Nutzbarkeit der Wissenschaft


Die Wissenschaft ist in der Tat ein sehr nützliches und wichtiges Stück. Diejenigen, welche sie verachten, geben ihre Dummheit genugsam zu erkennen. Dennoch aber schätze ich sie nicht so übermäßig hoch, als einige tun, unter welche der Philosoph (a) Herill gehört, der das höchste Gut in ihr suchte, und behauptete, sie könnte uns weise und vergnügt machen. Ich glaube dieses eben so wenig, als das, was andere gesagt haben, dass die Wissenschaft die Mutter aller Tugenden sei, und dass alle Laster von der Unwissenheit herkämen. Wenn dieses wahr ist: so braucht es einer weitläuftigen Erklärung. Mein Haus ist seit langer Zeit gelehrten Leuten offen, und deswegen im Rufe gewesen. Denn mein Vater, der dasselbe fünfzig Jahre und drüber regiert hat, und durch den neuen Eifer angefeuert wurde, mit welchem sich der König Franciscus I. der Wissenschaften annahm, und sie in Ansehen brachte, suchte gelehrter Leute Umgang sehr emsig und mit großen Kosten. Er nahm sie als heilige Leute, die eine besondere Eingebung von der göttlichen Weisheit hätten, zu sich, sammelte ihre Urteile und Reden, wie Göttersprüche, und dieses desto ehrerbietiger und eifriger, je weniger er davon urteilen konnte: Denn er hatte, so wenig als seine Vorfahren einige Kenntnis von den Wissenschaften. Ich meines Teils liebe sie zwar, ich bete sie aber nicht an. Unter andern beschenkte ihn einmal Peter Bunel, ein Mann, der zu seiner Zeit wegen seiner Gelehrsamkeit in großem Rufe stand, als er sich nebst andern seines gleichen, einige Tage bei meinem Vater zu Montagne aufgehalten hatte, bei seinem Abschiede mit einem Buche, welches den Titel hat: Theologia naturalis; sive, Liber creaturarum Magistri Raimondi de Sebonde. Weil die Italienische und Spanische Sprache meinem Vater geläufig waren, und dieses Buch in einem gebrochenen Spanischen mit Lateinischen Endungen geschrieben ist: so hoffte er, dass sich mein Vater dasselbe mit ganz geringer Beihilfe zu Nutzen machen könnte, und empfahl es ihm als ein bei den damaligen Zeitläuften, sehr nützliches und nötiges Buch. Damals fingen eben Luthers Neuerungen in Ansehen zu kommen, und an vielen Orten unsern alten Glauben wankend zu machen, an. Er hatte also dabei eine sehr gute Absicht, weil er aus vernünftigen Gründen wohl voraus sah, dass dieses Übel mit der Zeit leichtlich in eine abscheuliche Gottesläugnung ausschlagen könnte. Denn der Pöbel ist nicht fähig, die Sachen nach ihrer wahren Beschaffenheit zu beurteilen; sondern läßt sich durch das Glück und den äußerlichen Schein dahinreissen. Wenn man ihm also nur einmal die Freiheit verstattet, diejenigen Meinungen, vor welche er sonst die größte Ehrfurcht gehabt hat, dergleichen diejenigen sind, auf welchen seine Seligkeit beruht, zu verachten und zu tadeln; und wenn man nur einmal einige von seinen Glaubensartikeln zweifelhaft und streitig gemacht hat: so sieht er gar bald alle übrige Stücke seines Glaubens für eben so ungewiß an; weil sie eben so wenig Gewicht, und eben so wenig Grund, bei ihm haben, als diejenigen, die man wankend gemacht hat. Er wirft alle Eindrücke, welche das Ansehen der Gesetze, oder die Ehrerbietung für die alten Gebräuche bei ihm gemacht hatten, als ein tyrannisches Joch von sich:

 

Nam cupide conculcatur nimis

ante metutum. (b)

 

