Die Tugend will einzig und allein ihretwegen gesucht sein


Die Tugend will bloß ihretwegen gesucht sein, und reißt uns ihre Maske, wenn wir sie zuweilen bei einer andern Gelegenheit entlehnen, alsobald wieder von dem Gesicht. Sie ist eine lebhafte und feste Farbe, wenn sie einmal recht in unsere Seele eingedrungen ist, und die niemals wieder ausgeht. Daher muß man, wenn man von einem Menschen urteilen will, seiner Lebensart lange und sorgfältig nach spüren. Wenn die Beständigkeit nicht bloß auf ihrem eigenen Grunde beruht, (a) Cui viuendi via considerata atque prouisa est; wenn ihn die Mannigfaltigkeit der Vorfälle einen andern Schritt zu gehen veranläßt, (ich meine einen andern Weg; denn die Schritte können geschwinde oder langsam sein) so lasse man ihn laufen, er geht dem Winde nach, wie die Überschrift unseres Talebot sagt.

Es ist kein Wunder, sagt ein Alter (b), daß der Zufall so viel über uns vermag, weil wir nur auf ein Geratewohl leben. Wer sein Leben nicht überhaupt nach einem gewissen Endzwecke eingerichtet hat, (c) kann unmöglich die einzelne Handlungen gehörig ordnen. Unmöglich kann einer die Teile in Ordnung bringen, wenn er nicht einen Entwurf zu dem Ganzen gemacht hat. Was hilft es, dass man sich Farben in Vorrat anschafft, wenn man nicht weiß, was man zu malen hat? Niemand bestimmt sein Leben zu etwas gewissem, sondern wir beratschlagen uns nur Stückweise darüber. Der Bogenschütze muß erst wissen, wohin er zielt, und darnach kann er erst die Hand, den Bogen, die Sehne, den Pfeil und die Bewegungen darnach einrichten. Unsere Anschläge schlagen fehl, weil sie keine gewisse Richtschnur, und kein Ziel vor sich haben. Wer sich keinen gewissen Hafen vorgesetzt hat, dem ist kein Wind günstig.

 

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(a) So dass er feste zu einer gewissen Lebensart entschlossen ist. Cic. Paradoxon. V c. 1.

(b) Seneca Epist. 71 Necesse est multum in vitanostra casus possit, quia viuimus casu.

(c) Dies alles ist bis zu Ende des Absatzes aus dem Seneca genommen: Non disponet singula, nisi cui iam vitae suae summa proposita est. Nemo, quamuis paratos habeat colores, similitudinem reddet, nisi iam constet, quid velit pingere. Ideo peccamus, quia de partibus vitae omnes deliberamus, de tota nemo deliberat. Scire debet quid petat ille, qui sagittam vult mittere: et tum dirigere et moderari manu telum. Errant consilia nostra, quia non habent, quo dirigantur. Ignoranti quem portum petat, nullus suus ventus est. Epist. 72.


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