Genie. (Schöne Künste) Es scheint, dass man überhaupt denjenigen Menschen Genie zuschreibe, die in den Geschäften und Verrichtungen, wozu sie eine natürliche Neigung zu haben scheinen, eine vorzügliche Geschicklichkeit und mehr Fruchtbarkeit des Geistes zeigen als andere Menschen. Der Mann von Genie sieht in den Gegenständen, die ihn intreßiren, mehr als andere Menschen, entdeckt leichter die sichersten Mittel zu seinem Zweck zu gelangen, findet bei vorkommenden Hindernissen glückliche Auswege, ist mehr als andere Menschen, Meister seiner Seelenkräfte, erkennt und empfindet schärfer als ein andrer, hat dabei seine Vorstellungen und Empfindungen mehr in seiner Gewalt, da Menschen ohne Genie von den ihrigen geführt und gelenkt werden. Also scheint das Genie im Grunde nichts anders zu sein als eine vorzügliche Größe des Geistes überhaupt und die Benennungen ein großer Geist, ein großer Kopf, ein Mann von Genie, können für gleich bedeutend gehalten werden.
Doch erstreckt sich diese Größe, die sich den Namen des Genies erwirbt, nicht allezeit über jedes Vermögen des Geistes. Es gibt Menschen, in deren Seelen alles Groß ist, wiewohl diese höchst selten sind; andere besitzen nur einzelne Seelenkräfte in einem sehr hohen Grad und werden dadurch weit mehr als andere Menschen, zu gewissen Verrichtungen tüchtig. Man schreibt solchen Menschen nicht schlechtweg Genie, sondern ein besonders Genie für die Sachen zu, für welche sie vorzügliche Fähigkeiten haben.
Überhaupt scheint es, dass in beiden Fällen das Genie eine besondere Leichtigkeit, die Vorstellungen auf einen hohen Grad der Klarheit und Lebhaftigkeit oder nach Beschaffenheit der Sache, der Deutlichkeit zu erheben, mit sich bringe. In der Seele des Mannes von Genie herrscht ein heller Tag, ein volles Licht, das ihm jeden Gegenstand wie ein nahe vor Augen liegendes und wohl erleuchtetes Gemälde vorstellt, das er leicht übersehen und darin er jedes Einzele genau bemerken kann. Dieses Licht verbreitet sich bei wenigen glücklichern Menschen über die ganze Seele, bei den meisten aber nur über einige Gegenden derselben. Bei diesem erleuchtet es die obere Gegend des Geistes, wo die allgemeinen und abstrakten Begriffe ihren Sitz haben; bei anderen verbreitet es sich über sinnliche Begriffe oder dringt auch wohl bis in die dunklern Gegenden der Empfindungen ein. Dahin, wo dieses Licht fällt, vereinigen sich die Kräfte und Triebfedern der Seele; der Mann von Genie empfindet ein begeisterndes Feuer, das seine ganze Wirksamkeit rege macht, er entdeckt in sich selbst Gedanken, Bilder der Phantasie und Empfindungen, die andere Menschen in Bewunderung setzen; er selbst bewundert sie nicht, weil er sie, ohne mühesames Suchen, in sich mehr wahrgenommen als erfunden hat.
