Knoten

Knoten. (Schöne Künste) In der Kunstsprache wird dieses Wort allgemein gebraucht, um in der epischen und dramatischen Handlung eine solche Verwicklung zu bezeichnen, aus welcher beträchtliche Schwierigkeiten entstehen, wodurch die handelnden Personen veranlasst werden, ihre Kräfte zu verdoppeln, um sie zu überwinden und die Hinternisse aus dem Wege zu räumen: Aber der Begriff muss erweitert oder allgemeiner gemacht werden.

 Wir begreiffen unter diesem Worte alles, was in der Folge der Vorstellungen über eine Sache, eine solche Aufhaltung macht, die eine Aufhäufung der zum Teil gegen einander streitenden Gedanken bewirkt, wodurch die Vorstellung lebhafter und interessanter wird, nach einigem Streit der Gedanken aber, sich entwickelt. Bei unseren Vorstellungen über geschehene Sachen oder bei Beobachtungen und Untersuchungen, können die Begriffe so auf einander folgen, dass uns nichts reizt auf die Art wie sie auf einander folgen oder auf die Quellen woraus sie entspringen, Achtung zu geben. Dann fliessen unsere Gedanken, wie ein sanfter durch nichts aufgehaltener Strom stille fort. Die Vorstellungskraft wird durch nichts gereizt. Findet sich hingegen in der Folge der Vorstellungen irgendwo etwas, das uns aufhält, das uns auf die Folge aufmerksam macht; wobei wir gleichsam stille stehen, um das Gegenwärtige mit dem, was folgen könnte zu vergleichen; wo wir ungewiss werden, wie die Sache fortgehen oder wie das folgende entstehen wird; da liegt ein Knoten, wobei die Gedanken sich zusammen drängen, gegen einander streiten, bis einer die Oberhand bekommt und der Sache einen Fortgang verschaft.

 Knoten sind also bei Unternehmungen, wo Hinternisse aufstoßen, die man aus dem Wege zu räumen hat; bei Untersuchungen, wo sich Schwierigkeiten zeigen, die eine neue Anstrengung des Geistes erfordern, um sich aus denselben heraus zu wickeln; bei Betrachtung der Begebenheiten, wo die wirkende Ursache durch große und ungewöhnliche Kräfte, die unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen, allmählich die Stärke bekommt, den Ausgang der Sachen zu bewirken. Ein solcher Knoten bewirkt in den bei den Sachen intereßirten Personen eine neue bisweilen ausserordentliche Anstrengung der Kräfte; bei denen aber, die bloß Zeugen oder Zuschauer dabei sind, reizt er die Aufmerksamkeit und die Neugierde, wodurch die Sache weit interessanter wird als sie ohnedem würde gewesen sein.

 In den Werken der schönen Künste hat der Knoten eben diese doppelte sehr vorteilhafte Wirkung. Das Werk selbst wird dadurch reicher an Vorstellungen. Handelnde Personen z.B. strengen ihre Kräfte mehr an; ihr Genie, ihr Gemüt und ihr ganzer Charakter zeigt sich dabei in einem vollen Lichte; der Künstler hat nötig auch sein Genie stärker anzustrengen, um Auswege zu finden: dadurch wird also für den, der das Werk der Kunst genießen soll, alles interessanter und lebhafter. Darum ist es nötig, dass wir über eine so wichtige Sache uns hier etwas weitläufig einlassen.

 Man hat hierbei auf drei Dinge Achtung zu geben, auf die Natur des Knotens, auf seine Knüpfung und auf die Entwicklung desselben.

 Zuerst muss man auf die Beschaffenheit des Knotens Achtung geben, der bei Handlungen oder bei Untersuchungen und dem lehrenden Vortrag vorkommen kann. Bei Handlungen kann er von zweierlei Art sein. Erstlich kann die Handlung an sich selbst ein sehr gefährliches oder mit ausserordentlichen Schwierigkeiten begleitetes Unternehmen sein, wodurch der Knoten sich von selbst knüpfet, indem es höchst schwer ist, der Unternehmung einen glücklichen Ausgang zu geben. Von dieser Art ist der Hauptknoten der Odyssee, wo die Heimreise des Ulysses und die Wegschaffung einer ganzen Schaar mutwilliger und zum Teil mächtiger Liebhaber der Penelope für einen einzeln Menschen ein höchstschweres Unternehmen war. Auch gehört der Hauptknoten der Äneis hierher; worauf der Dichter gleich Anfangs unsere Aufmerksamkeit lenket:

 Tantæ molis erat Romanam condere gentem. Je größer der Dichter diese Schwierigkeiten zu machen weiß, je mehr Gelegenheit hat er die Fruchtbarkeit seines Geistes und die Größe seines Herzens zu zeigen. Hier liegt also die Schwierigkeit in der Bewirkung des Ausganges.

