Im Ganzen

Im Ganzen. (Schöne Künste) Einen Gegenstand im Ganzen betrachten heißt so viel als auf die Wirkung Achtung geben, den alle Teile zugleich, insofern sie nur Eines ausmachen, auf uns tun. Man betrachtet ein Gebäude im Ganzen, indem man auf seine Form und Größe und auf seinen Charakter Achtung gibt, ohne auf irgend einen besonderen Teil desselben Acht zu haben. Ein Gemälde wird im Ganzen betrachtet, wenn die Aufmerksamkeit überhaupt auf die Empfindung gerichtet wird, die von der Vereinigung aller Gegenstände herkommt, es sei in Absicht auf den Geist desselben oder bloß in Absicht auf die Harmonie der Farben oder der Haltung oder des Hellen und Dunkeln. Es geht auch so gar in solchen Werken, die man nicht auf einmal, sondern nach und nach empfindet, wie die Werke redender Künste, doch an, sie im Ganzen zu betrachten. Solche Werke müssen, wenn sie vollkommen sind, gleich im Anfang ihren Charakter empfinden machen. Wenn man nun währendem Vortrag jedes Einzele in Rücksicht auf das Ganze, von dem man gleich anfangs sich einen Begriff gemacht hat, beurteilt, so sieht man immer auf das Ganze. So wie z. B. ein Tonstück, es sei Symphonie, Konzert oder Arie, anfängt, so muss gleich alles dahin abzielen, den Charakter des ganzen Stücks zu bestimmen und so sollte es auch in jeder Rede sein. Wenn man nun im Verfolg jedes Einzele nicht für sich und nicht von dem Ganzen abgelöset, sondern bloß in Rücksicht auf das, was schon vom Ganzen bestimmt ist, beurteilt, so betrachtet man das Werk im Ganzen.

  Es ist eine wichtige Anmerkung, dass gewisse Werke der Kunst die Wirkung des Ganzen zur Absicht haben, so dass die Teile bloß des Ganzen halber da sind; da andere Werke einzelne Teile zur Hauptabsicht haben. So wie es in der Malerei Landschaften gibt, in welchen kein einziger besonderer Gegenstand vorkommt, der eine große Aufmerksamkeit verdiente, alle zusammen aber eine reizende Aussicht machen, so ist es auch mit anderen Werken der Kunst. Hingegen gibt es auch Werke, worin das Einzele die Hauptsach ist. Man hat Komödien, die im Ganzen betrachtet, wenig Aufmerksamkeit verdienen, aber der einzeln Charaktere halber sehr wichtig sind. In jedem Gebäude muss die Aussenseite im Ganzen betrachtet werden; kein einziger Teil derselben ist für sich da, sondern blos, um die Wirkung des Ganzen erreichen zu helfen: in dem inneren der Gebäude aber und so auch in den Gärten, ist bald jeder Teil seiner selbst wegen da und wenige zur Wirkung des Ganzen. So muss die Odyssee mehr im Ganzen und die Ilias mehr in einzeln Teilen betrachtet und beurteilt werden.

Dieser Unterschied erfordert von Seite des Künstlers eine doppelte Behandlung und von Seite des Kenners eine doppelte Beurteilung der Werke. In denjenigen, bei denen die Hauptabsicht durch das Ganze soll erreicht werden, muss jeder besondere Teil schlechterdings nur in der Form, Größe oder Kraft erscheinen, die zum Ganzen am schicklichsten ist; da hingegen in den anderen die größte Sorgfalt auf einzelne Teile gerichtet werden muss, das Ganze aber hinlänglich besorgt ist, wenn es Einförmigkeit hat und ein mechanisches Ganzes ausmacht.1

 

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1 S. Einförmigkeit.

 


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