Kirchen Musik. Man findet, dass die Musik schon in den ältesten Zeiten bei gottesdienstlichen Feierlichkeiten ist gebraucht worden: und wenn dieses nicht der älteste Gebrauch dieser Kunst ist, so ist es doch der vornehmste, zumal in den gegenwärtigen Zeiten, da sie bei anderen Gelegenheiten eben keine sehr wichtige Rolle spielt. Weil also der Tonsetzer bei der Kirchenmusik die beste Gelegenheit hat, mit seiner Kunst etwas auszurichten, so muss er auch vorzüglich darauf denken, ihr da die volle Kraft zu geben.
Es könnte von großem Nutzen sein, wenn ein Meister der Kunst übernähme, die Materie von der mannigfaltigen Anwendung der Musik, bei gottesdienstlichen Feierlichkeiten, von Grundaus zu untersuchen; denn allem Ansehen nach würde er noch neue und wichtige Arten diese Kunst anzuwenden entdecken und von dem, was zufälliger Weise hier und da eingeführt worden ist, würde er manches als unschicklich verwerfen.
Wir wollen uns aber hier auf die Betrachtung der gewöhnlichsten Formen der Kirchenmusik einschränken und über ihren eigentlichen Charakter einige Anmerkungen machen.
Zuerst kommt der Choral in Betrachtung oder das Absingen geistlicher Lieder von der ganzen Gemeinde, welches nach und nach verschiedene Formen an genommen hat. Vermutlich waren die Lieder ursprünglich einstimmig und die Gemeinde sang sie im Unisonus oder in Oktaven. Es gehört aber eben kein feines Ohr dazu, um zu empfinden, wie elend ein solcher Gesang klingt, da viele Stimmen beständig Oktaven gegen einander machen. Man hat das Wiedrige dieses Gesangs durch die Orgeln etwas zu verbessern gesucht; wiewohl es nicht hinlänglich ist. Als man nachher mehr über die Harmonie nachgedacht hatte, wurde der Gesang vierstimmig, wie er noch gegenwärtig in dem gemeinen Choral an einigen Orten ist. Die ursprüngliche Melodie wurde der Cantus Firmus oder der einmal festgesetzte Gesang genannt, zu welchem noch andere Stimmen mussten verfertigt werden.
Daher geschiehet es noch jetzt, dass in den meisten Kirchen von der Gemeinde nur die ursprüngliche Melodie oder der Cantus Firmus gesungen wird, da die anderen Stimmen unter einen besonders dazu bestellten Chor von Sängern verteilt werden; ferner dass jeder Tonsetzer, der für die Kirchen arbeitet, mit Beibehaltung eines bekannten Cantus Firmus, nach seinem Gefühl die anderen Stimmen neu dazu verfertigt. Und hieraus lässt sich auch verstehen, was die Lehrer der Musik damit sagen wollen, wenn sie in der Anweisung zum Satz vorschreiben, dass der Cantus Firmus bald in diese, bald in eine andere Stimme soll verlegt werden. Von diesem unverzierten und schlechten Choral ist in einem besonderen Artikel gesprochen worden.1
Man hat danach diesen Choral nicht nur noch mehrstimmig gemacht, sondern ihm noch verschiedene andere Formen gegeben und einige Stimmen davon verschiedentlich ausgeziert: daher der sogenannte figurierte Gesang entstanden ist, von dem gegenwärtig so viel Mißbrauch gemacht wird, dass man oft sich bei der Kirchenmusik besinnen muss, ob man in der Kirche oder in der Oper sei.
Der figurierte Kirchengesang hat nach Verschiedenheit der Gelegenheiten mancherlei Gestalt angenommen. Der Choralgesang selbst wird bisweilen figuriert, indem der Cantus Firmus zwar in einer der vier Hauptstimmen beibehalten, aber von figurierten Stimmen, welche allerlei Nachahmungen machen oder auch wohl nach Fugenart gesetzt sind, begleitet wird. Diese Art kann von großer Wirkung sein, wenn der Tonsetzer sich nur keine Ausschweifungen dabei erlaubt und allezeit auf den wahren Ausdruck sieht. Sie schickt sich auch nicht zu jedem Inhalt des Gesangs, sondern nur da, wo natürlicher Weise eine Menge Menschen zugleich verschiedentliche Empfindungen äussern können. Es würde höchst ungereimt sein, stille Empfindungen der Andacht auf solche Weise setzen zu wollen.
Um den Gesang noch feierlicher zu machen und zugleich die Harmonie zu unterstützen, wurden auch Instrumente dabei eingeführt. Die Orgel oder große Contraviolone wurden zum begleitenden Bass und die Posaunen um einige Singestimmen zu verstärken, gebraucht; endlich aber führte man allmählich alle übrigen Instrumente in die begleitenden Mittelstimmen ein.
