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H

[Der Sammler]

»Toutes ces vielleries-là ont une valeur morale«

Charles Baudelaire

»Je crois … à mon âme: la Chose«

Léon Deubel: Œuvres Paris 1929 p 193

Hier war die letzte Unterkunft der Wunderkinder, die als Patentkoffer mit Innenbeleuchtung, als meterlanges Taschenmesser oder gesetzlich geschützter Schirmgriff mit Uhr und Revolver auf Weltausstellungen das Tageslicht erblickten. Und neben den entarteten Riesengeschöpfen die halbe, steckengebliebene Materie. Wir sind den schmalen, dunklen Gang gegangen bis zwischen einer librairie en solde, wo staubige verschnürte Konvolute von allen Formen des Konkurses reden und einem Laden mit lauter Knöpfen (Perlmutt und solchen, die man in Paris de fantaisie nennt) eine Art Wohnzimmer stand. Auf eine blaßbunte Tapete voll Bildern und Büsten schien eine Gaslampe. Bei der las eine Alte. Die ist da wie seit Jahren allein und will Gebisse »in Gold, in Wachs und zerbrochen«. Seit diesem Tage wissen wir auch, woher der Doktor Mirakel das Wachs nahm, aus dem er die Olympia verfertigt hat. ◼ Puppen ◼ [H 1, 1]

»La foule se presse au passage Vivienne, où elle ne se voit pas, et délaisse le passage Colbert, où elle se voit trop peut-être. Un jour on voulut la rappeler, la foule, en remplissant chaque soir la rotonde d’une musique harmonieuse, qui s’échappait invisible par les croisées d’un entresol. Mais la foule vint mettre le nez à la porte et n’entra pas, soupçonnant dans cette nouveauté une conspiration contre ses habitudes et ses plaisirs routiniers.« Le livre des Cent-et-un X Paris 1833 p 58 Vor fünfzehn Jahren suchte man ähnlich und ebenso vergeblich dem Warenhaus W. Wertheim aufzuhelfen. Man gab in der großen Passage, die es durchzog, Konzerte. [H 1, 2]

Dem, was die Dichter selbst von ihren Schriften sagen, soll man niemals trauen. Als Zola seine Thérèse Raquin gegen feindselige Kritiken verteidigen wollte, hat er erklärt, sein Buch sei eine wissenschaftliche Studie über die Temperamente. Es sei ihm nämlich darum zu tun gewesen, exakt an einem Beispiel zu entwickeln, wie das sanguinische und nervöse Temperament – zu beider Unheil – auf einander wirken. Bei dieser Mitteilung konnte niemandem wohl werden. Sie erklärt auch nicht den Einschlag von Kolportage, die Blutrünstigkeit, die filmgerechte Gräßlichkeit der Handlung. Sie spielt nicht umsonst in einer Passage. Wenn dieses Buch denn wirklich wissenschaftlich etwas entwickelt, so ist es das Sterben der pariser Passagen, der Verwesungsprozeß einer Architektur. Von seinen Giften ist die Atmosphäre dieses Buches schwanger, und an ihr gehen seine Menschen zu grunde. [H 1, 3]

1893 werden die Kokotten aus den Passagen vertrieben. [H 1, 4]

Musik scheint sich in diesen Räumen erst mit ihrem Untergange angesiedelt zu haben, erst als Musikkapellen selber sozusagen altmodisch zu werden begannen, weil die mechanische Musik im Aufkommen war. So daß sich also diese Kapellen in Wahrheit eher dahin geflüchtet hätten. (Das »Theatrophon« in den Passagen war gewissermaßen der Vorläufer des Grammophons.) Und doch gab es Musik im Geiste der Passagen, eine panoramatische Musik, die man jetzt nur noch in altmodisch-vornehmen Konzerten, etwa von der Kurkapelle in Monte-Carlo zu hören bekommt: die panoramatischen Kompositionen von David z. B. – Le désert, Christoph Colomb, Herculanum. Man war sehr stolz, als in den sechziger (?) Jahren eine politische Araberdeputation nach Paris kam, ihr »Le désert« in der großen Oper (?) vorspielen zu können. [H 1, 5]

