Singen

Singen. Das Singen, von dessen Ursprung wir bereits anderswo gesprochen haben 1, hat ohne Zweifel die Erfindung und allmähliche Vervollkommnung so wohl der Dichtkunst als der Musik veranlasst. Anfänglich hatten diese beiden Künste keinen anderen Zweck als das Singen, wozu der Mensch in gewissen Umständen durch seine Empfindung eingeladen wird, zu vervollkommnen; beide arbeiteten eine Zeitlang bloß darauf dem kunstlosen nur aus der Fülle der Empfindung entstandenen Gesang, eine gute Form zu geben, jene durch schickliche Worte, diese durch zusammenhängende, den Ausdruck der Empfindung schildernde Töne. Ob nun gleich in der Folge beide Künste sich allmählich viel weiter ausgedehnt haben, so ist doch noch jetzt das Singen der Hauptgegenstand der Musik und einer der wichtigsten Gegenstände der Dichtkunst.2 Es scheint zwar, dass viele die sogenannte Vokalmusik nur als einen Nebenzweig dieser Kunst ansehen und man arbeitet an viel Orten zehnmal mehr für die Instrumentalmusik als für das Singen. Dieses beweißt aber nichts anders als dass hier, wie in anderen Dingen, das Vorurteil die Menschen verleitet die Bahn der Natur zu verlassen und Nebensachen zur Hauptsache zu machen.

