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Kritizismus

Kritizismus. Kritizismus ist: 1. die Betonung der Notwendigkeit, vor aller Metaphysik (s d.) oder systematischen Weltanschauung die Bedingungen, Voraussetzungen, den Umfang und die Grenzen der Erkenntnis (bzw. der „reinen Vernunft“, der apriorischen Erkenntnis) festzustellen, im Gegensatze zum philosophischen Dogmatismus (s. d.); 2. die kritische Lehre Kants ihrem spezifischem Inhalte nach, sein kritischer Idealismus (s. d.). Charakteristisch für den Kritizismus ist die Unterscheidung von Form und Stoff der Erfahrung, die Lehre von den apriorischen Bedingungen der Erfahrung (der „Transzendentalismus“), die Einschränkung der Anwendung des A priori auf mögliche Erfahrungsinhalte und damit der Geltung der Anschauungs- und Denkformen (Raum-Zeit, Kategorien) für die Dinge als Erscheinungen, die Betonung der Unerkennbarkeit des „Ding an sich“, während die Erfahrungserkenntnis — auf den absolut sicheren Grundlagen des Denkens — unbegrenzt fortschreiten kann. Die Möglichkeit der Wissenschaft (insbesondere ihrer apriorischen Grundsätze) erhellt aus dem Umstande, daß die Bedingungen der Erfahrungserkenntnis zugleich die Bedingungen der Gegenstände dieser Erkenntnis sind und daß diese Bedingungen in der Gesetzlichkeit des Bewußtseins selbst wurzeln, der sich alles fügen muß, wenn es Erkenntnisgegenstand werden soll. Vom „Ding an sich“ (s. d.) gibt es theoretisch keine positiven Bestimmungen, es ist ein bloßer „Grenzbegriff“. Vom Standpunkte der praktisch-sittlichen Vernunft aber läßt sich das „Noumenon“ (s. d.), das „Intelligible“ in und über uns näher bestimmen (wenn auch nicht erkennen), nämlich als Glied oder Oberhaupt einer übersinnlichen, moralischen Welt, als zeitlos-freier Quell sittlicher Gesetzgebung (s. Mensch, Freiheit, Autonomie, intelligible Welt), und als das, was zur Vollendung der sittlichen Weltordnung noch als praktisch-notwendige Annahme gehört, postuliert, geglaubt werden muß (s. Unsterblichkeit, Gott, Postulate, Glaube), obzwar dieses Übersinnliche (s. d.) nicht erkennbar ist (Primat der praktischen Vernunft). Die Welt als physische und psychische Natur ist ein System von gesetzlich verknüpften Erscheinungen für ein „Bewußtsein überhaupt“, aber die Naturhaftigkeit der Welt ist nicht ihr volles Wesen: die Welt ist „an sich“ anders, als sie sich in der kategorial bestimmten Sinnesanschauung darstellt; sie hat jedenfalls noch einen anderen Aspekt, verstattet noch eine andere Betrachtungsweise, mag sie auch von uns nicht positiv realisiert werden können (vgl. intellektuelle Anschauung, Verstand). Das Wissen ist durch einen Vernunftglauben (an das Übersinnliche) zu ergänzen.

