Die vollkommensten Seelen werden durch verschiedene Zufälle in Unordnung gebracht


Allein es ist eine alte und lustige Frage: ob die Seele des Weisen von der Kraft des Weines überwunden werden kann,

 

Si munitae adhibet vim sapientiae. (a)

 

Zu was für Eitelkeit verleitet uns nicht die gute Meinung, die wir von uns haben? Die allerordentlichste und vollkommenste Seele von der Welt hat nur allzuviel zu tun, wenn sie sich aufrecht erhalten und in Acht nehmen will, dass sie nicht aus eigener Schwachheit niederfällt. Unter tausenden ist nicht eine, die nur einen Augenblick ihres Lebens gerade und feste steht; und es ist ungewiß, ob sie es wegen ihrer natürlichen Beschaffenheit jemals so weit bringen kann. Die Beständigkeit ist ihre größte Vollkommenheit: ich meine, wenn sie von aussen keinen Anstoß hat, den sie gleichwohl von tausend Zufällen zu erwarten hat. Lukrez, dieser große Poet, mag noch so schön philosophieren, und sich noch so sehr stemmen: deswegen wird er doch durch einen Liebestrunk unsinnig gemacht. Glaubt man denn, dass ein Schlagfluß den Sokrates nicht so gut, als einen Lastträger betäuben kann? Einige haben durch eine heftige Krankheit so gar ihren Namen vergessen; und andere hat eine geringe Wunde des Verstandes beraubt. Es mag einer so weise sein, als er will, so ist er doch noch ein Mensch. Was kann hinfälliger, elender und nichtiger sein? Die Weisheit hebt unsere natürliche Umstände nicht auf:

 

Sudores itaque et pallorem exsistere toto

Corpore, et infringi linguam, vocemque aboriri,

Caligare oculos, sonare aures, succidere artus,

Denique concidere ex animi terrore videmus. (b)

 

Der Weise blinkt eben so wohl mit den Augen, wenn ihm ein Streich droht. Er wird so gut, als ein Kind mit Schauer befallen, wenn er sich an der Spitze einer steilen Höhe befindet. Die Natur hat sich diese kleine Merkmale, die weder Vernunft noch Stoische Tugend überwinden können, als Zeichen ihrer Macht über uns vorbehalten wollen, uns unsere Sterblichkeit und Torheit zu lehren. Er erblasst für Furcht, errötet aus Scham, und seufzt in der Kolik, wo nicht mit einer verzweifelnden und lauten Stimme, doch wenigstens mit einem gebrochenen und heisern Tone.

 

Humani a se nihil alienum putet. (c)

 

Die Poeten, welche nach eigenem Gefallen dichten dürfen, was sie wollen, unterstehen sich nicht einmal ihre Helden der Tränen zu entledigen:

 

Sic fatur lacrymans, classique immittit habenas. (d)

 

Es ist genug für den Weisen, wenn er seine Neigungen im Zaume hält und mäßigt: denn sie völlig zu beherrschen steht nicht in seinen Kräften. Unser Plutarch selber, dieser so vollkommene und vortreffliche Richter der menschlichen Handlungen, gerät, wenn er den Brutus und Torquatos ihre eigene Kinder umbringen sieht, (e) in Zweifel, ob die Tugend so weit gehen könne; und ob diese Leute nicht vielmehr durch eine andere Leidenschaft angetrieben worden. Alle Handlungen, welche die ordentlichen Gränzen überschreiten, sind einer üblen Auslegung unterworfen: weil sich unser Geschmack so wenig zu dem, was über ihm ist, als zu dem was unter ihm ist, schickt.

Doch wir wollen diese Sekte fahren lassen, (f) die sich besonders eine gewisse Kühnheit angelegen sein lasst. Allein wenn wir selbst unter der andern Sekte, die man für die weichlichste gehalten hat (g), die grossprecherischen Worte des Metrodorus hören (h): Occupaui te, Fortuna, atque cepi: omnesque aditus tuos interclusi, vt ad me adspirare non posses; wenn Anaxarch, als er auf Nikokreons, des Tyrannen in Zypern Befehl, in einem steinernen Mörsel mit eisernen Keulen zu todte geschmissen wird, und doch beständig sagt (i): Stoßt immer zu, schlagt immer entzwei: ihr zerstoßt den Anaxarch nicht, sondern seine Schale; wenn wir unsere Märtyrer den Tyrannen mitten aus dem Feuer zurufen hören (j): Es ist genug auf dieser Seite gebraten, haue sie ab, friß sie, sie ist gar, fang an der andern an, Wenn wir im Joseph (k) das Kind, welches Antiochus mit Zangen zerreissen, und mit Pfriemen durchbohren läßt, ihm noch Troz bieten, und mit einer standhaften und gesetzten Stimme schreien hören: »Tyrann! du bemühst dich umsonst, ich befinde mich noch immer wohl. Wo ist der Schmerz, wo sind die Martern, womit du mir drohst? Kannst du nichts als dies? Meine Beständigkeit macht dir größere Pein, als ich von deiner Grausamkeit empfinde: Feige Memme, du gibst dich, und ich werde stärker. Mache, dass ich mich beklage; mache, dass ich mich beugen lasse, mache, dass ich mich gebe, wenn du kannst. Sprich deinen Trabanten und deinen Henkersknechten Mut zu: Siehe nur der Mut entfällt ihnen, sie können nicht mehr, treibe sie an, mache sie hitzig.« Hier muß man gewißlich bekennen, dass sich in diesen Seelen eine gewisse Veränderung und eine gewisse Wut zeigt, so heilig sie auch ist. Wenn wir auf die Einfälle der Stoiker kommen: Ich will lieber rasend als wollüstig sein, wie Antisthenes sagte: (l) (maneiên mallon ê êstheiên; wenn Sextius spricht, er wollte lieber vom Schmerz als von der Wollust gefesselt sein: Wenn Epikur sich unterfangt, sich von dem Zipperlein liebkosen zu lassen, und Ruhe und Gesundheit ausschlägt, weil er mit frischem Herzen dem Ungemach Trotz bietet; wenn er geringere Schmerzen verachtet, und sich nicht die Mühe nimmt mit ihnen zu kämpfen und zu streiten, sondern stärkere, empfindlichere, und die seiner würdig sind, auffordert und verlangt:

