Künste - Moralische Funktion der Kunst
Und doch ist dieser höchstschätzbare Einfluss der schönen Künste nur noch als eine Vorbereitung zu ihrer höheren Nutzbarkeit anzusehen; sie tragen herrlichere Früchte, die aber nur auf diesem durch den Geschmack bearbeiteten Boden wachsen können [s. Geschmack]. Ein Volk, das glücklich sein soll, muss zuerst gute, seiner Größe und seinem Lande angemessene Gesetze haben. Diese sind ein Werk des Verstandes. Dann müssen gewisse Grundbegriffe, gewisse Hauptvorstellungen, die den wahren Nationalcharakter unterstützen, jedem einzelnen Bürger, so lebhaft als möglich ist, immer gegenwärtig sein, damit er seinen Charakter beständig behaupte. Bei größeren Gelegenheiten aber, wo Trägheit und Leidenschaft sich der Pflicht widersetzen, müssen Mittel vorhanden sein, dieser höheren Reiz zu geben. Diesen Dienst können die schönen Künste leisten. Sie haben tausend Gelegenheiten jene Grundbegriffe immer zu erwecken und unauslöschlich zu machen; und nur sie können, bei jenen besonderen Gelegenheiten, da sie einmal das Herz zur feinen Empfindsamkeit schon vorbereitet haben, durch inneren Zwang den Menschen zu seiner Pflicht anhalten. Nur sie können, vermittelst besonderer Arbeiten, jede Tugend, jede Empfindung eines rechtschaffenen Herzens, jede wohl tätige Handlung in ihrem vollen Reize darstellen. Welche empfindsame Seele wird ihnen widerstehen können? Oder wenn sie ihre Zauberkraft anwenden, uns die Bosheit, das Laster, jede verderbliche Handlung in der Hässlichkeit ihrer Natur und in der Abscheulichkeit ihrer Folgen darzustellen; wer wird sich noch unterstehen dürfen, nur einen Funken dazu in seinem Herzen glimmen zu lassen.
In Wahrheit, aus dem Menschen, dessen Einbildungskraft zum Gefühle des Schönen und dessen Herz zur Empfindsamkeit des Guten hinlänglich gestimmt ist, kann man durch eine weise Anwendung der schönen Künste alles machen, dessen er fähig ist. Der Philosoph darf nur die von ihm entdeckten praktischen Wahrheiten, der Stifter der Staaten seine Gesetze, der Menschenfreund seine Entwürfe, dem Künstler übergeben. Der gute Regent kann ihm seine Anschläge, dem Bürger sein wahres Interesse wert zu ma chen, nur mitteilen; er, den die Musen lieben, wird, wie ein anderer Orpheus, die Menschen selbst wider ihren Willen, aber mit sanftem liebenswürdigen Zwange, zu fleißiger Ausrichtung alles dessen bringen, was zu ihrer Glückseligkeit nötig ist.
Also müssen wir die schönen Künste als die notwendigen Gehülfen der Weisheit ansehen, die für das Wohlsein der Menschen sorgt. Sie weiß alles, was der Mensch sein soll; sie zeichnet den Weg zur Vollkommenheit und der notwendig damit verbundenen Glückseligkeit. Aber die Kräfte, diesen oft steilen Weg zu besteigen, kann sie nicht geben; die schönen Künste machen ihn eben und bestreuen ihn mit Blumen, die durch den lieblichsten Geruch den Wanderer zum weiteren Fortgehen unwiderstehlich anlocken.
Und dieses sind nicht etwa rednerische Lobeserhebungen, die nur auf einen Augenblick täuschen und wie leichter Nebel verschwinden, wenn die Strahlen der Vernunft darauf fallen; es ist der menschlichen Natur gemäß; der Verstand wirkt nichts als Kenntnis und in dieser liegt keine Kraft zu handeln. Soll die Wahrheit wirksam werden, so muss sie in Gestalt des Guten nicht erkannt, sondern empfunden werden, denn nur dieses reizt die Begehrungskräfte. Dieses sahen selbst die Stoiker ein, obgleich ihre Grundmaxime war, alle Empfindung zu verbannen und die ganze Seele bloß zu Vernunft zu machen. [Verbanne die Einbildung, sagt der große Marcus Aurelius, so bist du gerettet. In diesen Worten liegt der ganze Geist der stoischen Philosophie.] Dennoch war ihre Physiologie*) voll von Bildern und Erdichtungen, die durch die Einbildungskraft die Empfindung rege machen sollten; und keine andere Sekte war sorgfältiger als diese, die Aussprüche der Vernunft mit ästhetischer Kraft zu beleben. Der rohe Mensch ist bloß grobe Sinnlichkeit, die auf das thierische Leben abzielt; der Mensch, den der Stoiker bilden wollte, aber nie gebildet hat, wäre bloß Vernunft, ein bloß erkennendes und nie handelndes Wesen; der aber, den die schönen Künste bilden, steht zwischen jenen beiden gradein der Mitte; seine Sinnlichkeit besteht in einer verfeinerten inneren Empfindsamkeit, die den Menschen für das sittliche Leben wirksam macht.