Um dem Kirchengesang mehr Mannigfaltigkeit zu geben, suchte man auch darin Abwechslungen, dass einige Strophen als Chöre, andre oder einzelne Verse nur von einem Sänger als ein Solo, andere als Duette oder Terztte; einige Choralmäßig, andere durchgehends als Fugen gesetzt und denn verschiedentlich von ausfüllenden Instrumentstimmen begleitet wurden. Auf diese Art werden bisweilen Psalmen und Hymnen gesetzt. Dabei hat nun der Tonsetzer vorzüglich darauf zu achten, dass diese Abwechslungen nicht willkürlich seien, sondern sich nach dem Texte richten. Es kann allerdings ein Hymnus so gemacht sein, dass einige Verse desselben am besten nach Art eines Chors, andre als eine rauschende Fuge und noch andre, nur von einem oder von zwei oder drei Sängern, gesungen werden. Dieses muss der Tonsetzer genau beurteilen, um jeden Teil des Hymnus, auf die schicklichste Art zu bearbeiten. Vorher aber muss der Dichter, der den Text zu einer solchen Musik macht, den Inhalt zu diesen Abwechslungen einrich ten.
In der römisch Catholischen Kirche hat die Kirchenmusik ihre bestimmten und festgesetzten Formen, die unverändert beibehalten werden; bei den Protestanten aber haben Dichter und Tonsetzer sich neue Formen erlaubt und sind nicht allemal glücklich dabei gewesen. Mit der Einführung geistlicher Kantaten haben sich auch die Rezitative und Arien in der Kirchenmusik eingefunden und mit ihnen ist der ausschweifende Geschmack der Opermusik herein gekommen. In einigen protestantischen Kirchen Deutschlands ist man so gar auf den abgeschmackten Einfall gekommen, die Kirchenmusik bisweilen dramatisch zu machen. Man hat Oratorien, wie kleine Opern, wo Rezitative, Arien und Duette nach Opernart beständig untereinander abwechseln; so dass eine Handlung von verschiedenen Personen vorgestellt wird. Eine Erfindung eines wahnwitzigen Kopfes, die zur Schande des guten Geschmacks noch an vielen Orten beibehalten wird.2
Rousseau hält davor, dass die einfachste Kirchenmusik, aus den Trümmern der alten griechischen Musik entstanden sei. Es ist der Mühe wohl wert, dass wir seine Gedanken hierüber hersetzen. »Der Cantus Firmus, sagt er, so wie er gegenwärtig noch vorhanden ist, ist ein, zwar sehr verstellter, aber höchstschätzbarer Überrest der alten griechischen Musik, welche selbst von den Barbaren, in deren Hände sie gefallen ist, ihrer ursprünglichen Schönheiten nicht ganz beraubet worden ist. Roch bleibt ihr genug davon übrig, um ihr, einen großen Vorzug über die weibische, theatralische oder elende und platte Musik, die man in einigen Kirchen hört, zu geben, worin weder Ernsthaftigkeit, noch Geschmack, noch Anständigkeit, noch Ehrerbietung für den Ort, den man dadurch enteiliget, zu bemerken ist.«
»Zu der Zeit da die Christen anfingen, Kirchen zu haben und in denselben Psalmen und andere Hymnen zu singen, hatte die Musik bereits fast allen ihren ehemaligen Nachdruck verloren. Die Christen nahmen sie, so wie sie dieselbe fanden und beraubten sie noch ihrer größten Kraft, des Zeitmaßes und Rhythmus, da sie dieselbe von der gebundenen Rede, die ihr immer zum Grunde gedient hatte, auf die Prose der heiligen Bücher oder, auf eine völlig barbarische Poesie, die für die Musik noch ärger als Prose war, anwendeten. Damals verschwand einer der zwei wesentlichen Teile der Musik und der Gesang, der jetzt, ohne Takt und immer mit einerlei Schritten fortgeschlept wurde, verlohr mit dem rhythmischen Gang, alle Kraft, die er ehmals von ihm gehabt hatte. Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verse, weil das Zeitmaß der Silben und die Füße darin beibehalten wurden.« –
»Aber dieser wesentlichen Mängel ungeachtet, finden Kenner in dem Choral, den die Priester der römischen Kirche, so wie alles, was zum äußerlichen des Gottesdienstes gehört, in seinem ursprünglichen Charakter erhalten haben, höchst schätzbare Überbleibsel des alten Gesangs und seiner verschiedenen Tonarten, so weit es möglich war, sie ohne Takt und Rhythmus und bloß in dem diatonischen Klanggeschlecht zu erhalten. Das wahre diatonische Geschlecht hat sich nur in diesen Chorälen in seiner Reinheit erhalten und die verschiedenen Tonarten der Alten haben darin noch ihre beiden Hauptabzeichen, davon das eine von der Tonika oder dem Hauptton, woraus der Gesang geht, das andere von der Lage der halben Töne hergenommen ist.
Diese Tonarten, so wie sie in alten Kirchenliedern auf uns gekommen sind, haben wirklich das Charakteristische, das jeder eigen ist und die Mannigfaltigkeit des leidenschaftlichen Ausdrucks, so behalten, dass es jedem Kenner fühlbar ist.«
So urteilt Rousseau von dem Geschmack der Kirchenmusik3, und an einem anderen Orte4 sagt er, man müsse nicht nur alles Gefühls der Andacht, sondern alles Geschmacks beraubet sein, um in den Kirchen die neumodische Musik, dem alten Choral vorzuziehen.
