Gotisch. (Schöne Künste) Man bedient sich dieses Beiworts in den schönen Künsten vielfältig, um dadurch einen barbarischen Geschmack anzudeuten; wiewohl der Sinn des Ausdrucks selten genau bestimmt wird. Fürnehmlich scheint er eine Unschicklichkeit, den Mangel der Schönheit und guter Verhältnisse, in sichtbaren Formen anzuzeigen und ist daher entstanden, dass die Goten, die sich in Italien niedergelassen, die Werke der alten Baukunst auf eine ungeschickte Art nachgeahmet haben. Dieses würde jedem noch halb barbarischen Volke begegnen, das schnell zu Macht und Reichtum gelangt, eh' es Zeit gehabt hat, an die Kultur des Geschmacks zu denken. Also ist der gothische Geschmack den Goten nicht eigen, sondern allen Völkern gemein, die sich mit Werken der zeichnenden Künste abgeben, ehe der Geschmack eine hinlängliche Bildung bekommen hat. Es geht ganzen Völkern in diesem Stück, wie einzelnen Menschen. Man mache einen, im niedrigen Stande geborenen und unter dem Pöbel aufgewachsenen, Menschen auf einmal groß und reich, so wird er, wenn er in Kleidung, in Manieren, in seinen Häusern und Gärten und in seiner Lebensart, die feinere Welt nachahmet, in allen diesen Dingen gothisch sein. Das Gotische ist überhaupt ein ohne allen Geschmack gemachter Aufwand auf Werke der Kunst, denen es nicht am Wesentli chen, auch nicht immer am Grossen und Prächtigen, sondern am Schönen, am Angenehmen und Feinen fehlt. Da dieser Mangel des Geschmacks sich auf vielerlei Art zeigen kann, so kann auch das Gotische von verschiedener Art sein.
Darum nennt man nicht nur die von den Goten aufgeführten plumpen, sondern auch die abenteuerlichen und mit tausend unnützen Zierraten überladenen Gebäude, wozu vermutlich die in Europa sich niedergelassenen Saracenen die ersten Muster gegeben haben, Gotisch. Man findet auch Gebäude, wo diese beiden Arten des schlechten Geschmacks vereinigt sind.
In der Malerei nennt man die Art zu zeichnen Gotisch, die in Figuren herrschte, ehe die Kunst durch das Studium der Natur und des Antiken am Ende des XV Jahrhunderts wieder hergestellt worden. Die Maler vor diesem Zeitpunkt zeichneten nach einem Ideal, das nicht eine erhöhte Natur war, wie das Ideal der Griechen, sondern eine in Verhältnis und Bewegung verdorbene Natur. Über die natürlichen Verhältnisse verlängerte Glieder, mit steiffen oder sehr gezierten, Stellungen und Bewegungen, von denen man in der Natur nichts ähnliches sieht, sind charakteristische Züge der gotischen Zeichnung. Man sieht deutlich, dass die gothischen Maler nach bloßem Gutdünken Figuren gezeichnet haben, die zwar alle Glieder des menschlichen Körpers hatten, wobei aber der Zeichner ganz unbesorgt war, ob sie die wahre Gestalt, die wahren Verhältnisse und die Wendungen der Natur haben oder nicht.
Es scheint also überhaupt, dass der gothische Geschmack aus Mangel des Nachdenkens über das, was man zu machen hat, entstehe. Der Künstler, der nicht genau überlegt, was das Werk, das er ausführt, eigentlich sein soll und wie es müsse gebildet werden, um gerade das zu sein, wird leicht gothisch. Eben dieser Mangel des Nachdenkens unterhält noch gegenwärtig den gotischen Geschmack in den Verzierungen, wenn man sie ohne alle Rücksicht auf die Natur des Werks, das verziert wird, anbringt. Gothisch ist der, in Form eines Tieres geschnittene Baum, die, wie eine Schneke gewundene Säule, der, auf einem hohen und sehr dünnen Fuße stehende Becher und so sind sehr viel nach einem völlig willkürlichen Geschmack ausgezierte Gerätschaften. S. Verzierung.