Kantate

Kantate. (Dichtkunst. Musik) Ein kleines für die Musik gemachtes Gedicht von rührendem Inhalt, darin in verschiedenen Versarten, Beobachtungen, Betrachtungen, Empfindungen und Leidenschaften ausgedrückt werden, welche bei Gelegenheit eines wichtigen Gegenstandes entstehen. Der Dichter richtet seine Aufmerksamkeit auf eine interessante Szene aus der Natur, aus dem menschlichen Leben, aus der Moral, Politik oder Religion. Aus Betrachtung dieses Gegenstandes entstehen in ihm wichtige Gedanken, ernsthafte oder freudige Empfindungen, die bisweilen in starke Leidenschaften ausbrechen. Wenn er nun dem sich abändernden Zustand des Geistes und Herzens zufolge, das, was er sieht, beschreibt, was er denkt oder empfindet, ausdrückt, den Ausbruch seiner Leidenschaft schildert und für jedes eine besondere, der Sache angemessene Versart wählet, so entsteht dadurch die Kantate. Sie fällt demnach notwendig in verschiedene Dichtungsarten. Ein Teil kann erzählend, ein anderer lehrend, ein anderer betrachtend und ein anderer rührend sein. Daher können in der Kantate Rezitative, Cavaten, Arioso, Ariette und Arien zugleich vorkommen; und von diesen verschiedenen Arten kommen mehr oder weniger vor, je nachdem der Dichter sich bei einem Gegenstand mehr oder weniger aufhält. Ein oder zwei Rezitative und ein paar Arien müssen notwendig dabei vorkommen. Da wir die verschiedenen Dichtungsarten der besonderen Teile der Kantate in besonderen Artikeln beschrieben haben, so wollen wir hier nur einige allgemeine Anmerkungen über den Gebrauch und die verschiedene Gestalten der Kantate machen.

 Der vornehmste Gebrauch der Kantaten ist bei dem öffentlichen Gottesdienst, an feierlichen Tagen. Der Dichter nimmt die Begebenheit, deren Andenken feierlich begangen wird, zu seinem Gegenstand. Er muss dabei die Absicht haben, das Volk auf die wichtigsten Teile seines Gegenstandes aufmerksam zu machen, dasselbe auf wichtige Betrachtungen und Lehren zu führen, lebhafte Empfindungen rege zu machen und überhaupt das ganze Gemüt mit einer heilsamen Leidenschaft zu erfüllen. Überhaupt muss also der Dichter den Charakter der geistlichen Dichtung wohl beobachten und sich vornehmlich in Acht nehmen, weder Witz, noch Kunst, noch irgend etwas zu zeigen, wodurch der Zuhörer von dem Gegenstand seiner Betrachtung auf den Dichter oder auf Nebensachen könnte abgeführt werden. Es muss nichts vorkommen, was bloß zur Belustigung diente, sondern alles muss auf Erbauung übereinstimmen.

 Da die Kantate keine Handlung ist, wie das Drama, sondern eine Betrachtung über einen großen Gegenstand, so muss sie nicht weitläufig sein. Denn Weit läufigkeit über einen einzigen Gegenstand macht verwirrt und schwächet die Hauptvorstellung. Der Dichter soll nicht alles, was sich über den Gegenstand gutes denken oder empfinden lässt; sondern nur das wichtigste, das, was den Verstand und das Herz am stärksten rührt, anbringen. Es gibt Dichter, welche in Kantaten über das Leiden des Heilandes oder über seine Geburt, in die kleinsten Umstände sich einlassen; jeden, wenn er auch noch so wenig auf sich hat, bemerken machen, Betrachtungen darüber, wie man sagt, bei den Haaren herbei zu bringen. Dadurch werden sie frostig. Es gehört in die Kantate nichts als was groß und stark rührend ist und das Einfache muss dabei dem Verwickelten vorgezogen werden.