 Es gibt noch eine andere Art des Knotens, der nicht von Hinternissen entsteht, die sich einer Handlung in weg legen, sondern wo die Schwierigkeit darin liegt, dass uns die Größe der wirkenden Ursachen, das Fundament, worauf sie sich stützen, deutlich vor Augen gestellt werde. Große Dinge rühren uns entweder durch den Erfolg selbst, den sie haben oder durch die Kraft wodurch er hervorgebracht worden. Dass Leonidas mit seiner kleinen Schaar bei Thermopylä von einem unermeßlichen Heer Feinde niedergemacht worden, hat in dem Erfolg selbst nichts wunderbares; aber woher dieser kleinen Schaar der Mut gekommen, gegen eine so gar überlegene Macht zu streiten und ihr einigermaßen den Sieg zweifelhaft zu machen, dieses begreiflich zu machen, erfordert Kunst.

 Die größte Handlung, selbst das größte Wunderwerk, reizt unsere Aufmerksamkeit nur insofern wir die Schwierigkeit derselben einsehen oder den Erfolg mit den Kräften vergleichen können. Die äußerste Freigäbigkeit eines Menschen, den wir für einen Goldmacher hielten, würde uns gar nicht merkwürdig scheinen. Aber eine große Freigäbigkeit an einem Menschen, den wir nicht in Überflus glauben, wird uns interessant, wir wollen wissen, wie er zu solchen Entschlüssen komme, die ihm natürlicher Weise sehr viel kosten müssen.

 Bei Charakteren und Handlungen der Menschen, ist es nicht hinlänglich, dass man sie uns als groß vorstellt; man muss uns ihre Größe begreiflich machen, man muss uns ihre Kräfte und das Fundament, worauf sie sich stützen, sehen lassen, damit wir wenigstens einigermaßen begreifen, wie sie zu der Höhe, die wir bewundern, aufgeschwollen sind. Dieses macht den Knoten aus, der uns die Sachen interessant vorstellt.

 Er entsteht allgemein aus einem Streit der Leidenschaften oder dem Zusammenstoß entgegenstreitender Interessen.

 Von dieser Art ist der Hauptknoten in der Ilias. Es ist eine gemeine Sache, dass zwei Befehlshaber bei einem Heer sich entzweien und dass üble Folgen daraus entstehen. Oder, wenn man sich die Sache so vorstellen will: es war in der Begebenheit, dass Achilles und Agamemnon sich entzweit haben, dass der erstere sich von dem Heer getrennt, dass dadurch die Griechen in Verlegenheit gekommen; dass Achilles zuletzt sich wieder ins Schlachtfeld begeben hat u.s.w. nichts Au sserordentliches: aber der Dichter hat diese Begebenheit von gemeiner Art so zu behandlen gewußt, dass dadurch eine ausserordentliche Verwicklung der Sachen entsteht. Von dieser Art ist auch der Hauptknoten in Geßners Tod Abels. Ein Bruder bringt den anderen aus Hass um; hier scheint keine Verwicklung zu sein. Aber wodurch konnte Kain, zu einer solchen Wut des Hasses gebracht werden? Hier entsteht ein Knoten. Der Dichter musste hinlängliche Ursachen finden, den Hass des Mörders nach und nach anschwellen und bis zu dem entsetzlichsten Übermaas wachsen zu lassen, der die Wirkung desselben begreiflich macht. Das größte Beispiel eines Knotens von dieser Art, ist Klopstocks Behandlung des Todes Jesu. Es ist eine gemeine Sache, dass ein Mensch unter dem Hasse seiner Feinde erliegt und unschuldiger Weise hingerichtet wird. Hier war die Schwierigkeit nicht in der Bewirkung des Ausganges der Handlung, sondern darin, dass eine gemein scheinende Sache als die größte und wichtigste aller Begebenheit, an der das ganze Reich der Geister Anteil nimmt, vorgestellt würde.

