Gekünstelt. (Schöne Künste) Man nennt dasjenige gekünstelt, darin die Kunst übertrieben oder zur Unzeit angebracht ist; es sei dass das Übertriebene in Überfluss von Zierraten, in erzwungenen Schönheiten oder in zu weit getriebenem Fleiß bestehe. In jedem Werke der Kunst, das einen Wert haben soll, muss uns ein Gegenstand dargestellt werden, der seiner Natur nach unsere Aufmerksamkeit reizt. Wir müssen durch den Gegenstand gerührt oder ergötzt werden. Die Künste stellen uns diese Gegenstände entweder durch gewisse Zeichen dar, nämlich durch Worte und Töne; oder sie bilden einen Gegenstand nach der Ähnlichkeit des natürlichen. In allen Fällen kann man sagen, dass die Künste uns Zeichen darstellen, welche in uns die Vorstellungen der bezeichneten Sachen erwecken sollen. Also sind in einem Kunstwerk nicht die Zeichen, sondern die bezeichnete Sache dasjenige, was unsere Vorstellungskraft beschäftigen soll. In Werken, die man Gekünstelt nennt, ist mehr in dem Zeichen als zur Bezeichnung der Sache nötig ist. Daher wird die Aufmerksamkeit bei solchen Werken von der Sache auf das Zeichen gelenkt, welches der Absicht und Natur der Kunst entgegen ist.
So ist eine Rede gekünstelt, wenn die Gedanken, der Ausdruck und der Ton der Worte mehr Zierlichkeit, Witz und Wohlklang haben als man natürlicher Weise von einem Menschen, der seine Gedanken und Empfindungen in denselben Umständen ausdrücken würde, erwarten könnte. Denn das was darin zu viel ist, verrät den Künstler, welcher über die Natur hat heraus gehen wollen. Die wahre Kunst ist der richtige Ausdruck der schönen Natur; das Übertriebene der Kunst oder Gekünstelte gibt der Natur einen Zusatz, der ihr wahres Wesen verstellt.
Weil man also beim Gekünstelten nicht so wohl die Natur als den ihr angehängten Schmuk gewahr wird, so tut es dem Zweck des Werks großen Schaden und wird deswegen widrig. Es hemmt die wesentlichen Vorstellungen und ist wie Unkraut anzusehen, das die nützliche Saat erstikt und darum nicht weniger schadet, wenn es schön und frisch wächst. Nam illa, sagt Quintilian [In prœm. L. VIII.], quæ curam fatentur et ficta atque composita videri etiam volunt, nec gratiam consequuntur, et fidem amittun, propter id quod sensus obumbrant et velut læto gramine sata strangulant.
Man verfällt aber in das Gekünstelte, so wohl wenn man den Endzweck der Künste bloß im Ergötzen und Gefallen setzt als wenn man die Grenzen des Ästhetischen überschreiten will und niemals genug haben kann. Wer alles auf das Ergötzen hinführen will, der übersieht den eigentlichen Gebrauch der Dinge und macht Gegenstände, die in ihrer einfachen Natur schätzbar sind und deswegen gefallen würden, zu Spielsachen und zu Gegenständen der bloßen Einbildungskraft, die dann natürlich denkenden Menschen nicht mehr gefallen können. Die wahren Grenzen des Ästhetischen werden dadurch bestimmt, dass jede Sache dasjenige sinnlich vollkommen sei, was sie sein soll; und sie werden überschritten, wenn man einer Sache Annehmlichkeiten anhängen will, die ihr Wesen nicht nur nicht vollkommener machen, sondern wohl gar verderben. Zu einer vollkommenen Mannsperson gehört allerdings, außer der Männlichkeit und Stärke des Leibes und Gemüts, auch ein gewisses gutes Ansehen. Man übertreibt aber diese Vollkommenheit, wenn man ihm die Schönheit eines Frauenzimmers geben will; und man zerstört sie ganz, wenn man ihm durch Beraubung der Mannheit ein schöneres Ansehen gibt. Dieses tut der Künstler, der seine Werke gekünstelt macht. Hierbei drückt sich Quintilian in folgender Stelle, die so wohl auf andre Künste als auf die Beredsamkeit passt, vortrefflich aus. Declamationes – – – olim jam ab illa vera imagine orandi recesserunt atque ad solam compositæ voluptatem, nervis carent, non alio medius fidius vitio dicentium, quam quo mancipiorum negociatores formæ puerorum, virilitate excisa, lenocinantur. Nam ut illi robur atque lacertos, barbamque ante omnia et alia quæ natura propria maribus dedit, parum existimant decora: quæque fortia, si liceret, forent, ut dura molliunt: ita nos habitum ipsum orationis virilem, et illam vim stricte robusteque dicendi, tenera quadam elocutionis arte operimus, et dum levia sint ac nitida, quantum valeant, nihil interesse arbitramur. Sed mihi naturam intuenti, nemo non vir, spadone formosior erit [Quint, Inst.]. Die wenigsten Redner erreichen die Vollkommenheit, das, was zur Überzeugung dient, deutlich, kurz und angemessen vorzutragen: mehrenteils verdunkeln sie die wahre Vorstellung der Sache, da sie auf schöne Perioden oder auf einen witzigen Ausdruck oder auf eine Musterung und Abwiegung der Silben und Buchstaben sehen [s. Sextus Empirikus advers. Mathem. p. 74.3].
Das Gekünstelte in allen Teilen der Künste ist ein Fehler, in den die Alten, vornehmlich die Griechen, unendlich seltener gefallen sind als die Neuern. Es ist unter den römischen Kaisern, so wohl in den redenden als bildenden Künsten aufgekommen, nachdem eine bis zur Abscheulichkeit übertriebene Üppigkeit in der Lebensart, diese Herren der ganzen Welt überall von dem natürlichen Gebrauch der Dinge abgeführt hatte. So wie man damals bei den Mahlzeiten kaum mehr daran dachte, dem Leib eine gute Nahrung zu geben, sondern den Geschmack auf die mannigfaltigste Art zu kitzeln, so ging es bei gar allen natürlichen Bedürfnissen. Den Gebrauch der schönen Künste verlohr man ganz und machte sie ebenfalls zu Handlangerinen der Üppigkeit. Die natürliche Schönheit, Vollkommenheit und Stärke jedes Gegenstandes der Kunst, wurde durch den gekünstelten Schmuk verdrängt und viele nehmen jetzt viel lieber diese verfallene Kunst zum Muster als die edle Einfalt der alten Griechen.