Das Singen ist unstreitig das wichtigste und wesentlichste Werk der Musik, gegen welches alles übrige, was sie hervorbringt, eine Nebensach ist. Gewiss ist die Gabe zu singen ein wohltätiges Geschenk der Natur das vorzüglich verdiente durch Genie bearbeitet und zur Vollkommenheit gebracht zu werden. Es dient die vergnügtesten Empfindungen zu unterhalten und zu verstärken, Müh und Arbeit zu erleichtern und überhaupt jede Empfindung des Herzens auf die kräftigste und nachdrücklichste Weise zu äußern. Auch bloß der leichtere Gesang, der zum gesellschaftlichen Vergnügen ertönet, hat sehr schätzbare Wirkung; weil dadurch jedes gesellschaftliche Gefühl auf die angenehmste Weise unterhalten wird. Worte, die für sich nur einen schwachen Eindruck machen würden, können, wenn sie gesungen werden, zur Sprache des Herzens werden und eine ganze Versammlung in Rührung setzen. Da auch mehrere zugleich die nämlichen Worte singen können, so wird dadurch jeder in seinen Empfindungen durch die anderen bestärkt, woraus denn eine Fülle des Vergnügens entsteht, das durch kein anderes Mittel in demselben Grad zu erreichen wäre. Singen ist endlich die leichteste und wirksamste Arzenei gegen alle Bitterkeiten des Lebens. Eine betrübte Person kann durch eine sanfte Singstimme völlig wieder aufgerichtet werden. Dass das Singen eine weit größere Kraft habe, uns zu rühren als jede andere Veranstaltung der schönen Künste, ist unstreitig. Die ganze Kunst der Musik ist eine Nachahmung der Singkunst, denn diese hat zuerst Anleitung gegeben, Instrumente zu erfinden, auf denen man die Töne der Stimme nachzuahmen suchte. Hat man es nun auf den Instrumenten so weit gebracht, dass man durch diese bloßen Töne so viel Leidenschaftliches ausdrücken kann, wie vielmehr muss nicht durch das Singen ausgedrückt werden können, da es noch die Worte zu Hilfe nimmt und den Gegenstand nennt, der die leidenschaftlichen Töne verursacht? Ob nun gleich jeder Mensch singen kann, so singt doch einer vor dem anderen besser, nachdem die Stimme des einen vor dem anderen an Annehmlichkeit und Leichtigkeit einen Vorzug hat und nachdem sie mehr geübt ist und der Sänger einen bessern Vortrag hat. Daher ist aus dem Singen eine weitläufige Kunst geworden, die die Regeln eines guten Vortrages an die Hand gibt. Denn da das Hilfsmittel der Sprache die Gegenstände der Empfindung schildern kann, welches die Instrumente allein nicht tun können, so ist das Singen mit der Musik nicht allein verbunden worden, sondern hat dadurch die Veranlassung zu Erfindung von Kunstformen, wo das Singen die Hauptsache ist, gegeben, welche zum Unterschied der Instrumentalmusik die Vocalmusik genannt wird. Daher ein Sänger sowohl als ein Instrumentist dieselben Zeichen der Musik lernen und sich in denselben Regeln eines guten Vortrags üben muss; doch muss dieses nicht so weit gehen, dass er sich nach den Instrumenten bilde, sondern diese müssen sich vielmehr nach seiner Stimme bilden. Das vornehmste, wonach ein Sänger streben muss, ist ein guter Geschmack; diesen muss er sich gleich anfangs durch Anhörung guter Singstücken eigen zu machen suchen. Hat er erst einen guten Geschmack, denn kann er zu seiner Übung sich allerhand Schwierigkeiten aus Instrumentalstücken geläufig machen, damit er eine Fertigkeit erhalte, alles ohne Zwang vorzutragen; aber auch nur zu diesem einzigen Endzweck; denn aus diesen Schwierigkeiten sein Hauptgeschäft machen und damit nur Bewunderung erregen wollen, heißt die Stimme zu einem sehr unvollkommenen Instrument erniedrigen und den Hauptvorzug, den sie vor allen Instrumenten hat, auf das Herz zu wirken, gänzlich aus den Augen setzen. Jede Schwierigkeit, sie sei noch so groß, kann auf diesem oder jenem Instrument nachgemacht und besser nachgemacht werden; aber mit Ausdruck gesungene Worte kann kein Instrument nachspielen. Hier bleiben für den Sänger Schwierigkeiten von einer anderen Art übrig, wozu die bloße Fertigkeit der Stimme allein noch lange nicht genug ist; Schwierigkeiten, die so vielfältig sind, als es der Ausdruck ist. Jeder Ausdruck erfordert seinen eigenen Ton der Stimme und überhaupt seinen besonderen Vortrag. So verlangen zornige Worte einen trozigen Ton und einen abgestoßenen, ohne alle Manieren nachdrücklichen Vortrag; zärtliche Worte hingegen einen sanften, einschmeichelnden Ton und nach dem Grade der Zärtlichkeit, einen ziehenden und manierlichen Vortrag. Ein klagender unsicherer Ton, der zwischen dem Reinen und Unreinen schwebt, dringt bei rührenden Worten in die Seele und ist den Sängern, die bloße Fertigkeit der Kehle besitzen, selten oder gar nicht gegeben. So kann ein ausdrucksvoller Ton der Stimme einem Gesang, der in dem Munde eines anderen Sängers von wenigem Ausdruck sein würde, das höchste Leben geben, obgleich beide denselben Gesang vortragen würden. Der Sänger befleißige sich auf leicht zu fassende und der Stimme angemessene Manieren; denn der gute Geschmack verlangt Zierraten; er suche vornehmlich die verschiedenen Arten der Triller rund und deutlich zu machen und sie mit Geschmack und Überlegung in der Melodie anzubringen; kleine Auszierungen der Melodie gehören auch hierher, insofern sie von der Art sind, dass der Tonsetzer sie nicht hingeschrieben und sie der Willkür des Sängers überlassen hat; doch hüte er sich, überall mit Manieren zu prangen und darüber den Ausdruck des Ganzen zu vergessen; denn dadurch wird sein Vortrag jedem Zuhörer von Geschmack unausstehlich. Er mache es, wie der gute Baumeister, der die Menge und die Art der Zierraten nach dem Charakter des Ganzen anbringt, nämlich so, dass das Ganze dadurch nicht verstellt, sondern dadurch nur reizender wird. Eine Ariette von leichtem und fröhlichen Inhalt verträgt viele Manieren, ein pathetisches Singstück hingegen fast gar keine, u.s.w. Der manierliche Vortrag der Sänger hat in der Musik den ersten Grund zum verdorbenen Geschmack gelegt, so wie in der Gelehrsamkeit die manierliche Schreibart. Veränderungen der Melodie, nämlich wo ganze Sätze anders gesungen werden als sie vorgeschrieben sind, können nur dann gut sein, wenn der Sänger dadurch das Fehlerhafte des Ausdrucks in der Melodie ersetzt und es folglich besser versteht als der Tonsetzer. Da dieser Fall selten ist, zu geschweigen, dass der Sänger bei solchen Auszierungen die Harmonie in seiner Gewalt haben und selbst ein Tonsetzer sein muss, so kann es nicht fehlen, dass solche Variationen oft von dem übelsten Erfolg sind und etwas ganz anders sagen als der Tonsetzer gewollt hat. Diese Sucht zu variiren ist den Operncomponisten zu statten gekommen und hat die Passagen eingeführt, wo über bekannte Transpositionsharmonien eine nichtsbedeutende Folge von Tönen gelegt ist, die der Sänger nach Lust variiren und dadurch eine noch weniger bedeutende Geschicklichkeit zeigen kann, da es in der Tat eine leichte Sache ist, über eine bekannte Folge von Harmonien gleichgültige bloß das Ohr ergötzende Variationen in Menge zu machen. Dieser bunte und scheckigte Geschmack hat heut zu Tage in Italien, wo die Singkunst zu Hause gehört, so überhand genommen, dass zu befürchten ist, die Singkunst sowohl als auch die Instrumentalmusik, die jener Schritt vor Schritt folgt, werden auch bei uns bald in eine völlige Tändlei ausarten, wenn man nicht aufhören wird, die Castraten für die ersten Richter des wahren und guten Geschmacks zu erkennen und ihren Modenkram für ächte Schönheiten der Kunst zu halten.

