Sophokles

Sophokles. Ein bekannter griechischer Trauerspieldichter, von welchem sieben Tragödien bis auf unsere Zeiten ganz erhalten worden. Dem Alter nach fällt er zwischen den Äschylus und den Euripides, den er noch überlebt haben soll. Die historischen Nachrichten von ihm lassen sich kurz zusammen ziehen. Er war ein geborener Athener von geringer Herkunft. Von den besonderen Veranlassungen, die ihn zum Trauerspieldichter gemacht haben, wissen wir nichts. Die Anzahl aller von ihm verfertigten Tragödien soll sich auf 125 belaufen haben, und vier und zwanzigmale soll er damit den Preis oder Sieg davon getragen haben. Von allen seinen Stücken sollen die Antigone und die Elektra, die wir beide noch haben, seinen Mitbürgern am meisten gefallen haben. Zur Belohnung für die erstere soll er von dem Volke die Präfektur von Samos bekommen haben. Vermutlich geschah es auch mehr Ehrenhalber als wegen seiner Geschicklichkeit in Staatsgeschäften, dass er dem Perikles zum Amtsgenossen in der höchsten Staatsbedienung ist gesetzt worden. Er soll in einem Alter von 95 Jahren vor Freude über einen unverhoften Sieg, den er mit einer Tragödie erhalten hat, gestorben sein.

 Man sagt von dem Bildhauer Polyklet, er habe eine Statue von so auserlesenen Verhältnissen und so großer Schönheit gemacht, dass sie den anderen Künstlern zum Muster gedient und deswegen die Regel genannt worden. Fast jede der sieben Tragödien des Sophokles, die wir noch haben, verdiente den Namen der Regel dieser Dichtungsart. Wenigstens dünkt uns, wenn das Ideal einer ganz vollkommenen Tragödie zu entwerfen wäre, dass man es nicht besser entwerfen könnte als wenn man die Stücke dieses Dichters zum Muster dazu nähme: wiewohl wir damit gar nicht behaupten wollen, dass keine Tragödie gut sei als die nach diesem Muster gemacht ist.

 Dem Plan und der Anordnung nach, sind diese Stücke vollkommen. Jedes stellt uns eine Handlung vor Augen, die von Anfang bis zum Ende in unserer Gegenwart so vorgeht, dass alles den höchsten Grad der Wahrheit, den natürlichsten und ungezwungensten Zusammenhang hat; so dass wir ohne Mühe mit der größten Klarheit den ganzen Zusammenhang der Sachen fassen und wie jedes geschieht, einsehen. Die Handlung selbst hat, wenn wir uns als Athener betrachten, allemal etwas sehr merkwürdiges und intereßirt ohne Unterbrechung vom Anfange bis zum Ende, so dass es uns sehr leid tun würde, wenn wir nur einen Augenblick gehindert würden, das, was geschieht, zu sehen oder zu hören.

  Seine Personen sind eben so interessant als die Handlungen. Jede hat ihren sehr wolbestimmten eigenen Charakter, dem alles, was sie spricht und tut, vollkommen angemessen ist. Alles, was wir von ihnen hören, und, was wir sie verrichten sehen, hat das Gepräg der Natur, wie sie sich in den Umständen und nach dem Charakter, wirklich zeigt. Sie handeln und sprechen nicht mit der ganz leidenschaftlichen Energie einer noch rohen Natur, wie die Personen des Äschylus: sie setzen nicht in Erstaunen und erschüttern nicht; aber durchaus fühlt man sich mit von tragischen Ernst ergriffen. Überall ist das Sittliche mit dem Leidenschaftlichen verbunden und beides hat einen Grad der Wichtigkeit, der uns durchaus gleich stark denken und empfinden lässt. Aber weder in den Gedanken, noch in den Gesinnungen, noch in den Leidenschaften, stößt uns etwas auf, das uns zerstreuet oder auf Nebensachen oder auf den Dichter führt; weil nichts, weder zur Unzeit geschieht, noch übertrieben, noch sonst unangemessen, unrichtig oder unschicklich ist.

 Dieser Dichter steht in allen Absichten gradein der Mitte zwischen der rohen Hoheit und Heftigkeit des Äschylus und der höchst rührenden, zärtlichen Empfindsamkeit, und wortreichen, sittlichen Weißheit des Euripides. Man ist deswegen ziemlich durchgehends darin einig, ihm die erste Stelle unter den tragischen Dichtern zu geben. Doch finden wir es gar nicht anstößig, dass Quintilian es unentschieden lässt, ob er dem Euripides vorzuziehen sei.1 So viel ist gewiss, dass er das Herz nicht so tief verwundet als sein jüngerer Nacheiferer; aber er hat auch keinen einzigen von den Fehlern des Euripides.

 Einzelne kleine Flecken kleben allerdings seinen Stücken noch hier und da an, die mit der größten Leichtigkeit abzuwischen wären. Wir haben in einem anderen Artikel ein Beispiel des Spitzfindigen2 aus ihm angeführt und es scheint so gar, dass ihm in einem der besten Stücke ein Wortespiel entfahren sei; wenigstens kommt mir folgendes so vor. Antigone und Ißmene sehen die von dem Creon verweigerte Beerdigung des Leichnams ihres Bruders mit sehr ungleichen Augen an. Da die erstere sich der Sache mit großer Wärme der Empfindung annimmt, sagt ihr Ißmene:

du zeigest bei einer so kalten Sache, viel Hize.

Wenigstens scheint es, dass hier ein schicklicheres Wort hätte gewählt werden sollen, um zu sagen, die Sache sei von keiner großen Wichtigkeit. Allein, selbst solche kleine Flecken sind höchst selten und werden an einem Dichter der fast bis in Kleinigkeiten vollkommen ist, kaum bemerkt.

 

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1 Uter (Sophocles an Euripides) sit poeta melior inter plurimos quæritur. Idque ego sane, quoniam ad præsentem materiam nihil pertinet, injudicatum relinquo. Inst. L. X. c. 1, 67.

2 S. Spizfindigkeit.

 


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