 Bei Untersuchungen und anderen Gegenständen des Lehrgedichts und der Beredsamkeit hat ebenfalls diese doppelte Art des Knotens statt. Entweder liegen Schwierigkeiten wesentlich in der Sache selbst und der Redner oder Dichter hat bloß darauf zu sehen, dass er sie deutlich vorstelle; oder die Sache ist an sich zwar leicht und offenbar genug, aber um die Aufmerksamkeit mehr zu reizen, muss sie durch das Genie des Redners in einem sehr wichtigen und interessanten Lichte vorgestellt werden. Der letztere Fall hat oft große Schwierigkeiten und erfordert einem Mann von viel Genie. Man kann z.B. voraussetzen, dass bei der dritten Philippischen Rede des Cicero jeder Zuhörer schon einen Abscheu vor dem Antonius habe und geneigt sei, ihn für einen Feind des Staats zu erklären. In solchen Umständen muss der Redner den Vorstellungen schlechterdings eine neue Wendung geben und darin einen Knoten oder eine Aufhaltung suchen, dass er seinen Gegenstand in einem noch nicht bemerkten Lichte zeige. Hat er dieses vergeblich versucht, so bleibt ihm nichts übrig als bloß pathetisch und affektvoll zu sein.

 Diese Arten des Knotens kommen nicht nur in der Hauptsache vor, in welchem Falle man sie Hauptknoten nennen kann, sondern auch in einzelnen Teilen; aber ihrer Natur nach sind sie immer einerlei. In der Ilias kommen hundert einzelne Begebenheiten vor, deren jede ihren besonderen Knoten, von der einen oder der anderen Art hat; und eben dieses macht das Gedicht so durchaus interessant.

 In Ansehung der Knüpfung und Auflösung des Knotens kommt die Hauptsache darauf an, dass alle wirkenden Ursachen, es sei, dass sie Schwierigkeiten veranlassen oder sie überwinden, natürlich und wahrscheinlich seien. Die Schwierigkeiten müssen nicht willkürlich erdichtet werden, wo keine sind, sie müssen keine große Hindrung machen, wo es leicht ist, ihnen aus dem Wege zu gehen; große Wirkungen müssen nicht aus kleinen Ursachen entstehen, es sei denn, dass man deutlich sehe, wie diese kleinen Ursachen, ausserordentliche Stärke bekommen haben. Da muss vorzüglich sich der Verstand und die scharfe Beurteilung des Künstlers, seine tiefe Kenntnis des Menschen und menschlicher Dinge zeigen. Er muss nichts geschehen lassen, ohne uns deutlich merken zu lassen, dass es notwendig hat geschehen müssen oder dass es aus der Lage der Sachen und dem Charakter der Personen natürlich erfolgt. Es ist der Mühe wert hierüber einige besondere Beispiele zur Erläuterung dieser wichtigen Sache, zu betrachten.

 Das vornehmste Beispiel eines wohl geknüpften und glücklich aufgelößten Knotens, haben wir in der Ilias. Der Hauptknoten, ist die Trennung des Achilles von dem Heer der Griechen. Sie entsteht auf eine sehr natürliche Weise, aus den Zwistigkeiten zwischen dem hochmütigen und gebieterischen Oberbefehlhaber Agamemnon und dem äußerst hitzigen, trotzigen und höchsteigensinnigen Achilles, auf dessen Tapferkeit das meiste ankam. Die Entzweiung entsteht aus einer natürlichen Veranlassung, wird dem Charakter der Personen gemäß, auf das äußerste getrieben; keiner will nachgeben und Achilles, der dem Range nach weit unter dem Agamemnon ist, trennet sich von dem Heere. Dadurch werden die Griechen so sehr geschwächt, dass sie nichts mehr gegen die Trojaner vermögen. Nun entsteht die Hauptschwierigkeit. Auf der einen Seite verbindet sie Ehre, Nationalstolz, heftige Feindschaft, den ihnen angetanen Schimpf durch Trojas Umsturz zu rächen; auf der anderen Seite zeigt sich ihr Unvermögen das Vorhaben auszuführen. Sie versuchen das Äusserste; aber die Gefahr wird immer größer; jedermann erkennt, dass Achilles wieder versöhnt werden und zum Heer zurückkehren müsse. Aber sein unüberwindlicher Zorn und Eigensinn vereitelt alle Bemühungen, die man zur Aussöhnung anwendet. Man hat das Äusserste versucht; die Gefahr des Unterganges der Griechen ist nahe und wie sollen sie sich nun heraushelfen? Hier scheint der Knoten unauflößlich. Aber nun fängt er an sich zu entwicklen und auf eine sehr natürliche und völlig ungezwungene Weise. Achilles hat einen Freund, der so gefällig und nachgebend als er trotzig und eigensinnig ist. Dieser erhält von ihm die Erlaubnis, sich der bedrängten Griechen anzunehmen; aber er fällt im Streit. Und nun wird der heftige Achilles durch den Verlust seines Freundes auf das Äusserste aufge bracht; jeder Nerve seiner Seele wird zur Rache gespannt; und jetzt macht er den Untergang der Trojaner, wenigstens den Tod des heldenmütigen Hektors, des vornehmsten Beschützers der Angegriffenen, zu seiner eigenen Angelegenheit. Er kehrt wütend in dem Streit zurück und ihm gelinget es jetzt, was er vorher so lange vergeblich gesucht hatte; er erlegt den Hektor, die Griechen bekommen die Oberhand und die Hauptschwierigkeiten sind gehoben.