 

Spumantemque dari pecora inter inertia votis

Optat aprum, aut fuluum descendere monte leonem: (m)

 

Wer urteilt hier nicht, dass dieses von einer jähen Hitze einer aus ihrer ordentlichen Lage gebrachten Herzhaftigkeit herrühre? Unsere Seele kann sich von ihrem ordentlichen Sitze nicht so weit erheben, sie muß denselben verlassen, sich in die Höhe schwingen, den Zügel in das Maul nehmen, und also ihren Mann so weit wegführen und fortreissen, dass er sich hernach selbst über seine Tat wundert. Eben so treibt im Kriege die Hitze des Treffens mutige Soldaten öfters an, so gefährliche Gänge zu wagen, dass sie, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, die ersten sind, die vor Erstaunen darüber erzittern. Eben so geraten die Poeten oft über ihre eigenen Werke in Verwunderung, und haben die Spur vergessen, auf welcher sie eine so schöne Bahn zurückgelegt haben: welches man auch bei ihnen Hitze und Begeisterung nennt. Und eben so wie Plato sagt, (n) dass ein gesetzter Mann vergeblich vor der Türe der Poesie anklopfe: so spricht auch Aristoteles, keine ausnehmende Seele sei von aller Vermischung mit Narrheit frei. Er hat auch recht, wenn er eine jede übertriebene Handlung, die unsere eigene Vernunft und Verstand übersteigt, so lobenswürdig sie auch sein mag, eine Narrheit nennt, weil die Weisheit eine ordentliche Führung unserer Seele ist, und dieselbe nach einem gewissen Maaße und Verhältnisse regiert, und sich selbst davon Rechenschaft gibt. Plato schliesst daher (o), weil die Gabe zu weissagen über unser Vermögen ist, wir müßten außer uns sein, wenn wir sie haben: unsere Klugheit müßte entweder durch den Schlaf, oder durch eine Krankheit verdunkelt sein, oder sie müßte durch eine himmlische Entzückung außer sich gesetzt werden.

 

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(a) Ob der Wein eine wohl verwahrte Weisheit überwältigen kann. Horat. L. III. Od. 28. v. 4. Dies ist hier mehr eine Parodie, als eine Zitation.

(b) Wir sehen auch, dass (wenn der Geist von Furcht eingenommen ist) die stammlende Zunge kein Wort vorbringen kann, dass die Augen finster werden, die Ohren klingen, die Glieder schwach werden, und die ganze Maschine verdorben ist. Lucret. L. III. v. 155. u.f.

(c) Er darf also nicht glauben, dass er vor einem menschlichen Zufalle sicher sei. Terent. Heautontim, Act. I. Sc. 1. v. 25. Dies ist nicht der wahre Verstand der Worte des Terentius. Montaigne bedient sich derselbigen nur um seinen Gedanken auszudrücken, nach einer bei ihm gewöhnlichen Freiheit, wie ich schon angemerkt habe, und wie diejenigen sehen werden, welche die Stellen, die er anführt, in ihren Quellen nachschlagen werden: welches man tun muß, wenn man sehen will, wie schön er sie alle Augenblicke anwendet.

(d) Virgil. Aneneid Lib. VI. v. 1. So rief er eilend aus und ging drauf unter Segel.

(e) Im Leben des Publikola.

(f) Die Stoische, deren Stifter Zeno war.

(g) Die Epikurische.

(h) Ich bin dir zuvor gekommen, ich habe dich bezwungen, o Glück! Ich habe dir alle Zugänge verschlossen, dass du nicht an mich kommen kannst. Cic. Tusc. Quaest. L. I. c. 9.

(i) Diogenes Laertius im Leben des Anaxarchus L. IX. Segm. 58, 59.

(j) Dieses läßt Prudentius dem H. Laurentius sagen, in seinem Buche peri stephanôn, von den Cronen Hymn. Il.v. 401. u. f.

(k) de Maccab. C. 8. wo man einen ähnlichen Verstand, aber nicht die nämlichen Worte findet.

(l) Aul. Gellius L. IX. c. 5, et Diogenes Laertius in vita Antisthenis L VI.Segm. 3.  

(m) Virgil Aeneid. Lib. IV. v. 158 sq.

.... bei diesen trägen Tieren

Wünscht er ein schäumendes und wildes Schwein zu spüren

Und eines Löwen Fürth am Berge nach zu gehn.

(n) Siue Piatoni credimus, frustra Poeticas fores compos sui pepulit: siue Aristoteli, nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit. Senec. de tranquillitate animi, sub finem.

(o) Platons Worte lauten so: Ikanon de sêmein ôs mantikên aphrosynê Theos anthrôpinê dedôken. oudeis gar ennous ephaptetai mantikês entheou kai alêthous all' ê kath hypnon tên tês phronêseos pednamin, ê dia noson, ê tina enthousiasmon parallaxas. In Timaeo. p. 543. G. 


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