Aber wir müssen alles gestehen. Die reizende Kraft der schönen Künste kann leicht zum Verderben der Menschen gemißbraucht werden; gleich jenem paradiesischen Baum, tragen sie Früchte des Guten und des Bösen und ein unüberlegter Genuß derselben kann den Menschen ins Verderben stürzen. Die verfeinerte Sinnlichkeit kann gefährliche Folgen haben, wann sie nicht unter der beständigen Führung der Vernunft angebaut wird. Die abenteuerlichen Ausschweifungen der verliebten oder politischen oder religiösen Schwärmereien, der verkehrte Geist fanatischer Sekten, Mönchs-Orden und ganzer Völker, was ist er anders als eine von Vernunft verlassene und dabei noch übertriebene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt die sybaritische Weichlichkeit, die den Menschen zu einem schwachen, verwöhnten und verächtlichen Geschöpfe macht. Es ist im Grund einerlei Empfindsamkeit, die Helden und Narren, Heilige und verruchte Bösewichter bildet.
Und wann die Kraft der schönen Künste in verräterische Hände kommt, so wird das herrlichste Gesundheitsmittel zum tötlichen Gifte, weil die liebenswürdige Gestalt der Tugend auch dem Laster eingeprägt wird. Dann läuft der betrogene Mensch im Schwindel der Trunkenheit gerade in die Arme der Verführerin, wo er seinen Untergang findet. Darum müssen die Künste in ihrer Anwendung notwendig unter der Vormundschaft der Vernunft stehen.
Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen sie von der Politik durch alle ersinnliche Mittel unterstützt und ermuntert und durch alle Stände der Bürger ausgebreitet zu werden; und wegen des Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muss eben diese Politik sie in ihren Verrichtungen einschränken. Schon allein in Rücksicht auf die Vorteile des guten und den Schaden des schlechten Geschmacks sollte eine wahrhaftig weise Gesetzgebung keinem Bürger erlauben, durch seine Häuser oder Gärten, wo von außen und innen anlockende Pracht, aber zugleich Mangel der Überlegung, Unschicklichkeit, Torheit, oder gar Wahnwitz herrscht, den Geschmack seiner Mitbürger zu verderben. Keinem Künstler sollte erlaubt sein, seine Kunst zu treiben, bis er außer den Proben seiner Kunst, auch Proben von Verstand und rechtschaffenen Gesinnungen gegeben hat. [Einige besondere hierher gehörige Anmerkungen finden sich in dem Artikel Künstler.] Es muss dem Gesetzgeber eine wichtige Angelegenheit sein, dass nicht nur öffentliche Denkmäler und Gebäude, sondern jeder sichtbare Gegenstand selbst aller mechanischen Künste das Gepräge des guten Geschmacks trage; so wie man dafür sorgt, dass nicht nur das Geld, sondern auch die metallenen Gerätschaften, das Gepräge der ächten Haltung bekommen. Ein weiser Regent sorgt nicht bloß dafür, dass öffentliche Feste und Feierlichkeiten und öffentliche Gebräuche, sondern selbst jedes häusliche Fest, jeder Privatgebrauch, durch den Einfluss der schönen Künste kräftiger und vorteilhafter auf die Gemüter der Bürger wirke.