Es steht dahin, ob die Philosophie jemals die eigentlichen Ursachen entdecken werde, die das Genie hervorbringen. Den ersten Grund dazu scheint die Natur dadurch zu legen, dass sie den Menschen, dem sie ein besonderes Genie zugedacht hat, für gewisse Gegenstände vorzüglich empfindsam macht, wodurch geschieht, dass ihm der Genuß dieser Gegenstände einigermaßen zum Bedürfnis wird. Wir dürfen uns nicht scheuhen, die Anlage zum Genie selbst in der thierischen Natur aufzusuchen, da man durchgehends übereingekommen ist, auch den Tieren etwas dem Genie ähnliches zuzuschreiben. Wir sehen, dass jedes Tier alle Geschäfte, die zu seinen Bedürfnissen gehören, mit einer Geschicklichkeit und mit einer Fertigkeit verrichtet, die Genie anzuzeigen scheinen. Bei dem Tier liegt allemal ein höchst feines Gefühl, eine ausnehmende Reizbarkeit der Sinne zum Grund. Man beraube den Hund seines feinen Geruchs und Gehöres, so nimmt man ihm zugleich auch sein Genie weg. Bei dem Menschen scheint das Genie eine ähnliche Unterstützung nötig zu haben. Wie scharf auch immer die Vorstellungskräfte des Menschen sein mögen, so machen sie das Genie noch nicht aus: es muss irgend eine Reizung hinzukommen, wodurch die Wirksamkeit jener Kräfte auf besondere Gegenstände gelenkt und dabei unterhalten wird. Denn was wir hier Vorstellungskräfte nennen, sind, wenn man genau reden will, bloße Vermögen oder bloße Fähigkeiten des Geistes, die erst alsdann wirksam werden, wenn ein innerliches oder äußerliches Bedürfnis ihre Wirksamkeit erweckt und unterhält.
Seelen von geringer Empfindsamkeit, die durch nichts zu vorzüglicher Wirksamkeit gereizt werden, die keine besondere Bedürfnisse haben, solche Seelen sind bei dem größten Verstand ohne Genie; denn dieser große Verstand muss durch das Bedürfnis in Wirksamkeit erhalten werden. Die verschiedenen Vermögen der Seele liegen in einer schlaffen Untätigkeit, bis irgend eine Empfindung sie reizt und dann wirken sie, so lange diese Empfindung vorhanden ist. So wie das schlaueste und lebhafteste Tier, wenn es über alle seine Bedürfnisse bis zur Sätigung befriediget ist, in einer dummen Trägheit ausgestreckt liegt, so sinken auch alle Kräfte des Geistes, so viel Stärke sie auch sonst haben, in schläfrige Untätigkeit, wo nicht der empfindsame Teil der Seele durch etwas gereizt wird und sie zur Wirksamkeit auffordert.
Wo demnach zu den vorzüglichen Vorstellungskräften der Seele, ein bestimmtes inneres Bedürfnis derselben hinzukommt, das ihnen die rechte Wirksamkeit gibt, da zeigt sich das Genie und es be kommt seine besondere Bestimmung von der Art des Bedürfnisses. Der Mensch von Verstand und lebhafter Einbildungskraft, dessen Hauptbedürfnis die Liebe ist, wird, nach dem besonderen Grad dieses Bedürfnisses, ein galanter oder zärtlicher Liebhaber, ein Muster und ein Genie in seiner Art, so wie der Mensch von Verstand und lebhafter Phantasie, dessen Seele einen vorzüglichen Gefallen an der Schönheit sichtbarer Formen hat, ein großer Zeichner und ein Genie in dieser Gattung wird. Zum Genie wird also auch warme Empfindung erfordert, ohne welche der Geist nie wirksam genug ist. Wo eine solche Empfindung bei Menschen von vorzüglichen Gaben des Geistes nur vorübergehend ist, da äußeren sich auch vorübergehende Wirkungen des Genies; die aber, deren Empfindungen herrschend worden, sind die eigentlichen Genien jeder Art.
Ein Mann von Verstand kann auch wohl ohne Empfindung oder innerliches Bedürfnis, aus Mode oder aus Lust zur Nachahmung oder aus anderen außer der Empfindung liegenden Veranlassungen, sich in Geschäfte einlassen, die andere aus Triebe des Genies tun. Aber alles Verstandes ungeachtet wird er weit hinter dem wahren Genie zurück bleiben; man wird das Veranstaltete, von kalter Überlegung herkommende und etwas steife Wesen gewiss in seinem Werk entdecken; er wird sich in dieser Art als einen Mann von Verstand und Überlegung, aber nicht als ein Genie zeigen; man wird merken, dass sein Werk aus Kunst und Nachahmung entstanden ist, da die Werke des wahren Genies das Gepräge der Natur selbst haben. Wer ohne das wirkliche Gefühl einer in dem Blute sitzenden Liebe, an der Seite einer Schönen den Liebhaber spielt, wird sich allemal als einen Komödianten oder als einen Geken zeigen: eben so wird auch der, welcher Werke des Genies ohne Genie nachahmt, sich gar bald verraten.