 Eigentlich besteht die mechanische Vollkommenheit der Epopöe und des Trauerspiels eben darin, dass gleich von Anfang der Handlung der Knoten allmählich geknüpft und nach und nach immer fester werde; dass dadurch eine allgemeine Anstrengung aller wirkenden Kräfte entstehe, auf der einen Seite die Schwierigkeiten zu vermehren, auf der anderen, sie zu überwinden, bis endlich aus natürlichen, schon in der Handlung oder in dem Charakter der Personen liegenden, aber vorher nicht genugsam erkannten Kräften, der Ausschlag sich auf die eine Seite wendet, wodurch die ganze Handlung beendigt wird.

 Diese Behandlung des Knotens hat dem Dichter Gelegenheit gegeben, die handelnden Personen, jeden nach seinem Charakter und nach seiner Sinnesart, in vollem Lichte zu zeigen, seine Verstandes- und Gemütskräfte in völlige Wirkung zu setzen und dadurch zu zeigen, wie merkwürdige Begebenheiten aus dem Verhalten entstehen.

 Man sieht hieraus, wieviel bei der Epopöe und dem Trauerspiel, auf den Hauptknoten ankommt; wie dadurch die ganze Handlung interessanter wird; wie alle wirkende und gegenwirkende Kräfte auf einen Punkt vereinigt werden; wie jede handelnde Person gereizt wird, ihre Kräfte zusammen zu nehmen; wie endlich dadurch die nächsten Ursachen sich auf eine natürliche Weise zu Bewirkung einer merkwürdigen Begebenheit vereinigen.

 Das Genie des Dichters findet in dem wohl geknüpften Knoten den Gegenhalt, an den es sich stemmet, um alle seine Kräfte aufzubieten und ihnen den Nachdruck zu geben. Ohne Reizung, die von Hinternissen herkommt, zeigt sich das Genie nie in seiner Stärke. Je mehr Schwierigkeit der Dichter in der Verwicklung der Sachen findet; je stärker strengt er sich an, um sie zu übersteigen. Und darum ist man oft dem stark verwundenen Knoten die glänzendesten Wirkungen des poetischen Genies schuldig. Wenn der Knoten aus zufälligen Ursachen entsteht und sich auch so auflöset, so wird die ganze Handlung weniger interessant. Wie sehr würde nicht das Interesse der Ilias dadurch geschwächt werden, wenn Achilles Krankheit halber, sich von den Griechen getrennt; oder wenn ein willkürlicher Göttlicher Befehl, ein Orakelspruch, ihn wieder zum Heer gebrachte hätte? Je genauer die Verwicklung und Auflösung aus dem Charakter der Personen oder aus der Natur der Sachen selbst entsteht, jemehr gewinnt das Interesse der Handlung.

 In der Noachide kommen mancherlei Schwierigkeiten in der Haupthandlung vor, die, da die ganze Sache eine unmittelbare Veranstaltung der Allmacht war, sich durch Wunderwerke hätten heben lassen: aber der Dichter verwarf diesen uninteressanten Weg. Denn ein Wunderwerk hört auf interessant zu sein, so bald man an den Begriff der Allmacht gewohnt ist. In dieser Epopöe war es darum zu tun, auf der einen Seite die gottlose Welt durch Wasser zu vertilgen, auf der anderen den Stamm des menschlichen Geschlechts in der kleinen Familie des Noah zu retten.