 Man muss sich wundern, dass in den Büchern, die zur Singkunst Anleitung geben, wenig oder gar nichts sich auf den Ausdruck beziehendes gelehrt wird, da dieses doch hauptsächlich dasjenige ist, wodurch die Stimme sich vor allen Instrumenten am meisten auszeichnen kann. Man lernt den Sänger bloß die Noten, Manieren und Passagen etc. Tosi hat hin und wieder in seiner Anleitung zur Singkunst nützliche Anmerkungen über den Vortrag, wenn er Ausdruck haben soll, gemacht und jeder Sänger sollte sie auswendig wissen. Dass der Sänger nicht mitten in einem Wort Atem holen und dass er die Worte deutlich aussprechen müsse, versteht sich zwar von selbst, dennoch wird häufig hiewieder gefehlet. Dieses ist nirgends so unangenehm als in Rezitativen, wo, wenn man die Worte nicht versteht, man aus der ganzen Musik nichts machen kann. Da das Rezitativ bloß für die Singstimme gemacht ist und auf keinem Instrument gespielet werden kann, so ist der Vortrag desselben eine Hauptsache für den Sänger. Er muss die Gemütsbewegung und den eignen Ton eines jeden Affekts genau kennen und singend sprechen; jede Abänderung der Leidenschaft bis auf die feinsten Schattierungen in den Worten bemerken und seinen Vortrag danach einrichten; er muss die nachdrücklichsten Worte und die nachdrücklichste Silbe solcher Worte genau kennen und darauf den Nachdruck legen, aber über andere, die von keiner großen Bedeutung sind, wegeilen; jedes Komma und die übrigen Abteilungen der Rede muss er durch schickliche Senkung der Stimme weniger oder mehr fühlbar machen. Dieses gehört zur Deutlichkeit des Vortrags, aber es muss immer in einer Sprache geschehen, die der leidenschaftlichen Person, die er vorstellt, angemessen ist. Stärke und Schwäche, geschwindere und langsamere Bewegung, Takt und Pausen, alles hängt hier bloß von dem Sänger ab, der, wenn er sich nicht völlig in die Leidenschaft versetzt, die die Worte ausdrücken, statt einer rührenden Sprache, der kein Mensch wiederstehen kann, eine Misgeburt zur Welt bringt und seinen Zuhörern Ekel und Langeweile macht. Jede Arie kann auch von einem mittelmäßigen Sänger gut vorgetragen werden; aber das Rezitativ ist nur das Werk eines vollkommenen Sängers, der jede Leidenschaft kennt und jeden Ton derselben in seiner Gewalt hat.

 Es ist nicht zu leugnen, dass eine schöne Stimme viel wieder gut macht, was am Vortrag fehlt. Dem kunstgelehrten Sänger gilt diese Entschuldigung nichts; aber dem Liebhaber und vornehmlich dem Frauenzimmer, denen die Natur vorzüglich vor den Männern eine schöne und dauernde Stimme gegeben hat, sollte diese Wahrheit eine Anreizung sein, sich im Singen zu üben und ihrem Geschlechte dadurch eine der größten Zierden zu geben. Die einsamen und stillen Verrichtungen, die das Frauenzimmer hat, sind ihnen zum Singen so bequem, dass man glauben sollte, der Schöpfer hätte ihnen darum eine so schöne Stimme gegeben, weil sie die Bequemlichkeit haben, sie zu üben und zu nutzen. Wie angenehm kann sich ein Frauenzimmer einer ganzen Gesellschaft durch ein einziges Lied machen, das sie mit Anstand und einer mäßigen Geschicklichkeit singt? Wie leicht vergisst man beim schönen Gesang, dass die Sängerin nicht schön ist und wie leicht kann sie dadurch sich eine ganze Gesellschaft unterwürfig machen? Ein Lied von der Tugend, von den Glückseligkeiten des häuslichen Lebens, von der Freude, dir aus reinen Quellen entspringt, u. d. gl. aus dem Munde eines tugendhaften Frauenzimmers würde auf manchen Menschen mehr wirken als die gutgemeintesten Warnungen, Vermahnungen und Lehren.

Das Singen hat auch noch den Nutzen, dass man Worte, die man singt, weit eher behält als die man bloß ließt; denn durch dem Singen dringen die Worte desto tiefer ins Herz: daher die Alten alle ihre Lehren und Tugendsprüche in Verse brachten und sie sangen. Überhaupt war bei den Alten das Singen in großem Ansehen; ihre größten Festtäge wurden mit Singen zugebracht.

 

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1 S. Gesang.

2 S. Lied.

 


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