»Cinéoramas; Grand Globe céleste, sphère gigantesque de 46 mètres de diamètre où l’on nous jouera de la musique de Saint-Saëns.« Jules Claretie: La vie à Paris 1900 Paris 1901 p 61 ■ Diorama ■ [H 1, 6]

Oft beherbergen diese Binnenräume veraltende Gewerbe und auch die durchaus aktuellen bekommen in ihnen etwas Verschollenes. Es ist der Ort der Auskunfteien und Ermittlungsinstitute, die da im trüben Licht der oberen Galerien der Vergangenheit auf der Spur sind. In den Auslagen der Friseurläden sieht man die letzten Frauen mit langen Haaren. Sie haben reich ondulierte Haarmassen, die »indéfrisables« sind, versteinerte Haartouren. Kleine Votivtafeln sollten sie denen weihen, die eine eigene Welt aus diesen Bauten machten, Baudelaire und Odilon Redon, dessen Name selbst wie eine allzugut gedrehte Locke fällt. Statt dessen hat man sie verraten und verkauft und das Haupt der Salome zum Einsatz gemacht, wenn das, was dort von der Konsole träumt, nicht das einbalsamierte der Anna Czillag ist. Und während diese versteinern ist oben das Mauerwerk der Wände brüchig geworden. Brüchig sind auch ◼ Spiegel ◼ [H 1 a, 1]

Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit. Was soll diese »Vollständigkeit«〈?〉 Sie ist ein großartiger Versuch, das völlig Irrationale seines bloßen Vorhandenseins durch Einordnung in ein neues eigens geschaffenes historisches System, die Sammlung, zu überwinden. Und für den wahren Sammler wird in diesem Systeme jedwedes einzelne Ding zu einer Enzyklopädie aller Wissenschaft von dem Zeitalter, der Landschaft, der Industrie, dem Besitzer von dem es herstammt. Es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das. Einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, indem es, während ein letzter Schauer (der Schauer des Erworbenwerdens) darüber hinläuft, erstarrt. Alles Erinnerte, Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß seines Besitztums. Man muß nicht denken, daß gerade dem Sammler der τοπος ὑπερουρανιος, der nach Platon die unverwandelbaren Urbilder der Dinge beherbergt, fremd sei. Er verliert sich, gewiß. Aber er hat die Kraft, an einem Strohhalm sich von neuem aufzurichten und aus dem Nebelmeer, das seinen Sinn umfängt, hebt sich das eben erworbene Stück wie eine Insel. – Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der »Nähe« die bündigste. Jeder kleinste Akt der politischen Besinnung macht also gewissermaßen im Antiquitätenhandel Epoche. Wir konstruieren hier einen Wecker, der den Kitsch des vorigen Jahrhunderts zur »Versammlung〈«〉 aufstört. [H 1 a, 2]

Erstorbene Natur: der Muschelladen der Passagen. Strindberg erzählt in den »Drangsalen des Lotsen〈«〉 von »einer Passage mit Laden, die erleuchtet waren«. »Dann ging er weiter in die Passage hinein … Da waren alle möglichen Arten Läden, doch nicht ein Mensch war zu sehen, weder hinter den Ladentischen noch davor. Als er eine Weile gegangen war, blieb er vor einem großen Fenster stehen, hinter welchem eine ganze Ausstellung von Schnecken zu sehen war. Da die Tür offen stand, trat er ein. Vom Boden bis zur Decke waren Gestelle mit Schnecken aller Art, aus den vielen Meeren der Erde gesammelt. Niemand war darin, aber es hing ein Tabakrauch wie ein Ring in der Luft … Und dann begann er wieder zu gehen, dem blau-weißen Läufer folgend. Die Passage war nicht gerade, sondern lief in Krümmungen, so daß man nie das Ende sah; und immer waren da neue Läden, aber kein Volk; und die Ladeneigentümer waren nicht zu sehen.« Die Unabsehbarkeit der ausgestorbenen Passagen ist ein bezeichnendes Motiv. Strindberg: Märchen München und Berlin 1917 p 52/53, 59 [H 1 a, 3]

Man muß die »Fleurs du Mal« daraufhin durchgehen, wie die Dinge zur Allegorie erhoben werden. Der Gebrauch der Majuskel ist zu verfolgen. [H 1 a, 4]