„Daß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen sind, daß wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, als sofern diesen Begriffen korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur sofern er Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnisse haben können, wird im analytischen Teile der Kritik bewiesen; woraus denn freilich die Einschränkung aller nur möglichen spekulativen Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt. Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint“, KrV Vorr. z. 2. (I 34—Rc 29). „Der Kritizismus des Verfahrens mit allem, was zur Metaphysik gehört (der Zweifel des Aufschubs), ist ... die Maxime eines allgemeinen Mißtrauens gegen alle synthetischen Sätze derselben, bevor nicht ein allgemeiner Grund ihrer Möglichkeit in den wesentlichen Bedingungen unserer Erkenntnisvermögen eingesehen worden.“ Vom Vorwurf des Dogmatismus befreit man sich nicht durch Berufung auf sogenannte apodiktische Beweise, deren häufiges Fehlschlagen zum non liquet des Skeptikers führt. „Nur wenn der Beweis auf dem Wege geführt worden, wo eine zur Reife gekommene Kritik vorher die Möglichkeit der Erkenntnis a priori und ihre allgemeinen Bedingungen sicher angezeigt hat, kann sich der Metaphysiker vom Dogmatismus, der bei allen Beweisen ohne jene doch immer blind ist, rechtfertigen, und der Kanon der Kritik für diese Art der Beurteilung ist in der allgemeinen Auflösung der Aufgabe enthalten: Wie ist eine synthetische Erkenntnis a priori möglich?“, Üb. e. Entdeck. 2. Abs. (V 3, 50 f.). „Kritische Philosophie ist diejenige, welche nicht mit den Versuchen, Systeme zu bauen oder zu stürzen, oder gar nur (wie der Moderatismus) ein Dach ohne Haus zum gelegentlichen Unterkommen auf Stützen zu stellen, sondern von der Untersuchung der Vermögen der menschlichen Vernunft (in welcher Absicht es auch sei) Eroberung zu machen anfängt und nicht so ins Blaue hinein vernünftelt, wenn von Philosophemen die Rede ist, die ihre Belege in keiner möglichen Erfahrung haben können“, Z. ew. Fried. 1. Abs. A. Von d. Vereinbarkeit (V 4, 32). Die Methode des kritischen Philosophierens besteht darin, „das Verfahren der Vernunft selbst zu untersuchen, das gesamte menschliche Erkenntnisvermögen zu zergliedern und zu prüfen, wie weit die Grenzen desselben wohl gehen mögen“, Log. Einl. IV (IV 35). Unter dem „kritischen Verfahren“ ist diejenige Methode des Philosophierens zu verstehen, „nach welcher man die Quellen seiner Behauptungen oder Einwürfe untersucht und die Gründe, worauf dieselben beruhen — eine Methode, welche Hoffnung gibt, zur Gewißheit zu gelangen“, ibid. Einl. X (IV 93).

Die Vernunft schreibt uns als praktischen Wesen Freiheit zu. Diese würde mit der Naturnotwendigkeit in Widerspruch kommen, wenn wir uns nicht 1. als Gegenstand der Sinne, 2. als ein Wesen, das nicht Gegenstand der Sinne ist, denken. Das nötigt zur „Kritik der Sinnlichkeit“. Ferner läuft die Moral durch den Empirismus und Prädeterminismus Gefahr, und auch das nötigt zur Kritik. „Aber selbst hier würde doch die Macht der moralischen Gesinnung die Spekulation überwiegen können. Aber dieselbe praktische Vernunft nötigt uns, jene Gesetze als göttliche Gebote anzunehmen, weil sie sonst ohne den gesetzlichen Effekt wären und der Naturlauf als Prinzip praktischer Gesetze, sofern sie auf eigene Glückseligkeit gingen, dem Naturlauf in Beziehung auf moralische gar nicht korrespondieren würde. Also muß ich mir einen Gott denken und ihn annehmen, aber ich kann sein Dasein nicht beweisen und ihn nicht begreifen.“ „Nun wird es interessant, die Bedingungen des uns möglichen Erkenntnisses der Dinge nicht zu Bedingungen der Möglichkeit der Sachen zu machen; denn tun wir dieses, so wird Freiheit aufgehoben und Unsterblichkeit, und wir können von Gott keine andere als widersprechende Begriffe bekommen. Dieses nötigt nun, die Möglichkeit, den Umfang und die Grenzen unseres spekulativen Erkenntnisvermögens genau zu bestimmen, damit sich nicht epikurische Philosophie des ganzen Vernunftfeldes bemächtige und Moral und Religion zugrunde richte oder wenigstens die Menschen nicht inkonsequent mache.“ Raum und Zeit würden, wenn sie nicht ideal wären, zu göttlichen Eigenschaften gemacht werden müssen. N 6317. „Ohne die zum Grunde gelegte Idealität des Raumes und der Zeit, mithin der Gegenstände als Erscheinungen, würden wir die Realität der Freiheit uns gar nicht praktisch denken können, weil sonst das Sollen immer empirisch bedingt sein würde“, Lose Bl. G 10. Vgl. Idealismus, Transzendentalphilosophie, Kritik.