Kunstrichter

Kunstrichter. Dieser Name kommt eigentlich nur demjenigen zu, der außer den Talenten und Kenntnissen des Kenners, wovon an seinem Orte gesprochen worden [s. Künstler] auch noch alle Kenntnisse des Künstlers besitzt, dem es also, um ein Künstler zu sein, nur an der Fertigkeit der Ausübung fehlt. Wie der Kenner beurteilt er den Wert eines Kunstwerks; aber überdem weiß er noch wie der Künstler zum Zweck gekommen ist: er kennt alle Mittel ein Werk vollkommen zu machen und entdeckt die nächsten Ursachen der Unvollkommenheit desselben. Sein Urteil geht nicht bloß auf die Erfindung, Anlage und die Wirkung eines Werks, sondern auf alles was zum mechanischen der Kunst gehört und er kennt auch die Schwierigkeiten der Ausübung.

Darum ist er der eigentliche Richter über alles, was zur Vollkommenheit eines Kunstwerks gehört und der beste Ratgeber des Künstlers; da der Kenner bloß dem Liebhaber zum Lehrer dient. Wer mit Ehren öffentlich als ein Kunstrichter auftreten will, muss sowohl den Kenner als den Künstler zurechte weisen können. Wenn jener mehr verlangt als von der Kunst zu erwarten ist, muss er ihm sagen, warum seine Erwartung nicht kann befriediget werden und wann dieser gefehlet hat, muss er ihm zeigen, wo der Mangel liegt und durch was für Mittel ihm hätte kön nen abgeholfen werden. Wenn man bedenkt, wie viel Talente und Kenntnisse zu einem wahren Kunstrichter gehören, so wird man leicht begreifen, dass er eben so selten als ein guter Künstler sein müsse.

Es ist wahr, die Künste sind ohne Hilfe der Kunstrichter zu einem hohen Grad der Vollkommenheit gestiegen. Aber dieses beweiset nicht, dass im Reiche der Künste, der Kunstrichter eine überflüssige Person sei. Der Geist des Menschen hat von der Natur einen keine Grenzen kennenden Trieb, nach immer höher steigender Vollkommenheit, zum Geschenke bekommen. Wer wird sich also unterstehen ihm Schranken zu setzen? So lange die Kritik einen höheren Grad der Vollkommenheit sieht, kann niemand sagen, dass er über Kräfte der Kunst reiche.

Doch kann auch dieses nicht geläugnet werden, dass die Künste meistenteils ihrem Verfall am nächsten gewesen, wenn die Kritik und die Menge der Kunstrichter aufs höchste gestiegen sind. Die Griechischen Dichter, die später als Aristoteles gelebt haben, scheinen weit unter denen zu sein, die vor diesem Kunstrichter gewesen sind. Und wer wird sich getrauen zu behaupten, dass die Lateinische Dichtkunst nach Horaz oder die Französische nach Boileau höher gestiegen sei, nachdem diese Kunstrichter das Licht der Kritik haben scheinen lassen?

Aber dieses beweißt nichts gegen die Kritik. Die vortreflichsten Werke der Kunst mögen immer älter als sie sein, so wie die edelsten Taten, der Philosophischen Kenntnis der Sittenlehre können vorhergegangen sein. Man hat große Heerführer und große Kriegestaten gesehen, ehe man über die Kriegeskunst geschrieben hat und vor der Philosophie gab es große Philosophen. Dieses beweißt blos, dass die Bestrebungen des Genies nicht von Theorien und Untersuchungen abhangen, sondern ganz andere Veranlassungen haben. Der Mangel des Genies kann durch die helleste Kritik nicht ersetzt werden; und wenn auch dieses vorhanden ist, so wird es nicht durch Kenntnis der Regeln sondern durch innerliche Triebe, die von irgend einer Notwendigkeit herkommen in Wirksamkeit gesetzt. Der Mensch dem die Natur alles gegeben hat, sinnreich und erfinderisch zu werden, wird es doch erst dann, wenn ihn irgend eine Not antreibt, seine Kräfte zusammen zu nehmen. Diese Bestrebung entsteht freilich nicht aus der Kritik. Schon Äschylus hat angemerkt, dass die Notwendigkeit und nicht die Kenntnis der Kunst dem Genie seine Stärke gibt2. Aber diese Kräfte haben eine Lenkung nötig, um den nächsten Weg einzuschlagen, der zum Zweck führt.

Man erkennt deutlich, warum nicht eher große Kunstrichter entstehen können als bis große Künstler gewesen sind. Denn aus Betrachtung der Kunstwerke entsteht die Kritik. Dass aber die Künste fallen, nachdem die Kritik das Haupt empor hebt, muss von zufälligen Ursachen herkommen. Denn in der deutlichen Kenntnis der Kunst, kann der Grund von der Untätigkeit des Genies nicht liegen.