Am Schlusse von »Matière et Mémoire« entwickelt Bergson, Wahrnehmung sei eine Funktion der Zeit. Würden wir – so darf man sagen – gewissen Dingen gegenüber gelassener, andern gegenüber schneller, nach einem andern Rhythmus, leben, so gäbe es nichts »Bestehendes« für uns sondern alles geschähe vor unsern Augen, alles stieße uns zu. So aber ergeht es mit den Dingen dem großen Sammler. Sie stoßen ihm zu. Wie er ihnen nachstellt und auf sie trifft, welche Veränderung in allen Stücken ein neues Stück, das hinzutritt, bewirkt, das alles zeigt ihm seine Sachen in ständigem Fluten. Hier betrachtet man die pariser Passagen als wären sie Besitztümer in der Hand eines Sammlers. (Im Grunde lebt der Sammler, so darf man sagen, ein Stück Traumleben. Denn auch im Traum ist der Rhythmus des Wahrnehmens und Erlebens derart verändert, daß alles – auch das scheinbar Neutralste – uns zustößt, uns betrifft. Um die Passagen aus dem Grunde zu verstehen, versenken wir sie in die tiefste Traumschicht, reden von ihnen so als wären sie uns zugestoßen.〈)〉 [H 1 a, 5]

»L’intelligence de l’allégorie, prend en vous des proportions à vous-même inconnues; nous noterons, en passant, que l’allégorie, ce genre si spirituel, que les peintres maladroits nous ont accoutumés à mépriser, mais qui est vraiment l’une des formes primitives et les plus naturelles de la poésie, reprend sa domination légitime dans l’intelligence illuminée par l’ivresse.« Charles Baudelaire: Les paradis artificiels Paris 1917 p 73 (Aus dem, was folgt, ergibt sich unzweifelhaft, daß Baudelaire in der Tat die Allegorie, nicht das Symbol im Sinn hat. Die Stelle ist dem Kapitel vom Haschisch entnommen.) Der Sammler als Allegoriker ◼ Haschisch ◼ [H 2, 1]

»La publication de l’Histoire de la Société française pendant la Révolution et sous le Directoire ouvrit l’ère du bibelot, – et que l’on ne voie pas en ce mot une intention dépréciatrice; le bibelot historique jadis s’appela relique.« Rémy de Gourmont: Le IIe livre des Masques Paris 1924 p 259. Es ist von dem Werk der Brüder Goncourt die Rede. [H 2, 2]

Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unsere〈m〉 Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Anekdote.) Die Dinge, so vorgestellt, dulden keine vermittelnde Konstruktion aus »großen Zusammenhängen«. Es ist auch der Anblick großer vergangner Dinge – Kathedrale von Chartres, Tempel von Pästum – in Wahrheit (wenn er nämlich glückt) ein: sie in unserm Raum empfangen. Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben. [H 2, 3]

Im Grunde ein recht sonderbares Faktum, daß Sammelgegenstände als solche industriell hergestellt wurden. Seit wann? Man hätte den verschiedenen Moden nachzugehen, die im 19ten Jahrhundert das Sammeln beherrscht haben. Charakteristisch für das Biedermeier – ob aber auch in Frankreich? – ist die Manie der Tassen. »Eltern, Kinder, Freunde, Verwandte, Vorgesetzte und Untergebene geben sich in Tassen ihre Gefühle kund, die Tasse ist das bevorzugte Geschenk, der beliebteste Zimmerschmuck; wie Friedrich Wilhelm III. sein Arbeitszimmer mit Pyramiden voller Porzellantassen füllte, so sammelte auch der Bürgersmann in seiner Servante in Tassen die Erinnerung an die wichtigsten Ereignisse, die wertvollsten Stunden seines Lebens.« Max von Boehn: Die Mode im XIX Jahrhundert II München 1907 p 136 [H 2, 4]

Besitz und Haben sind dem Taktischen zugeordnet und stehen in einem gewissen Gegensatz zum Optischen. Sammler sind Menschen mit taktischem Instinkt. Übrigens hat neuerdings mit der Abkehr vom Naturalismus der Primat des Optischen aufgehört, der das vorige Jahrhundert beherrscht. ■ Flaneur ■ Flaneur optisch, Sammler taktisch. [H 2, 5]

Gescheiterte Materie: das ist Erhebung der Ware in den Stand der Allegorie. Fetischcharakter der Ware und Allegorie. [H 2, 6]