Er geht alsdenn gleich weiter, und will gar nichts mehr annehmen, wenn er nicht seinen Bescheid und seine Stimme dazu gegeben hat. Mein Vater fand gedachtes Buch etliche Tage vor seinem Tode ungefähr unter einem Haufen anderer bei Seite gelegten Papiere, und befahl mir ihm dasselbe ins Französische zu übersetzen. Schriftsteller wie dieser, bei denen man, nichts als den Innhalt auszudrucken hat, sind sehr gut zu übersetzen: hingegen ist es ein sehr gefährliches Unternehmen, wenn sie sich der Annehmlichkeit und Zierlichkeit der Sprache sehr befleißigt haben, besonders, wenn man sie in eine schwächere Sprache bringen soll. Diese Beschäftigung war mir etwas ungewohntes und neues: allein, zu gutem Glücke hatte ich damals nichts zu tun, und machte es, weil ich dem besten Vater, der jemals gewesen ist, nichts abschlagen konnte; so gut es mir möglich war. Er schöpfte hierüber ein besonderes Vergnügen, und befahl, dass man es drucken lassen sollte; welches auch nach seinem Tode vollzogen wurde (c). Ich fand die Gedanken dieses Schriftstellers schön, in dem Werke selbst einen guten Zusammenhang, und das Unternehmen voll Gottesfurcht. Da sich viele Leute, und besonders das Frauenzimmer, dem wir am meisten zu dienen verbunden sind, mit dem Lesen dieses Buches beschäftigen: so habe ich öfters Gelegenheit gehabt, ihnen zu Hilfe zu kommen, und ihr Buch wider zwei Haupteinwürfe, die man dagegen macht, zu verteidigen. Der Endzweck desselben ist kühn und herzhaft. Der Verfasser untersteht sich alle Artikel der christlichen Religion durch menschliche und natürliche Gründe wider die Atheisten zu bestätigen und fest zu setzen. Er tut dieses auch die Wahrheit zu sagen, so stattlich und so glücklich, dass es, meines Erachtens in diesem Stücke nicht besser gemacht werden kann: ja, ich glaube, dass es ihm niemand gleich getan hat (d). Dieses Werk kam mir für einen Verfasser, dessen Name so wenig bekannt ist, und von dem wir bloß so viel wissen, dass er ein Spanier gewesen, und ungefähr vor zwei hundert Jahren zu Toulouse die Arzneikunst getrieben hat, allzu schön und gelehrt für. Ich erkundigte mich daher einmal bei dem Adrian Turnebus, der alles wußte, was es mit diesem Buche für eine Beschaffenheit hätte. Er antwortete mir, seiner Meinung nach wäre es eine Quintessenz aus dem H. Thomas von Aquino. Denn, in der Tat dieser mit einer so unendlichen Gelehrsamkeit, und wundernswürdigen Tiefsinnigkeit begabte Geist war allein zu dergleichen Gedanken fähig. So viel ist gewiß, dass der Verfasser und Erfinder, er sei wer er wolle, (indessen kann man dem Sebonde dieses Werk ohne eine wichtigere Ursache nicht mit Grunde absprechen), ein überaus geschickter Mann gewesen ist, und viele treffliche Eigenschaften besessen hat.

 

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(a) Diog. Laert. L. VII. Segm. 165.

(b) Denn, man tritt dasjenige mit Lust unter die Füsse, was man vorher am meisten gefürchtet hat. Lucret. L. V. v. 1139.

(c) In der ersten Ausgabe der Versuche, die zu Bourdeaux im Jahre 1580 erschienen, und in der von 1588 in 4to sagt Montaigne, wenn er auf diese erste Auflagezu reden kommt, sie ist sehr nachlässig gemacht, wie man aus einer unendlichen Menge Druckfehler sehen kann, welche der Buchdrucker, der ganz allein die Aufsicht dabei gehabt, darinnen gelassen hat. Diese Übersetzung ist hernach, unstreitig richtiger, wieder abgedruckt worden, weil Montaigne gedachte Klagen hernach weggelassen hat. Sie führt in der zu Paris im Jahre 1611 herausgekommenen Auflage folgenden Titel: La Theologie Naturelle de Raymond Sebon: Traduite en François par Messire Michel, Seigneur de Montaigne, Chevalier de l'Ordre du Roy & Gentilhomme ordinaire de sa Chambre. Derniere Edition reveüe & corrigée. Sie ist in der Tat sehr richtig. Es herrscht in der Übersetzung so viel Kernigkeit, Stärke, und natürliche Lebhaftigkeit, dass sie vollkommen einem Originale gleicht. Montaigne hat nichts von dem seinigen hinzu getan, ausser einer kleinen Zuschrift an seinen Vater, worinnen er meldet, dass er dieses Werk auf seinen Befehl unternommen habe. Man wird sie zu Ende des fünften Buches dieser Übersetzung finden.

(d) Man hatte damals des Grotius Buch, von der Wahrheit der christlichen Religion, noch nicht gesehen, wo dieser große Mann ausdrücklich sagt, dass diese Materie von dem Raymond Sebonde sehr scharfsinnig philosophica subtilitate abgehandelt worden sei.


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