Freilich kann eine falsche und spitzfindige Kritik den Künsten selbst sehr schädlich werden, wie eine spitzfindige Moral einen sehr schlimmen Einfluss auf die Sitten haben kann. Es ist tausendmahl besser dass die Menschen von gutem sittlichen Gefühl nach ihren natürlichen und unverdorbenen Empfindungen als nach Grundsätzen und Lehren einer Sophistischen Sittenlehre handeln. Und in diesem Falle sind auch Künstler von gutem natürlichen Genie in Beziehung auf eine spitzfindige Kritik. Nur so lange als sie aus ächten Grundsätzen, ohne Zwang und Sophisterei natürliche Folgen zieht, wird sie unfehlbar dem Genie der Künstler nützlich werden. Aber sie ist der Gefahr auszuarten und den Künsten zu schaden, ausgesetzt; so bald sie zu einem gewissen Grad des Flors und äußerlichen Ansehens gestiegen ist. Die ersten Kunstrichter widmeten ihr Nachdenken der Theorie der Künste, weil die Natur ihnen das besondere Genie zu Untersuchungen dieser Art gegeben hatte: was sie bemerkten und entdeckten, hatte das Gepräg der Gründlichkeit, ob es gleich noch nicht allgemein und vollständig genug war. Nachdem einmal die Kritik durch dergleichen Bemerkungen mit Sätzen so weit bereichert worden, dass es der Mühe wert war, sie in ein System zu sammeln; so wurde sie zu einer Wissenschaft, die nun auch mittelmäßigen und seichten Köpfen in die Augen leuchtete. Nicht nur Männer von Genie, sondern auch bloße Liebhaber ohne Talente wiedmeten ihr ihre Zeit. Diese bildeten sich ein, man könne sie lernen, weil die Kunstsprache und die einmal in die Wissenschaft aufgenommenen Sätze sich leicht ins Gedächtnis fassen lassen. Was also im Anfang die Frucht des wahren Genies war, wurde nun zur Modewissenschaft, auf welche sich Leute ohne Genie und Talente legten. Jeder seichte Kopf, der sie ohne Verstand bloß durch das Gedächtnis gefasst hatte, versuchte sie mit seinen eigenen Sätzen, mit neuen Wörtern, an denen das Genie keinen Anteil hatte, zu bereichern; und so wurde die Kritik zulezt zu einem Gewäsche, in welchem man nur mit großer Mühe, die von den wahren Kunstrichtern gemachten Entdekungen noch wahrnehmen konnte. Wenn nun zugleich auch Menschen ohne natürlichen Beruf sich auf die Künste legen; so glauben sie dieselben aus den Theorien erlernen zu können: und so werden Künste und Kritik zugleich verdorben. Dieses Schikcksal haben unter den Griechen die Rhetorik und zugleich die Beredsamkeit gehabt. Aristoteles, der als ein Mann von Genie über diese Kunst geschrieben hatte, bekam tau send Nachfolger ohne Genie, welche nach und nach die Theorie der Kunst in einen beinahe leeren Wortkram verwandelten: so dass man zulezt in einem einzigen Worte aus der Ilias acht verschiedene rhetorische Figuren entdeckte, deren jede ihren besonderen Namen hatte. Und nun gab es auch schwache Köpfe, die aus den Rhetoriken die Beredsamkeit erlernen wollten. Auf diese Weise musste die Kunst durch die Kritik zu Grunde gehen. Dieses Schikcksal haben die schönen Künste mit den Wissenschaften gemein: so ist es der Logik, der Metaphysik, der Sittenlehre und überhaupt der ganzen Philosophie gegangen. Die schätzbaresten Erfindungen des menschlichen Genies werden allmählich verdorben, nachdem sie so weit gekommen sind, dass sie durch ihren äußerlichen Glanz die eitele Ehrsucht schwacher Köpfe reizen. Diese wollen denn das ihrige auch dazu beitragen; da es ihnen aber an Genie fehlt, so besteht ihr Beitrag in einem leeren Wortgepräng und einer Menge willkürlicher und sophistischer Sätze, die sie für Wahrheiten ausgeben; und so fällt die ganze Erfindung in eine finstere Barbarei. Der, welcher zuerst auf die Gedanken gekommen ist, einen wilden Baume durch Verpflanzung in bessern Boden, durch Wartung und durch Beschneiden zu verbessern, war ein Mann von Genie, der Erfinder der Pflanzkunst; der aber, der endlich, um auch etwas Neues in dieser Kunst zu erfinden, den kindi schen Einfall gehabt, dem Baume durch Beschneiden die Form einer Säule oder eines Tieres zu geben, hat den Ruhm, der Kunst den letzten tödlichen Streich versetzt zu haben.

Man muss es deswegen nicht der Kritik selbst, nicht den Kunstrichtern von Genie, sondern den Sophisten, die aus dieser Wissenschaft ein Handwerk gemacht haben, zuschreiben, wenn die schönen Künste durch Theorien verdorben werden. Den echten Kunstrichter wollen wir als den Lehrer des Künstlers ansehen und diesem raten auf seine Stimme zu horchen. Zwar scheint es, dass der Künstler auch der beste Richter über die Kunst sein sollte. Wenn man aber bedenkt, wie viel Zeit, Nachdenken und Fleiß die Ausübung erfordert; so lässt sich begreifen, dass ein zur Kunst geborenes Genie, (und ein solches muss der Kunstrichter sein) das sich selbst mit der Ausübung nicht beschäftigt, in gar vielen zur Kunst gehörigen Dingen noch weiter sehen muss als der Künstler selbst.


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