Man mag davon ausgehen, daß der wahre Sammler den Gegenstand aus seinen Funktionszusammenhängen heraushebt. Aber das ist kein erschöpfender Blick auf diese merkwürdige Verhaltungsweise. Denn ist nicht dies die Grundlage, auf der eine im Kantischen und Schopenhauerschen Sinne »interesselose« Betrachtung sich aufbaut, dergestalt, daß der Sammler zu einem unvergleichlichen Blick auf den Gegenstand gelangt, einem Blick, der mehr und anderes sieht als der des profanen Besitzers und den man am besten mit dem Blick des großen Physiognomikers zu vergleichen hätte. Wie aber der auf den Gegenstand auftrifft, das hat man sich durch eine andere Betrachtung noch weit schärfer zu vergegenwärtigen. Man muß nämlich wissen: dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange. Der steht zu der geläufigen Anordnung und Schematisierung der Dinge ungefähr wie ihre Ordnung im Konversationslexikon zu einer natürlichen. Man erinnere doch nur, von welchem Belang für einen jeden Sammler nicht nur sein Objekt sondern auch dessen ganze Vergangenheit ist, ebensowohl die zu dessen Entstehung und sachlicher Qualifizierung gehört wie die Details aus dessen scheinbar äußerlicher Geschichte: Vorbesitzer, Erstehungspreis, Wert etc. Dies alles, die »sachlichen« Daten wie jene andern, rücken für den wahren Sammler in jedem einzelnen seiner Besitztümer zu einer ganzen magischen Enzyklopädie, zu einer Weltordnung zusammen, deren Abriß das Schicksal seines Gegenstandes ist. Hier also, auf diesem engen Felde, läßt sich verstehen, wie die großen Physiognomiker (und Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt) zu Schicksalsdeutern werden. Man hat nur einen Sammler zu verfolgen, der die Gegenstände seiner Vitrine handhabt.

Kaum hält er sie in Händen, so scheint er inspiriert durch sie, scheint wie ein Magier durch sie hindurch in ihre Ferne zu schauen. (Interessant wäre den Büchersammler als den einzigen zu studieren, der seine Schätze nicht unbedingt aus ihrem Funktionszusammenhange gelöst hat.) [H 2, 7; H 2 a, 1]

Der große Sammler Pachinger, Wolfskehls Freund, hat eine Sammlung zustande gebracht, die im Verfemten, Verkommenen sich der Sammlung Figdor in Wien zur Seite stellen ließe. Er weiß kaum mehr, wie die Dinge im Leben stehen, erklärt seinen Besuchern neben den altertümlichsten Geräten Taschentücher, Handspiegel, etc. Von ihm erzählt man, wie er eines Tages über den Stachus ging, sich bückt, um etwas aufzuheben: Es lag da etwas, wonach er wochenlang gefahndet hatte: der Fehldruck eines Straßenbahnbilletts, das nur für ein paar Stunden im Verkehr gewesen war. [H 2 a, 2]

Eine Apologie des Sammlers dürfte nicht an diesen Invektiven vorbeigehen: »L’avarice et la vieillesse, remarque Gui Patin, sont toujours en bonne intelligence. Le besoin d’accumuler est un des signes avant-coureurs de la mort chez les individus comme dans les sociétés. On le constate à l’état aigu dans les périodes préparalytiques. Il y a aussi la manie de la collection, en neurologie ›le collectionnisme‹. / Depuis la collection d’épingles à cheveux jusqu’à la boîte en carton portant l’inscription: Petits bouts de ficelle ne pouvant servir à rien.« Les 7 péchés capitaux Paris 1929 p 26/27 (Paul Morand: L’avarice) vgl aber Sammeln bei Kindern! [H 2 a, 3]