 Einige machen ihre Kantaten dramatisch, dieses schickt sich gar nicht; denn die Kantate ist die Moral einer Handlung, und nicht die Handlung selbst. Es geht wohl an, dass zwei oder auch drei Personen eingeführt werden, welche abwechselnd reden oder singen, aber dieses ist kein Drama. Denn jede von den redenden Personen drückt ihre eigene Empfindungen und Betrachtungen aus. Dieses macht keine Handlung. Wenn aber allegorische Personen eingeführt werden, so wird allgemein die ganze Vorstellung frostig. Aus diesem Grunde raten wir sie dem Dichter gänzlich ab.

Auch tun Erzählungen, Beschreibungen mit Arien, die moralische Anmerkungen und Maximen enthalten, keine gute Wirkung. Sie sind der Lebhaftigkeit der Empfindungen entgegen und geben dem Tonsetzer nicht Gelegenheit genug, sich kräftig und rührend auszudrucken.1 Findet der Dichter nötig, dem Zuhörer historische Umstände zu Gemüte zu führen, so kann er es auf eine weit lebhaftere Art als durch Erzählungen tun. Er kann ihm die Sache lebhaft vor Augen bringen, indem er sich anstellt als ob er die Sachen sähe und höre. So hat es Ramler in seiner Kantate über das Leiden des Heilandes in dem ersten Rezitativ getan. So hat es Rolli in der schönen Kantate von Atis und Galathee getan, da er im folgenden Rezitativ auf das lebhafteste vorstellt, was keine Erzählung würde getan haben.

Ma gorgogliar la piacida marina già sento, Ecco! gia sorge, Ecco! gia sopre l'inargentata concha, Ecco apparir la Diva!

E i zeffiretti alati La guidan' alla riva.

 Es gibt Kantaten, da der Dichter in seiner eigenen Person spricht, die man betrachtende nennen könnte und andre, da er historische Personen sprechen lässt, damit wir uns desto lebhafter in ihre Umstände und Fassung setzen können. Diese kann man historische Kantaten nennen. Einen weitläufigen Unterricht über alles, was der Dichter bei der Kantate zu beobachten hat, um sie zur Musik recht bequem zu machen, findet man in Krausens vortreflichem Werk von der musikalischen Poesie.2

 Die Kantate ist eine von den Dichtungsarten, welche den Alten unbekannt geblieben, wiewohl sie schätzbare Vorzüge hat. Die geistliche Kantate ist für den öffentlichen Gottesdienst sehr wichtig. Andre von moralischem Inhalt, können bei anderen festlichen Gelegenheiten oder auch nur bloß in Konzerten, von sehr großem Nutzen sein, wenn der Dichter und der Tonsetzer jeder das seinige dabei getan haben.

 Es gibt zweierlei Gattungen der Kantaten, kleinere, für die Kammermusik, darin weder ein vielstimmiger Gesang, noch vielstimmige Begleitung verschiedener Instrumente vorkommt; und größere zur feierlichen Kirchenmusik, darin Chöre, Choräle und andere vielstimmige Gesänge und eine starke Besetzung von verschiedenen Instrumenten statt hat. Diese werden allgemein Oratoria genannt. Bei diesen hat der Tonsetzer überhaupt in Ansehung des guten Geschmacks dasjenige zu beobachten, was von der Kirchenmusik ist erinnert worden. Die kleineren Kantaten erfordern einen überaus reinen und in allen Stücken vollkommenen Satz als solche Stücke, in denen jeder kleine Fehler anstößig wird und bei denen der Man gel der Handlung und der theatralischen Vorstellung durch innerliche Schönheiten muss ersetzt werden.

 

________________

1 Celles qui sont en récit & les airs en Maximes, sont toujours froides & mauvaises; le Musicien doit les rebuter. ROUSSEAU Dick. da Musique Art. Kantate.

2 Im fünften Hauptstück.


 © textlog.de 2004 • 23.12.2024 05:10:44 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z