Diesen Anmerkungen zu Folge wären eine vorzügliche Stärke der Seelenkräfte, mit einer besonderen Empfindsamkeit für gewisse Arten der Vorstellungen verbunden, notwendige Bedingungen zu Hervorbringung des Genies. Damit wir uns nicht allzuweit ausdehnen, wollen wir diese allgemeine Bemerkung nur auf die Arten des Genies anwenden, die sich in den schönen Künsten äussern.
Jede der schönen Künste hat etwas auf die äußeren Sinnen wirkendes zum Grunde. Wär' unser Ohr nichts als eine Öffnung, das dem toten Schalle den Eingang in die Seele verstattete und unser Auge nichts als ein Fenster, wodurch das Licht fällt, so würde die Musik nichts als eine bloße Rede und die Malerei eine bloße Schrift sein. Dass das Gehör durch Harmonie und Rhythmus, das Auge durch die Harmonie der Farben und Schönheit der Formen ge rührt wird, macht, dass die Musik und die Malerei schöne Künste sind. Für den Menschen, dessen Ohr durch Harmonie und Rhythmus nicht gereizt wird, ist die Musik ein bloßes Geräusch. Hieraus lässt sich abnehmen, auf was für einen Grund das, jeder Kunst überhaupt eigene Genie, beruhe. Es stützt sich auf eine besondere Reizbarkeit der Sinne und des Systems der Nerven. Der, dessen Ohr von der im Tone liegenden Kraft dergestalt gereizt wird, dass das Vergnügen, das er daraus empfindet, eine Bedürfnis für ihn wird, hat die wahre Anlage zum Genie der Musik; wer von der Harmonie der Farben so lebhaft gerührt wird, dass er ein vorzügliches Vergnügen daran hat, der hat das Genie des Koloristen; und wen die Harmonie und der leidenschaftliche Ton der Rede in Empfindung bringt, der hat die Anlage zum poetischen Genie. Aber diese verschiedenen Gattungen der Reizbarkeit machen nur noch das mechanische Genie des Künstlers aus, das noch immer nahe an den Instinkt der Tiere grenzt. Der Künstler, der dieses Genie allein hat, ist nur in dem Mechanischen der Kunst glücklich; aber darum hat sein Werk noch den Geist nicht, wodurch es bestimmte Wirkung auf die Gemüter der Menschen macht, die selbst keine Künstler sind. Ein Tonstück kann an Harmonie und Rhythmus gut und doch ohne Kraft des Ausdrucks sein, so wie ein Gedicht von der schönsten Versification sehr unbedeu tend sein kann.
Der große Künstler, der unter den Genien, die in der Geschichte des menschlichen Geistes als Sternen der ersten Größe erscheinen, einen Platz bekommen soll, muss wie Homer, wie Phidias oder wie Händel, außer dem, seiner Kunst eigenen Genie, ein großes philosophisches Genie besitzen; muss ein Mann sein, der, wenn er auch den Geist seiner Kunst nicht gehabt hätte, noch immer ein Genie geblieben wäre. Dieses allgemeine, philosophische Genie gibt ihm große Erfindungen, große Gedanken, die das Kunstgenie nach dem, der Kunst eigenen, Geiste bearbeitet. Dadurch entstehen die herrlichen Werke der schönen Künste, die nicht nur der Künstler, sondern jeder Mensch von Gefühl und Verstand bewundert.