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich so ganz und gar der Betrachtung dieses Erlebnisses hingegeben hätte, wenn ich nicht diese Unmenge phantastischer Dinge bunt durcheinandergewürfelt in dem Laden des Raritätenhändlers gesehen hätte. Sie drängten sich mir immer wieder auf, wenn ich an das Kind dachte, und, indem sie gleichsam unzertrennlich von ihm waren, führten sie mir die Lage dieses Geschöpfchens in greifbarer Deutlichkeit vor Augen. Ohne meiner Phantasie Zügel anzulegen, sah ich Nells Bild von allem umgeben, was ihrer Natur widersprach und den Wünschen ihres Alters und Geschlechts durchaus fernlag. Wenn mir diese Umgebung gefehlt und ich mir das Kind in einem ganz gewöhnlichen Zimmer hätte vorstellen müssen, in dem nichts Ungewöhnliches oder Unnatürliches gewesen wäre, dann hätte höchstwahrscheinlich ihr merkwürdiges und einsames Leben viel weniger Eindruck auf mich gemacht. So aber schien es mir, als lebte sie in einer Art Allegorie.« Charles Dickens: Der Raritätenladen Lpz ed Insel p 18/19 [H 2 a, 4]

Wiesengrund in einem ungedruckten Essay über den »Raritätenladen« von Dickens: »Nells Tod ist beschlossen in dem Satz: ›Es waren noch einige Kleinigkeiten dort, arme, wertlose Dinge, die sie wohl gerne hätte mitnehmen mögen –, aber es war unmöglich.‹ … Daß aber dieser Dingwelt, der verworfenen, verlorenen, die Möglichkeit des Übergangs und der dialektischen Rettung selbst innewohnt, hat Dickens erkannt und besser ausgesprochen, als es der romantischen Naturgläubigkeit jemals möglich wäre, in jener gewaltigen Allegorie des Geldes, welche die Darstellung der Industriestadt beschließt: ›… es waren zwei alte, abgeschliffene, rauchbraune Pennystücke. Wer weiß, ob sie nicht herrlicher leuchten in den Augen der Engel als die goldenen Buchstaben, die auf Grabsteinen eingemeißelt sind?‹« [H 2 a, 5]

»La plupart des amateurs composent leur collection en se laissant guider par la fortune, comme les bibliophiles en bouquinant … M. Thiers a procédé autrement: avant de réunir sa collection, il l’avait formée tout entière dans sa tête; il en avait dressé le plan, et ce plan, il a passé trente ans à l’exécuter … M. Thiers possède ce qu’il a voulu posséder … De quoi s’agissait-il? D’arranger autour de soi un abrégé de l’univers, c’est-à-dire de faire tenir dans un espace d’environ quatre-vingts mètres carrés, Rome et Florence, Pompéi et Venise, Dresde et la Haye, le Vatican et l’Escorial, le British-Museum et l’Ermitage, l’Alhambra et le Palais d’été … Eh bien, M. Thiers a pu réaliser une pensée aussi vaste avec des dépenses modérées, faites chaque année pendant trente ans … Voulant fixer avant tout sur les murailles de sa demeure les plus précieux souvenirs de ses voyages, M. Thiers fit exécuter … des copies réduites d’après les plus fameux morceaux de peinture … Aussi, en entrant chez lui, se trouve-t-on tout d’abord au milieu des chefs-d’œuvre éclos en Italie durant le siècle de Léon X. La paroi qui fait face aux fenêtres est occupée par le Jugement dernier, placé entre la Dispute du Saint-Sacrement et l’Ecole d’Athènes. L’Assomption du Titien décore le dessus de la cheminée, entre la Communion de saint Jérôme et la Transfiguration. La Madone de Saint-Sixte fait pendant à la Sainte Cécile, et dans les trumeaux sont encadrées les Sibylles de Raphaël, entre le Sposalizio et le tableau représentant Grégoire IX qui remet les Décrétales à un avocat du consistoire … Ces copies étant réduites à la même échelle ou à peu près … l’œil y retrouve avec plaisir la grandeur relative des originaux. Elles sont peintes à l’aquarelle.« Charles Blanc: Le cabinet de M. Thiers Paris 1871 p 16-18 [H 3, 1]

»Casimir Périer disait un jour, en visitant la galerie de tableaux d’un illustre amateur ›Tout cela est fort beau, mais ce sont des capitaux qui dorment.‹ … Aujourd’hui … on pourrait répondre à Casimir Périer … que … les tableaux …, quand ils sont bien authentiques; les dessins, lorsqu’on y reconnaît la griffe du maître … dorment d’un sommeil réparateur et profitable … La … vente des curiosités et des tableaux de M. R. …, a prouvé par chiffres que les œuvres de génie sont des valeurs aussi solides que l’Orléans et un peu plus sûres que les docks.« Charles Blanc: Le trésor de la curiosité II Paris 1858 p 578 [H 3, 2]

