Kürze

Kürze. (Redende Künste) Ohne Zweifel ist die Kürze eine der wichtigsten Vollkommenheiten der Rede. Sie trägt viel Gedanken in wenig Worten vor und erreicht also den Zweck der Rede auf eine vollkommene Weise. Es hat allemal etwas reizendes und einigermaßen wunderbares für uns, wenn wir sehen, dass mit wenigem viel ausgerichtet wird; und denn ist die Kürze den Gedanken, was dem baaren Reichtum das Gold ist, welches das Aufbehalten, Überzählen und Ausgeben geben erleichtert. Diesen Vorteil drückt Horaz sehr wohl aus:

 

–– –– ut cito dicta

Percipiant animi dociles teneantque fideles.

 

Man muss die Kürze der Gedanken, von der Kürze des Ausdrucks unterscheiden. Jene besteht in dem Reichtum der Begriffe; diese kommt von einer klugen Sparsamkeit der Wörter und der Redensarten her. Als Cäsar dem Brutus, den er unter seinen Mördern erblickt hatte, zuruffte: auch du mein Sohn! musste dieser einzige Gedanken, erstaunlich viel Vorstellungen in dem Brutus erwecken. Hier liegt die Kürze in dem Gedanken; denn wenn man auch diesen Gedanken in mehr Worten ausdrückte und so weit als möglich ist, ausdehnte; so wird er doch immer noch sehr viel sagen. Eben diese Kürze der Gedanken treffen wir in der Anmerkung an, die beim Terenz jemand über einen Jüngling macht, dem seine Vergehungen vorgehalten werden: er wird rot; alles ist gewonnen [Erubuit; salva res est. Terent. Adelph.]. Der Ausdruck ist natürlich und gar nicht zusammengepreßt; aber der Gedanken enthält die halbe Sittenlehre.

Es gibt auch eine Kürze, die bloß von der Wendung der Gedanken herkommt. Von dieser Art ist folgendes aus der Rede für den Milo. Würde man auch dieses nicht erzählen, sondern vormalen; so würde es dennoch offenbar sein, welcher von beiden der Nachsteller sei und welcher von beiden nichts Arges im Sinne hatte.*) Hier ist das, was Cicero sagen wollte, durch eine glückliche Wendung, wunderbar abgekürzt. Er will sagen, dass durch die richtigste und einfachste Erzählung der Sache, die ohne Anmerkungen oder Auslegungen wäre, die Unschuld des einen und die Bosheit des anderen sich offenbar zeigen würden. Um kurz zu sein, stellt er jene einfache Erzählung als eine Malerei vor; welche die Wahrheit geschehener Sachen durch keine falsche Auslegung verstellen kann.

Die Kürze liegt bloß im Ausdruck, wenn weder die Begriffe reich an Inhalt, noch die Wendung der Gedanken vorteilhaft ist, sondern bloß die wenigsten Worte zum Ausdruck gewählt worden. Von dieser Art ist der Ausdruck des Xenophons von dem Flus Thelaoba: welcher zwar nicht groß, aber schön war. Ein Erzähler, der die Kürze weniger als Xenophon liebte, würde vielleicht gesagt haben: dieser war zwar in Ansehung seiner Größe nicht merkwürdig; aber an Schönheit übertraf er andere Flüsse.

Da die Kürze, es sei in Gedanken oder im Ausdruck, nur denn vorteilhaft wird, wenn sie mit hinlänglicher Klarheit verbunden ist, so muss man sich dieser dabei äußerst befleißen. Horaz sagt viel in diesen wenigen Worten.

 

Paulum sepultæ distat inertiæ

Celata Virtus.**)

 

Aber diese Kürze nützt dem, der einer Auslegung dieser Worte bedarf, nichts.

 Die Kürze in Gedanken erreicht nur der, der im Stand ist viel Wahrheiten auf einen allgemeinen Satz, eine an Begriffen sehr reiche Vorstellung auf einen einzigen Begriff zu bringen; wie Haller, wenn er den gegenwärtigen Zustand des Menschen, in Vergleichung des künftigen, einen Raupenstand nennt. In beiden Fällen tun die Bilder und bisweilen auch die Metonymien sehr großen Dienst. Auch können viel Gedanken in einen zusammengedrängt werden, wenn man aus der Menge der Vorstellungen nur eine aussucht, die natürlicher Weise, auf die übrigen leitet; wie wenn Horaz von den fatalen Folgen der bürgerli chen Kriege sagt:

 

   Ferisque rursus eccupabitur solum. [Epod. XVI]

 

Dieser einzige Umstand, dass Italien wieder eine Wohnung wilder Tiere werden wird, schließt tausend andre Vorstellungen notwendig in sich.

Will man durch eine glückliche Wendung, mit wenigem viel sagen, so muss man seinen Gegenstand von der Seite vorstellen, von welcher er am schnellesten übersehen werden kann. Um jemanden von der gänzlichen Verheerung eines Landes einen recht lebhaften Begriff zu machen, kann sehr viel gesagt werden; aber von keiner Seite lässt sich alles geschwinder übersehen als von der, die Horaz durch diese Worte zeigt:

 

      Et campos ubi Troja suit.