Das Genie eines jeden Künstlers muss also nach einem doppelten Maßstab gemessen werden; an dem einen mißt man seine Kunst und an dem anderen seine Materie. Anakreon hatte das Genie der Kunst vielleicht in so hohem Grad als Homer, beide sind große Dichter; aber an den Maßstab der allgemeinen menschlichen Größe gebracht ist der eine ein Held und der andere ein angenehmer Knabe. So haben Raphael und Callot das Genie der zeichnenden Kunst beide in hohem Grad, aber der eine hatte dabei eine große Seele, der andere bloß eine höchst lebhafte, aber spielende Phantasie.
Das bloße Kunstgenie kann wieder seine mannigfaltigen Bestimmungen haben. Das empfindende Auge wird nicht allemal durch jede Schönheit gereizt; dieser Mensch wird durch die Schönheit der Formen entzückt, der, bloß durch den Glanz der Farben; jener wird ein Phidias, dieser ein Titian. In der Musik wird ein Ohr vorzüglich durch Harmonie gereizt, ein anders durch Gesang. Und diese Verschiedenheit findet sich auch in dem außer der Kunst liegenden Genie der Menschen. Es gibt, wie schon oben angemerkt worden, Seelen, in denen es überall hell und andre, wo das Licht nur auf einzelne Gegenden eingeschränkt ist.
Diese wenigen Betrachtungen über das Genie geben doch einige Aufklärung über die ungemeine Mannigfaltigkeit des Genies, das sich in den schönen Künsten äussert. Fällt das bloße Kunstgenie in eine gemeine Seele, die außer der Kunst ohne Größe ist, so kann es doch Werke hervorbringen, die von eigentlichen Liebhabern der Kunst bewundert werden. Es gibt Dichter, die nicht viel mehr als Versmaschinen, Tonkünstler, die Notenmaschinen sind: und so hat nicht nur jede Kunst, sondern bald jeder einzelne Zweig derselben, Männer gezeugt, die durch bloßen Instinkt einen oder mehrere mechanische Teile mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit ausgeübt haben. Wie viel Koloristen hat man nicht, die weder von Zeichnung, noch von Schönheit den geringsten Begriff haben? Wir wollen die Werke dieser bloß durch den Instinkt gebildeten Künstler den Liebhabern gern als kostbare Kleinodien, womit sie ihre Kabinetter ausschmücken, überlassen.
Das Genie der Menschen ist auch außer der Kunst so mannigfaltig als die verschiedenen Gegenstände selbst, an denen man Geschmack findet. Wenn man den natürlichen Geschmack an ganz abgezogenen und bis zur größten Deutlichkeit entwickelten Begriffen und an Wahrheiten, die durch strenge Vernunftschlüsse bewiesen werden, ausnimmt, so kann jede andre Gattung des Genies sich mit einem besonderen Kunstgenie vereinigen und daher entsteht die große Mannigfaltigkeit in den Charakteren der Künstler. Ein Mensch hat vorzüglich an sittlichen Gegenständen ein Wohlgefallen, einen anderen reizen nur leidenschaftliche Szenen; bei diesem ist bloß die Einbildungskraft reizbar und der findet vorzüglichen Geschmack an sinnlich erkannten philosophischen Wahrheiten. Man verbinde die vielerlei Arten des daher entstehenden Genies, mit den verschiedenen Arten des Kunstgenies, so bekommt man eine große Mannigfaltigkeit an Künstlern von Genie, deren jeder seinen eigenen unterscheidenden Charakter hat. Was für eine erstaunliche Mannigfaltigkeit des Genies haben wir nicht an Dichtern, vom Homer bis zum Anakreon? Und an Malern, vom Raphael bis zum Bluhmenmaler Huysum?
Es würde angenehm sein und zu näherer Kenntnis des menschlichen Genies ungemein viel beitragen, wenn Kenner aus den berühmtesten Werken der Kunst das besondere Gepräg des Genies der Künstler mit psychologischer Genauigkeit zu bestimmen suchten. Man hat es zwar mit einigen Genien der ersten Größe versucht, aber was man in dieser Art hat, ist nur noch als ein schwacher Anfang der Naturhistorie des menschlichen Geistes anzusehen.