 Hier zeigten sich Schwierigkeiten in der Sache selbst und andere wußte der Dichter auf eine höchst natürliche Art zu knüpfen und wieder aufzulösen. Wie konnte die göttliche Gerechtigkeit zu einem so entsetzlichen Schluss gebracht werden? Diese Frage wird durch die abscheuliche Verderbnis aller damaligen Völker, die der Dichter höchst lebhaft schildert, aufgelößt. Wie konnte die Welt im Wasser untergehen? Der Dichter hätte alles auf einen Wink der Allmacht durch Wunder können geschehen lassen; aber dieses Wunder wäre nicht wunderbar genug gewesen; weit wunderbarer und erstaunlicher wird die Sache aus natürlichen Ursachen, aus der Zerrüttung die ein Komet verursacht. Eine neue schon in der Sache liegende Schwierigkeit: wie sollen die Noachiden im Stande sein die Arche zu bauen? Sie von Engeln bauen zu lassen, wäre nicht so wunderbar als die schöne Erfindung eine Nation ruchloser Riesen, der Noachiden ärgste Feinde, durch Schrecken zu zwingen, das schwerste der Arbeit zu tun. Die Familie des Noah besteht nur aus Söhnen und doch soll ein neues Geschlecht der Menschen durch sie fortgepflanzt werden. Ein neuer Knoten, den der Dichter selbst, aber auf eine höchst natürliche Weise knüpfet und wieder auflöset. Nach der ganzen Lage der Sachen, war es unvermeidlich, dass die Noachiden und Siphaiten sich von einander verloren und dass beide von der übrigen Welt abgesondert lebten. Aber auch auf eine natürliche, obgleich bewunderungswürdige Weise fanden sie sich wieder und die Söhne des Noah bekamen Frauen. Diese reizenden Szenen wären matt, wenn der Dichter nicht die Absonderung der beiden Familien, so natürlich gemacht hätte.

 Beispiele von der anderen Art des Knotens, wo die Schwierigkeit darin liegt, die Menschen zu ausserordentlichen Entschliessungen zu bringen, finden wir im Messias an mehreren Orten. Wer bewundert nicht den Charakter eines Philo, eines Caiphas, eines Judas Ischariot, aus denen sich die Hauptunternehmungen be greifen lassen? Und auch unser Geßner hat in dem Tod Abels den Ursprung und allmählichem Wachstum des Hasses Cains gegen seinen Bruder, worin der Hauptknoten liegt, auf eine meisterhafte Weise geschildert. Dahin gehört auch die Knüpfung des Knotens in der Iphigenia in Aulis des Euripides. Es ist sehr schwer zu begreifen, wie ein Vater seine geliebte Tochter mit Vorsatz aufopfern soll. Wer aber alle Umstände, die in der Sache vorkommen und den Charakter den der Dichter dem Agamemnon gibt, wohl in Betrachtung zieht, dem wird die Sache begreiflich.

 Gegen die Behandlung dieser Art des Knotens wird doch im Trauerspiel nicht selten gefehlt. Wir sehen bisweilen gute und böse Handlungen in einer fast unbegreiflichen Größe, ohne die Ursachen dieser Größe weder in dem Charakter, noch in den Umständen deutlich zu entdecken. Eine ausserordentliche Entschliessung, die nicht ausserordentliche Veranlaßung hat, nicht durch einem großen Kampf starker Leidenschaften entstanden ist, verliert das Interessante. Was nicht mit Schwierigkeiten verbunden ist, macht keine große Wirkung.

 Man kann gegen den Hauptknoten in dem verlorenen Paradies, noch immer den Einwurf machen, dass der Fall der Eva, durch leichte Mittel hätte verhindert werden können; so sehr auch der Dichter sich Mühe gibt, dem Einwurfe zuvorzukommen. Es scheint immer seltsam, einen Menschen in einen wichtigen Fehler fallen zu lassen, um das Vergnügen zu haben, ihm zu verzeihen. Aber der Fehler lag in dem theologischen System des Dichters und vielleicht wäre kein Genie groß genug diesen Knoten ganz natürlich zu knüpfen und aufzulösen.

 


 © textlog.de 2004 • 23.12.2024 05:16:18 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.11.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  Z