Der positive Gegentypus zum Sammler, der doch zugleich dessen Vollendung darstellt, insofern er die Befreiung der Dinge von der Fron, nützlich zu sein, verwirklicht, ist nach diesem Wort von Marx darzustellen: »Das Privateigentum hat uns so dumm und untätig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert, oder von uns … gebraucht wird.« Karl Marx: Der historische Materialimus Die Frühschriften hg von Landshut und Mayer Lpz 〈1932〉 I p 299 (Nationalökonomie und Philosophie) [H 3 a, 1]

»An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist … die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten … (Über die Kategorie des Habens siehe Heß in den ›21 Bogen‹.)« Karl Marx: Der historische Materialismus Lpz I p 300 (Nationalökonomie und Philosophie) [H 3 a, 2]

»Ich kann mich praktisch nur menschlich zu der Sache verhalten, wenn die Sache sich zum Menschen menschlich verhält.« Karl Marx: Der historische Materialismus Lpz I p 300 (Nationalökonomie und Philosophie) [H 3 a, 3]

Die Sammlungen Alexandre de Sommerards im Fond des Musée Cluny. [H 3 a, 4]

Das Quodlibet hat etwas vom Ingenium des Sammlers und des Flaneurs. [H 3 a, 5]

Vom Sammler werden latente archaische Besitzvorstellungen aktualisiert. Diese Besitzvorstellungen dürften in der Tat mit dem Tabu zusammenhängen, wie die folgende Bemerkung es andeutet: »Il … est … sûr que le tabou est la forme primitive de la propriété. D’abord émotivement et ›sincèrement‹, puis comme procédé courant et légal, le tabouage constituait un titre. S’approprier un objet, c’est le rendre sacré et redoutable pour tout autre que soi, le rendre ›participant‹ à soi-même.« N Guterman et H Lefebvre: La conscience mystifiée 〈Paris 1936〉 p 228 [H 3 a, 6]

Marxstellen aus »Nationalökonomie und Philosophie«: »Das Privateigentum hat uns so dumm und untätig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben«. »An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist … die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens, getreten.« cit Hugo Fischer: Karl Marx und sein Verhältnis zu Staat und Wirtschaft Jena 1932 p 64 [H 3 a, 7]

Die Vorfahren von Balthazar Claës waren Sammler. [H 3 a, 8]

Modelle zum Cousin Pons: Sommerard, Sauvageot, Jacaze. [H 3 a, 9]

Die physiologische Seite des Sammelns ist wichtig. Bei der Analyse dieses Verhaltens ist nicht zu übergehen, daß das Sammeln beim Nestbau der Vögel eine eindeutige biologische Funktion übernimmt. Angeblich findet sich ein Hinweis darauf in Vasaris »Trattato sull’ Architectura«. Auch Pawlow soll sich mit dem Sammeln beschäftigt haben. [H 4, 1]

Vasari soll – im Trattato sull architectura? – behaupten, daß der Begriff »Groteske« von den Grotten komme, in denen Sammler ihre Schätze aufbewahren. [H 4, 2]

Das Sammeln ist ein Urphänomen des Studiums: der Student sammelt Wissen. [H 4, 3]

Über das Verhältnis des mittelalterlichen Menschen zu seinen Sachen führt Huizinga gelegentlich der Erläuterung des literarischen Genres »Testament« aus: »Diese literarische Form ist … nur verständlich, wenn man nicht vergißt, daß die mittelalterlichen Menschen tatsächlich daran gewohnt waren, durch ein Testament selbst über das Geringste[!] ihrer Besitztümer separat und ausführlich zu verfügen. Eine arme Frau vermachte ihr Sonntagskleid und ihre Kappe ihrem Kirchspiel; ihr Bett ihrem Patenkind, einen Pelz ihrer Pflegerin, ihren Alltagsrock einer Armen, und vier Pfund Turnosen [sic], die ihr Vermögen ausmachten, samt einem weiteren Kleid und einer Kappe den Minoriten. (Champion: Villon II p 182) Ist nicht auch hierin eine ganz triviale Äußerung derselben Denkrichtung zu erkennen, die jeden Fall von Tugendhaftigkeit als ein ewiges Beispiel aufstellte, die in jeder Gewohnheit eine gottgewollte Einrichtung sah?« J Huizinga: Herbst des Mittelalters München 1928 p 346 Was an dieser bemerkenswerten Stelle vor allem auffällt, ist, daß ein derartiges Verhältnis zu den Mobilien etwa im Zeitalter standardisierter Massenproduktion nicht mehr möglich wäre. Man käme damit von selbst auf die Frage, ob nicht die Argumentierungsformen, auf die der Verfasser anspielt, ja gewisse Denkformen der Scholastik überhaupt (Berufung auf die ererbte Autorität) mit den Produktionsformen zusammenhingen? Der Sammler, dem sich die Dinge durch sein Wissen um ihre Entstehung und ihre Dauer in der Geschichte anreichern, verschafft sich zu ihnen ein ähnliches Verhältnis, das nun archaisch wirkt. [H 4, 4]

