Sitten. (Schöne Künste) Die Bedeutung des Wortes ist etwas unbestimmt. Bisweilen begreift man unter dieser Benennung gar alles, was zum Charakter, der Gemütsart und Handlungsweise eines Menschen oder ganzer Völker gehört, insofern sie sich von anderen unterscheiden. In diesem Sinne scheinen Aristoteles in seiner Poetik und Wolf in seiner allgemeinen praktischen Philosophie1 die Wörter genommen zu haben, für die wir das Wort Sitten gebrauchen. Bisweilen aber scheint man dadurch bloß dasjenige zu verstehen, was dem Menschen in seinem Tun und Lassen zufälliger Weise zur Gewohnheit worden, insofern es von dem, was andere in ähnlichen Fällen äußern, verschieden ist, so dass Menschen, die im Grund einerlei Charakter haben, denselben durch verschiedene Sitten zeigen.
Wir verstehen hier durch Sitten gar alles zusammengenommen, was dem Menschen in Absicht auf sein Tun und Lassen gewöhnlich worden. Die Sitten beziehen sich nicht auf den denkenden, sondern auf den handelnden Menschen. Richtigkeit oder Unrichtigkeit, Gründlichkeit, Scharfsinn u. d. gl. bezeichnen den Charakter des Menschen insofern er denkt und dieses rechnet man nicht zu den Sitten. Hingegen alles was er tut, insofern es gut oder bös, schicklich oder unschicklich, rühmlich oder ververwerflich ist, wird sittlich genannt. Also wird man durch die Sitten zum guten oder schlechten, zum angenehmen oder unangenehmen Menschen.
Für den sittlichen Menschen arbeiten die schönen Künste, da die Wissenschaften für den denkenden Menschen arbeiten. Diese haben den Unterricht, jene die Bildung der Sitten zum Zweck. Darum ist eine lebhafte Schilderung der Sitten eine vorzügliche und unmittelbar nützliche Arbeit des Künstlers. Von allen Werken der Kunst aber schicken sich die Epopöe und das Drama vorzüglich zu solchen Schilderungen; weil sie nicht bloß einzelne Züge des sittlichen Charakters, sondern den ganzen Charakter selbst schildern können. Von dieser Schilderung ist hier eigentlich die Rede. Wir haben aber sehr viel von dem, was hierher gehört, bereits in dem Artikel Charakter, näher betrachtet.
Jeder Dichter, der sich an die Epopöe oder an das Drama waget, muss vornehmlich eine große Kenntnis der Sitten haben; weil die Schilderung derselben in diesen Dichtungsarten den Hauptstoff ausmacht.
Dieses muss man allemal bei dem Dichter als etwas außer der Kunst liegendes voraussetzen. Aber eigentlich zur Kunst gehört es die Sitten, deren Kenntnis man besitzt, zu schildern und sie auf eine gute Art zu behandeln.
Zur Schilderung der Sitten gehören die Handlungen, die man den Personen zuschreibt und die Reden, die man ihnen in den Mund legt. Von den Reden haben wir in einem besonderen Artikel gesprochen.<S>2</S> Die Schilderung der Handlungen ist eine der schwersten Arbeiten der schönen Künste. Bei den Handlungen äußern sich so sehr viel kleine äußerliche und innere Umstände, wodurch sie genau bestimmt und individuel werden, dass es eine höchst schwere Sache ist, sie vollkommen auszudrücken. Es gehört ausnehmende Scharfsinnigkeit dazu, davon gerade das, was die Handlung am genauesten bestimmt, zu wählen und einen Ausdruck dazu zu finden, der auch das, was sich nicht sagen lässt oder zu weitschweifend sein würde, den Leser empfinden lässt. Auch hierin ist Homer unstreitig das größte Muster und wer seine Kräfte hierüber versuchen will, darf nur seine Beschreibungen gegen die halten, die in der Ilias und Odyssee so häufig vorkommen.
In Ansehung der Behandlung der Sitten fordert Aristoteles, dass sie gut, geziehmend, wahrscheinlich und sich selbst durchaus gleich sein sollen. Seine Ausleger haben sehr verschiedene Meinungen über das, was der Philosoph durch gute Sitten verstehe. Eine sehr vernünftige Auslegung der Regeln, die Aristoteles über die Sitten vorschreibt, hat unser Breitinger gegeben, auf den ich den Leser verweise.3
Wir finden, dass die Regeln von Behandlung der Sitten überhaupt, sich auf folgende bringen lassen. Erstlich müssen sie wahrscheinlich sein; weil wir gar bald die Aufmerksamkeit dem entziehen, was uns nicht wahr oder wirklich dünkt. Einen Römer aus den alten Zeiten der Republick so manierlich handeln zu lassen als einen heutigen französischen Hofmann; oder einen König so bedächtlich und so blöde handeln zu lassen als einen spizfindigen Menschen, der nie unter Menschen gelebt hat, würde uns gleich abschrecken, weiter auf das was geschieht, Achtung zu geben. Zweitens müssen die Sitten weder im Guten noch im Bösen, weder im Einfachen, noch Verfeinerten übertrieben sein. Sind sie abscheulich, so wird das Werk anstößig und man findet sich gezwungen die Augen davon wegzuwenden. Sind sie übermenschlich vollkommen, so werden sie phantastisch. Dieses gilt vornehmlich von Sitten, die man zur Nachahmung als Muster abbildet. Und in dieser Absicht können sie auch schlecht werden, wenn man das Feine darin übertreibt, weil sie dann gar leicht in das Gezierte, Weichliche oder Spizfindige ausarten. Es gehört ungemein viel Verstand und Kenntnis der Welt dazu, in den Sitten nichts zu übertreiben.
Drittens müssen sie in Ansehung der Zeit, des Orts und der Personen, für die ein Werk vornehmlich bestimmt ist, nichts unschickliches und anstößiges haben. Auf unserer Schaubühne würden verschiedene Sitten, die Plautus auf seiner Bühne geschildert hat, sehr unschicklich sein. Das, woran gesetzte Männer sich sehr unschädlich ergötzen, kann für die Jugend sehr anstößig sein. Die tragische Bühne erfordert andere Sitten als die komische u.s.w.
Viertens müssen sie bei einer Person, bei Menschen von einerlei Stand, von einerlei Volk, mit dem allgemeinen Gepräg ihres Charakters übereinstimmend sein. Aber in den Sitten verschiedener Menschen, Stände und Völker muss auch Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit herrschen. Man erkennt an jedem Helden des Homers die Sitten der damaligen Griechen, aber keiner gleicht dem anderen und die Ilias enthält bei der allgemeinen Ähnlichkeit der Sitten eine bewunderungswürdige Mannigfaltigkeit derselben, in den verschiedenen Personen.
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1 S. Philos. pract. Universal. T. II. Kap. de conjectan dis hominum moribus.
2 S. Reden.
3 Breit kritische Dichtkunst 1 Th 13. Abschnitt.