 a, 1]

Unter den Bedingungen des Müßigganges kommt der Einsamkeit ganz besondere Bedeutung zu. Erst die Einsamkeit emanzipiert nämlich das Erlebnis virtuell von jedem, wie auch immer geringen oder dürftigen Ereignis: sie stellt ihm, auf dem Wege der Einfühlung, jeden beliebigen Passanten als sein Substrat bei. Einfühlung ist nur dem Einsamen möglich; darum ist die Einsamkeit eine Bedingung des echten Müßigganges. [m 4 a, 2]

Wenn alle Stricke reißen, wenn am verödeten Horizont kein Segel, kein Wellenkamm des Erlebens auftaucht, dann bleibt dem vereinsamten, vom taedium vitae ergriffenen Subjekt ein letztes übrig: das ist die Einfühlung. [m 4 a, 3]

Dahingestellt mag bleiben, ob und in welchem Sinn die Muße von der Produktionsordnung, durch die sie ermöglicht wird, auch bestimmt werde. Dagegen soll verdeutlicht werden, wie tief dem Müßiggang die Züge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in welcher er gedeiht, eingegraben sind. – Auf der andern Seite ist der Müßiggang in der bürgerlichen Gesellschaft, die keine Muße kennt, eine Bedingung der künstlerischen Produktion. Und vielfach ist gerade er es, welcher ihr Male aufprägt, die ihre Verwandtschaft mit dem ökonomischen Produktionsprozeß drastisch machen, [m 4 a, 4]

Der Student »lernt nie aus«; der Spieler »hat nie genug«; dem Flaneur »gibt es immer etwas zu sehen«. Der Müßiggang hat die Anweisung auf unbegrenzte Dauer, die dem bloßen Sinnengenuß, von welcher Art er auch sei, grundsätzlich abgeht. (Ist es richtig, daß die »schlechte Unendlichkeit«, die im Müßiggang vorwaltet, als Signatur der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel vorkommt?) [m 5, 1]

Die dem Studenten, dem Spieler, dem Flaneur gemeinsame Spontaneität ist vielleicht die des Jägers, will sagen, der ältesten Art von Arbeit, die von allen mit dem Müßiggang am engsten verflochten sein dürfte. [m 5, 2]

Flauberts »peu de gens devineront combien il a fallu être triste pour entreprendre de ressusciter Carthage« macht den Zusammenhang des Studiums mit der melencolia transparent. (Diese droht wohl nicht minder als dieser Form der Muße aller des Müßiggangs.) Vgl. »mon âme est triste et j’ai lu tous les livres« (Mallarmé) Spleen II, La voix (Baudelaire) »Habe nun ach« (Goethe) [m 5, 3]

Das spezifisch Moderne gibt sich bei Baudelaire immer wieder als Komplement des spezifisch Archaischen zu erkennen. In dem Flaneur, den sein Müßiggang durch eine imaginäre Stadt von Passagen trägt, tritt dem Dichter der dandy entgegen (der dandy, welcher sich durch die Menge hinbewegt, ohne auf die Stöße zu achten, denen er ausgesetzt ist). Doch schlägt im Flaneur [in ihm] auch ein längst verschollenes Geschöpf den träumerischen, den Dichter bis ins Herz treffenden Blick auf. Es ist der »Sohn der Wildnis«, der Mensch, der von einer gütigen Natur einst der Muße anverlobt worden ist. Der dandy〈i〉smus ist der letzte Schimmer des Heroischen in Zeiten der décadence. Es gefällt Baudelaire, bei Chateaubriand einen Hinweis auf indianische dandys zu finden, Zeugnis der einstigen Blütezeit dieser Stämme. [m 5, 4]

Zum Jägertypus des flaneurs: »La masse des locataires et des hôtes de passage commence à errer de toit en toit dans cette mer domestique, comme le chasseur et le pasteur de la préhistoire, l’éducation intellectuelle du nomade est aussi achevée.« Oswald Spengler: Le déclin de l’Occident II, 1 Paris 1933 p 140 [m 5, 5]

»Le civilisé, nomade intellectuel, redevient pur microcosme, absolument sans patrie et spirituellement libre, comme le chasseur et le pasteur l’étaient corporellement.« Spengler lc p 125 [m 5, 6]