Vielleicht läßt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden so umschreiben: er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Der große Sammler wird ganz ursprünglich von der Verworrenheit, von der Zerstreutheit angerührt, in dem die Dinge sich in der Welt vorfinden. Das gleiche Schauspiel ist es gewesen, das die Menschen des Barockzeitalters so sehr beschäftigt hat; insbesondere ist das Weltbild des Allegorikers ohne das leidenschaftliche Betroffensein durch dieses Schauspiel nicht zu erklären. Der Allegoriker bildet gleichsam zum Sammler den Gegenpol. Er hat es aufgegeben, die Dinge durch die Nachforschung nach dem aufzuhellen, was etwa ihnen verwandt und zu ihnen gehörig wäre. Er löst sie aus ihrem Zusammenhange und überläßt es von Anfang an seinem Tiefsinn, ihre Bedeutung aufzuhellen. Der Sammler dagegen vereint das Zueinandergehörige; es kann ihm derart gelingen, über die Dinge durch ihre Verwandtschaften oder durch ihre Abfolge in der Zeit zu belehren. Nichtsdestoweniger aber steckt – und das ist wichtiger als alles, was etwa Unterscheidendes zwischen ihnen bestehen mag – in jedem Sammler ein Allegoriker und in jedem Allegoriker ein Sammler. Was den Sammler angeht, so ist ja seine Sammlung niemals vollständig; und fehlte ihm nur ein Stück, so bleibt doch alles, was er versammelt hat, eben Stückwerk, wie es die Dinge für die Allegorie ja von vornherein sind. Auf der andern Seite wird gerade der Allegoriker, für den die Dinge ja nur Stichworte eines geheimen Wörterbuches darstellen, das ihre Bedeutungen dem Kundigen verraten wird, niemals genug an Dingen haben, von denen eines das andere um so weniger vertreten kann, als keinerlei Reflexion die Bedeutung vorhersehen läßt, die der Tiefsinn jedwedem von ihnen zu vindizieren vermag. [H 4 a, 1]

Tiere (Vögel, Ameisen), Kinder und Greise als Sammler. [H 4 a, 2]

Eine Art von produktiver Unordnung ist der Kanon der mémoire involontaire wie auch des Sammlers. »Et ma vie était déjà assez longue pour qu’à plus d’un des êtres qu’elle m’offrait, je trouvasse dans des régions opposées de mes souvenirs un autre être pour le compléter … Ainsi un amateur d’art à qui on montre le volet d’un rétable, se rappelle dans quelle église, dans quel musée, dans quelle collection particulière, les autres sont dispersés; (de même qu’en suivant les catalogues des ventes ou en fréquentant les antiquaires, il finit par trouver l’objet jumeau de celui qu’il possède et qui fait avec lui la paire, il peut reconstituer dans sa tête la prédelle, l’autel tout entier).« Marcel Proust: Le temps retrouvé Paris II p 158 Die mémoire volontaire dagegen ist eine Registratur, die den Gegenstand mit einer Ordnungsnummer versieht, hinter der er verschwindet. »Da wären wir nun gewesen.« (»Es war mir ein Erlebnis.«) In welcher Art von Beziehung die Zerstreutheit der allegorischen Requisiten (des Stückwerks) zu dieser schöpferischen Unordnung steht, bleibt zu untersuchen. [H 5, 1]