Gesichtspunkt. (Zeichnende Künste) Der Ort, aus welchem man eine Landschaft oder jede andere Szene sichtbarer Dinge übersieht; man nennt ihn auch die Lage des Auges. Eine Stadt oder ein Garten zeigt sich ganz anders, wenn man von einer nahen Höhe darauf herunter sieht als wenn man weit davon entfernt oder weniger hoch steht. Also verändert der Gesichtspunkt die anscheinende Gestalt der Dinge. Es kommt also bei Gemälden und Zeichnungen sehr viel darauf an, dass man für jede Szene einen vorteilhaften Gesichtspunkt annehme. Die schönste Landschaft könnte aus einem Gesichtspunkt gezeichnet werden, in dem sie ihre Schönheit verlöre.
Aber außer dieser allgemeinen Vorsichtigkeit, sich in den vorteilhaftesten Gesichtspunkt zu stellen, die man dem Geschmack des Malers überlassen muss, gibt es noch besondere Regeln zu der guten perspektivischen Zeichnung der Gemälde, denen zufolge der Zeichner den Gesichtspunkt, aus welchem das Gemälde muss angesehen werden, bei der Zeichnung festsetzt. Nach diesem Punkt richtet sich alles Perspektivische der Zeichnung und sie wird, wenn auch alle Regeln der Perspektive genau beobachtet werden, gut oder schlecht, nach der guten oder schlechten Wahl des Gesichtspunkts. Damit alles, was hierüber anzumerken ist, seine völlige Deutlichkeit habe, müs sen wir hier vorläufig einige Grundbegriffe der Perspektive feste setzen. Man stelle sich eine waagerechte Fläche A B C D vor, auf welcher die Gegenstände, die man Zeichnen will, stehen und o p q r stelle die Tafel vor, auf welche die Zeichnung gemacht werden soll; i sei der Gesichtspunkt oder die Stelle, wo das Auge ist, das die auf der Fläche A B C D liegenden Gegenstände sieht. Nun sollen sie auf der Tafel so gezeichnet werden, dass es dem in i stehenden Auge einerlei ist, ob es die Sachen selbst oder die auf der Tafel gemachte Zeichnung, sehe.
Hier ist sehr leicht zu sehen, dass so wohl der Ort, wo jeder Gegenstand in der Zeichnung zu stehen kommt als auch seine Figur und Größe, sich durch den veränderten Gesichtspunkt verändern würde. Dieser Punkt könnte so schlecht gewählt werden, dass kaum eine Sache eine kennbare Gestalt behielte und auch so, dass in der Lage der Sachen sich alles verwirren würde.
Es ist also hier, wo von der besten Lage des Auges die Rede ist, auf drei Dinge zu sehen. Auf den Abstand des Auges vom Gemälde i s, auf seine Höhe über die Grundfläche i x und auf seine Richtung.
Nun bedenke man zunächst, dass der Winkel tiu , unter welchem die Breite der Tafel ins Auge fällt, lediglich von der Entfernung des Auges von der Tafel abhänge. Ist diese Entfernung halb so groß als die Breite der Tafel, so fällt die ganze Tafel unter einem Winkel von 90 Grad ins Auge. Wenn man nun als einen Grundsatz annimmt, dass man auf einem Gemälde nicht mehr vorstellen soll als das Auge auf einmal mit unverwandtem Blick übersehen kann, so folgt daraus, dass der Winkel tiu nicht könne über 90 Grad sein1: deswegen kann der Gesichtspunkt zur perspektivischen Zeichnung nicht näher an die Tafel gerückt werden als die halbe Breite der Tafel beträgt.
Es ist aber nicht einmal ratsam, den Gesichtspunkt so nahe an der Tafel zu nehmen, weil die äußersten Gegenstände bei dieser Nähe noch zu sehr würden verstellt werden. Allzu groß aber muss man die Entfernung des Auges auch nicht nehmen; weil dadurch die allmähliche Verkleinerung der, sich vom Vordergrund entfernenden, Teile nicht mehr merklich genug und also überhaupt die ganze Szene oder das ganze Gemälde flach werden würde.
Die Höhe des Gesichtspunkts bekommt ihre Einschränkungen auf eben die Art, wie seine Entfernung. Es ist aus dem vorhergehenden klar, dass der Winkel siz nicht wohl kann 45 Grade groß sein; weil in diesem Falle die nahe an der Grundlinie liegenden Gegenstände nicht deutlich in das Auge fallen. Es ist also allemal notwendig, die Höhe des Gesichtspunkts geringer zu nehmen als den Abstand desselben von der Tafel.
Indessen kommt es dabei auch auf die Höhe der vorzustellenden Gegenstände an. Wenn z. B. ein hoher Thurm abzuzeichnen wäre, dessen Spitze sich sehr hoch über die Linie des Horizonts erhebte, so muss auch die von der Spitze des Thurmes in den Augenpunkt gezogene Linie mit der Horizontallinie keinen Winkel machen, der über 45 Grade groß wäre. Wenn also sehr hohe Sachen vorzustellen sind, deren oberste Höhe deutlich in die Augen fallen soll, so muss der Gesichtspunkt eine ihnen dergestalt angemessene Höhe haben, dass sie nicht undeutlich werden. Dieses aber ist bei der geringsten Kenntnis der Geometrie so leicht, dass es nicht nötig ist, die Sache hier besonders auszuführen.
Endlich ist die Richtung des Auges zu betrachten oder die Richtung der Linie is . Man übersieht eine Szene am deutlichsten, wenn man so gerade davorsteht, dass die Richtung des Auges mitten in dieselbe geht. Eine Schaubühne z. B. und alles, was darauf vorgeht, fällt am besten ins Gesicht, wenn man gerade der Mitte der Bühne gegenüber steht. Daher liegt auch der Augenpunkt in den meisten Gemälden mitten in der Tafel, welches bei allen den Gemälden notwendig ist, auf denen die Hauptsachen mitten auf der Tafel gezeichnet sind. Es gibt aber auch verschiedene Fälle, wo dieser Punkt aus der Mitte gegen das eine oder andere Ende der Tafel herausgerückt wird.2
Dieses ist also, was der Zeichner bei der Wahl oder Festsetzung des Gesichtspunkts zu überlegen hat.
Ein Gemälde zeigt sich nur dann in seiner Vollkommenheit, wenn das Auge dessen, der es betrachtet, gerade in dem Gesichtspunkt, auf den sich seine perspektivische Zeichnung gründet, steht. Daher kommt es, dass Kenner, um ein Gemälde recht zu beurteilen, dasselbe, wo es möglich ist, allemal aus dem wahren Gesichtspunkt betrachten. In Gallerien aber, wo die Gemälde aufgehangen sind, geht es selten an.
_______________
1 Gesichtskreis.
2 S. Augenpunkt.