Vornehmlich aber verdient das allgemeineste und wichtigste Instrument unserer vornehmsten Verrichtungen, die Sprache, eine besondere Aufmerksamkeit derer, denen die Besorgung der Wohlfahrt der Bürger anvertrauet ist. Es ist einer ganzen Nation höchst nachteilig, wenn ihre Sprache barbarisch, ungelenkig, zum Ausdrucke feinerer Empfindungen und scharfsinniger Gedanken ungeschickt ist. Wächst nicht Vernunft und guter Geschmack und wird nicht ihr Ge brauch gradein dem Maße erleichtert, nach welchem die Vollkommenheit der Sprache gemessen wird? Denn im Grunde ist sie nichts anders als Vernunft und guter Geschmack in körperliche Zeichen verwandelt. Warum sollte denn eine so gar wichtige Sache dem Zufall überlassen oder gar der Verpfuschung jedes wahnwitzigen Kopfes Preis gegeben werden. Wenn es wahr ist, dass die so berühmte Academie der Vierziger in Paris, bloß darum gestiftet worden, dass durch die Verbesserung der Sprache der Ruhm der französischen Ration sollte ausgebreitet werden, so hat der Stifter die Sache in dem schwächesten Lichte gesehen. Hier war mehr als Ruhm und Schimmer zu gewinnen. Ausbreitung und Vermehrung der Vernunft und des guten Geschmacks für die ganze Nation.**) Fast alle Künste vereinigen ihre Wirkung in den Schauspielen, daraus allein könnte das vortreflichste aller Mittel, den Menschen zu erhöhen, gemacht werden und doch ist es an den meisten Orten gerade das, was Geschmack und Sitten am meisten verderbt. Sollten nicht gegen die Verfälschung der Kunst Strafgesetze gemacht sein, wie gegen die Verfälschung des Geldes? Wie können die schönen Künste ihre wahre Nutzbarkeit erreichen, wenn jedem Toren erlaubt ist, sie zu mißbrauchen.
Wenn sie, so wie sie in ihrer Natur sind als Mittel zur Beförderung der menschlichen Glückseligkeit sol len gebraucht werden, so muss notwendig ihre Ausbreitung bis in die niedrigen Hütten der gemeinesten Bürger dringen und ihre Anwendung als ein wesentlicher Teil in das politische System der Regierung aufgenommen werden und ihnen gehört ein Anteil an den Schätzen, die durch die Arbeitsamkeit des Volks, zu Bestreitung des öffentlichen Aufwandes jährlich zusammen getragen werden.
Dieses wird freilich manchen vermeinten Staatsweisen wenig einleuchten und Philosophen selbst werden solche Vorschläge für Hirngespinste halten. In der Tat sind sie es, so lange wir den gegenwärtigen Geist der meisten politischen Verfassungen als etwas in seinen Grundsätzen unveränderliches voraussetzen. Wo äußere Macht, barer Reichtum und das, was beide befördert, für die erste Angelegenheit des Staates gehalten werden, so raten wir die schönen Künste zu verbannen und rufen denen, die die Geschäfte des Staates verwalten, mit dem römischen Dichter zu:
O! Cives cives, quaerenda pecunia primum est
Virtus post nummos.
Es kann von einigem Nutzen sein, wenn wir eine kurze Abbildung des Schicksals der schönen Künste und ihres gegenwärtigen Zustandes machen und es gegen das Gemälde halten, das wir nach dem Ideal derselben soeben entworfen haben.
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*) In der Philosophie der Alten wurde das System der Lehren vom Ursprung, der Regierung und dem endlichen Schikcksal der Welt und besonders des Menschen, das, was wir in Deutschland gegenwärtig, mit Ausschluß der Ontologie, die Metaphysik nennen, Physiologie genannt.
**) Die Nachläßigkeit der deutschen Regenten in diesem Stücke, ist unglaublich. Das wichtigste aller Mittel, die Menschen über das Tier empor zu heben, wird gerade als gar nichts geachtet. Man lässt jeden unsinnigen Kopf, dem es einfällt, dergleichen zu tun, in Zeitungen, Calendern, Wochenblättern, Büchern, Predigten, mit dem ganzen Volke in einer Sprache schwatzen, die voll Unsinn und Barbarei ist. Selbst der Majestät der Monarchen, wenn sie in Mandaten und Verordnungen, mit dem ganzen Volke, dessen Väter und Führer sie sind, sprechen, legt man nicht selten eine Sprache in den Mund, die voll Ungeschicklichkeit ist und wo auch die kleinste Spur des guten Geschmacks und der Überlegung vermißt wird.