 

Die Kürze, welche bloß im Ausdruck liegt, scheint am schwersten zu erreichen; denn die, welche von dem Reichtum oder der vorteilhaften Wendung der Gedanken herkommt, hängt von dem Genie ab und erfordert keine Kunst. Dieser Reichtum ist ererbt, der andre muss erst durch Sparsamkeit erworben werden. Es gehört nicht wenig Kunst dazu, eine gegebene Anzahl der Begriffe durch die kleinste Zahl der Wörter auszudrücken, ohne andere Hülfsmittel als die Weglassung des Überflüssigen. Hier ist alles Kunst. Wenn man sagen will; es sei unmöglich, den Charakter eines noch unmündigen Menschen zu kennen; weil er sich noch nicht entwickelt hat; weil die Blödigkeit dieses Alters ihn noch zurückhält, nach eigenen Trieben zu handeln; weil er noch manches darum unterlässt, weil seine Vorgesetzten es verboten haben; so scheint es beinahe unmöglich alle diese Begriffe, in weniger Worte zusammen zu fassen. Doch hat Terenz gerade dieses weit kürzer ausgedrückt. »Wie willst du die Sinnesart erkennen, so lange Jugend, Furcht und der Hoffmeister sie zurück halten?«

Qui scire posses aut ingenium noscere, Dum ætas, metus, magister, prohibent? [Terent. Aud. Art. I] Diese Kürze kann nicht wohl anders als durch ruhige Bearbeitung eines weitläufigeren Entwurfs der Gedanken erreicht werden. Wenn man das, was zur Sache dient, zusammengetragen hat; so ist zu Erreichung der möglichsten Kürze notwendig, dass jeder einzelne Gedanke besonders bearbeitet und auf die wenigsten Begriffe gebracht werde. Cicero hatte in seinen Vorstellungen gegen die Austeilung der Äcker deutlich bewiesen, dass die Decemviri dadurch sich des ganzen Staats bemächtigen und nach Gutdünken würden handeln können: hierauf lässt er den Kullus, der das Gesetz von der Austeilung vorgeschlagen hatte, erwiedern; sie seien weit entfernt einen solchen Mißbrauch ihres Ansehens zu machen. Gegen diese Versicherung hatte der Redner eine dreifache Einwendung zu machen. 1) Es sei immer ungewiss, ob sie ihre Macht nicht mißbrauchen werden und 2) so gar wahrscheinlich, dass es geschehen würde; sollte es aber nicht geschehen, so würde es doch 3) unschicklich sein, die Wohlfahrt und Ruhe des Staates als eine Wohltat von ihnen zu empfangen, da doch beides, ohne sie, durch eine kluge Regierung könne erhalten werden. Diese drei Vorstellungen hat Cicero gewiss nicht ohne verweilendes Nachdenken, in diese Kürze zusammengebracht. »Erstlich ist es ungewiss; zweitens fürchte ich doch, dass es geschehen möchte; und warum sollte ich endlich zugeben, dass wir unsere Wohlfahrt, mehr eurer Gütigkeit als unsere eigenen klugen Veranstaltungen, zu danken haben?« Der lateinische Ausdruck ist noch viel kürzer: Primum nescio: deinde timeo: postremo non committam, ut vestro beneficio potius, quam nostro consilio salvi esse possimus [Or. L de Lege Agraria].

Eine solche Kürze ist vornehmlich da notwendig, wo man mehrere Vorstellungen, welche zugleich wirken sollen, zu tun hat; denn je näher man sie zusammendränget, desto gewisser tun sie ihre Wirkung. Sie kommt entweder von der Sprache selbst oder von dem Verstande des Redenden her. Eine Sprache verträgt sie mehr als eine andre. Im Lateinischen und Griechischen, verstattet der häufige Gebrauch des Participien mehr Kürze als die meisten neueren Spra chen haben. Da die Sprachen, so lange sie lebend bleiben sich immer verändern, so sollte man die glücklichen Neuerungen der besten Schriftsteller, die der Kürze günstig sind, sorgfältig bemerken, um sie allmählich in der Sprache gangbar zu machen. Das meiste ist in diesem Stück von den Dichtern zu erwarten; weil sie am öftersten in der Notwendigkeit sind, der Sprach neue Wendung zu geben. Dieser Nutzen der Dichtkunst ist allein schon wichtig genug, dass man das äußerste zu ihrer Beförderung anwenden sollte. Es liegt hinlänglich am Tage, dass die deutsche Sprache durch die Neuerungen der Dichter zur Kürze tüchtiger worden ist als sie vorher war. Doch will dieses nicht sagen, dass jeder poetische Ausdruck seiner Kürze halber, sogleich in die gemeine Rede soll aufgenommen werden.

Aber auch bei der kürzesten Sprache, kommt noch sehr viel auf den Verstand des Redners an. Wer nicht gewohnt ist, überall die höchste Vollkommenheit zu suchen, die nur der Verstand sieht, trift nicht immer die größte Kürze. Sie ist also den Schriftstellern vorzüglich eigen, die ein zu höheren Wissenschaften aufgelegtes Genie mit Geschmack verbinden. Darum übertrift Haller in gebundener und ungebundener Rede, jeden anderen Deutschen. Schon in dieser Absicht allein, ist sein Usong ein höchst schätzbares Werk und kann zum Muster des kurzen Ausdrucks dienen.

 

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*) Si hæc non gesta audiretis, sed picta videretis: tamen appareret uter esset insidiator, uter nihil cogitaret mali. Cicero pro Milone.

**) D. i. Es ist ein geringer Unterschied zwischen dem, der wegen seiner Untätigkeit im Grabe der Vergessenheit liegt und dem, dessen Taten nicht mehr bekannt sind.


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