Diese Gedanken eines so feinen Kenners desto richtiger zu verstehen, muss hier angemerkt werden, dass es in der ächten Kirchenmusik, wovon wir unsere völlig nach dem Geschmack des Theaters eingerichtete geistliche Kantaten, die man in der römischen Kirche noch nicht kennt, ausschließen, ein Gesetz ist, alles nach den Tonarten der Alten zu behandeln5, die aber meistenteils nur auf unser diatonisches Geschlecht eingeschränkt sind, weil die anderen Geschlechter, das enharmonische und chromatische, zur Zeit, da die Kirchenmusik aufgekommen ist, schon aus der Übung gekommen waren. Also wählt der Tonsetzer für jedes besondere Stück, es sei Choral, Fuge oder was für Gestalt es sonst habe, eine der alten Tonarten, die sich zu dem Affekt des Stücks am besten schickt und bindet sich an den ihr vorgeschriebenen Umfang, der entweder von der Tonika zur Dominante oder von der Dominante zur Tonika geht. Da nach diesem Gesetze, jede Stimme nur einen kleinen Umfang hat, so geht auch der Gesang selbst meistenteils durch kleine Intervalle, wodurch das Hüpfende und Springende, der so genannten galanten Musik, aus der Kirche verbannet wird. Dieser Einschränkung ungeachtet, weiß ein erfahrner Tonsetzer, dennoch eine große Mannigfaltigkeit von melodischen und harmonischen Sätzen in ein Stück zu bringen.
Seine vornehmste Sorge, nach einer guten Wahl der Tonart und einer höchst einfachen Fortschreitung, geht auf die Beobachtung der richtigen Decklamation des Texts; welche sowohl durch die Hauptstimmen selbst als auch durch die Harmonie kann fühlbar gemacht werden. Denn schon durch diese allein, kann die wahre Decklamation befördert oder gehindert werden. Also müssen z.B. die Silben, die in einen ununterbrochenen Zusammenhang, bis auf einen kleinen oder größeren Ruhepunkt fortfliessen, nur von einer Harmonie begleitet werden, die das Gehör ununterbrochen fortreißt; so dass es höchstfehlerhaft sein würde, auf eine Silbe, auf welcher schon das Gefühl der folgenden erweckt wird, eine beruhigende Harmonie, wie der Dreiklang ist, zu nehmen.
Es ist vorher gesagt worden, dass die Kirchenmusik sich vornehmlich an das diatonische Geschlecht halte. Dieses ist aber nur von dem gemeinsten Choral, den die ganze Gemeinde mitsinget zu verstehen, wo das Einfache und das Konsonierende allemal die beste Wirkung tut; besonders auch darum, weil zu solchen Chorälen allemal ein sanfter Affekt sich am besten schickt. Wo aber schon ein lebhafterer oder gar heftiger Affekt vorkommt, welcher den Tonsetzer veranlasst, die Form des Chorals zu verlassen, da wird auch in dem Gesang und in der Harmonie zu Erreichung des Ausdrucks schon mehr erfordert und da tun kleinere Intervalle als die Diatonischen sind, oft die beste Wirkung. Man hat deswegen, bisweilen nicht nur Chromatische, sondern gar enharmonische Fortschreitungen hierzu nötig. Ehedem hatte man in einigen großen Cathedralkirchen eigene Sänger, die sich in enharmonischen Fortschreitungen besonders übten und deswegen bei Gelegenheiten, wo sehr starke Leidenschaften auszudrucken sind, dergleichen z.B. in den Klageliedern des Jeremias vorkommen, ihre besonderen Stimmen bekamen.
Da überhaupt jede Kirchenmusik, von welcher Form sie sonst sei, den Charakter der Feierlichkeit und Andacht notwendig an sich haben muss; so hat der Tonsetzer sich aller Künsteleien, aller Figuren, Zierraten und Läufe, die bloß die Kunst des Sängers anzeigen; ferner aller geschwinden Passagen und alles dessen, was den Ausdruck der Empfindung mehr ausschweifend macht als verstärkt, zu enthalten. Fürnehmlich muss in den tiefen Stimmen die allzugroße Geschwindigkeit vermieden werden, weil sie in den Kirchen sehr nachschallen und durch eine schnelle Folge tiefer Töne alle Harmonie verwirrt wird. Deswegen sind alle Arien, die nach der Opernform gemacht werden, besonders aber die darin angebrachten Läufe und Schlusscadenzen völlig zu verwerfen.
Darum erfordert die Kirchenmusik nicht nur einen sehr starken Harmoniker, sondern auch zugleich einen Mann von starker Überlegung und einem richtigen Gefühl; damit nicht entweder bloß unordentli ches Geräusch, ohne bestimmten Ausdruck oder eine Vermischung von Feierlichkeit und Üppigkeit, die Stelle der ernsthaften Empfindungen der Andacht einnehme.
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1 S. Choral.
2 S. Oratorium
3 Dictio. de Musiq. Art. Plain chant.
4 Art. Motett.
5 S. Tonarten der Alten.