Klassisch

Klassisch. (Redende Künste) Klassische Schriftsteller werden diejenigen genannt, die als Muster der guten und feinen Schreibart können angesehen werden; denn klassisch bedeutet in diesem Ausdruck so viel als von der ersten oder obersten Klasse. Wer Sachen schreibt, die gründlich gedacht und so ausgedruckt sind, dass Personen von reiffem Verstand und gutem Geschmack nicht nur an jedem Gedanken, sondern auch an jedem einzeln Ausdruck Gefallen haben, der gehört in diese Klasse. Nur die Nationen können solche Schriftsteller haben, bei denen die Vernunft sich auf einen hohen Grad entwickelt hat; wo das gesellschaftliche Leben und der tägliche Umgang zu einer Vollkommenheit gestiegen ist, dass der Verstand und der feine Geschmack die Sinnlichkeit weit überwiegt. Nur dann fangen die Menschen an, an Gegenständen, die bloß auf den Verstand und auf die feinern Empfindungen wirken, ein Vergnügen zu haben. Dieses wirkt bei denen, die vorzüglichen Verstand und Geschmack haben, das Bestreben, auch die Gegenstände, die nicht stark auf die Sinne wirken, mit Aufmerksamkeit zu betrachten, die feinern Beziehungen der Dinge zu bemerken und dadurch für die Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens ein neues Feld zu eröfnen, das wegen der unendlichen Mannigfaltigkeit der Gegenstände unerschöpflich ist. Sie entdecken in der Geister welt, in den Gedanken und Empfindungen, eine neue Natur, eine Welt, die an intereßanten Begebenheiten, an mannigfaltigen Verwicklungen, an vortreflichen Aussichten, weit fruchtbarer, und an Vergnügungen weit reicher ist als die gröbere, bloß auf die äußeren Sinne wirkende Natur. Wer einmal mit dieser unsichtbaren Welt bekannt worden, der führt alles, was zur feinsten Ergötzlichkeit, zur angenehmsten Unterhaltung nötig ist, beständig mit sich, und entfaltet in dem gesellschaftlichen Leben mancherlei Szenen dieser unsichtbaren Natur; er macht die, welche mit ihm umgehen, aufmerksam darauf und so breitet sich ein feiner Geschmack an Gegenständen des Verstandes und des Witzes nach und nach in der menschlichen Gesellschaft aus. Man lernt Dinge hochschätzen, die in einem rohern Zustand, ganz unbemerkt geblieben sind; man sieht diejenigen, welche die neuen Quellen dieses feinen Vergnügens eröfnet haben als wohltätige und für die Gesellschaft wichtige Männer an. Durch diese Ehre ermuntert verdoppeln sie ihre Kräfte, dringen immer tiefer in die Beobachtung der sittlichen Welt hinein, und wenden die äußerste Sorgfalt an, alles was sie bemerkt haben, anderen auf die vollkommenste Art mitzuteilen. So breitet sich Verstand und Geschmack nach und nach über die feinen Gesellschaften aus. Dann erscheinen die Schriftsteller, die auch für die Nachwelt klassisch bleiben, weil sie aus der unveränderlichen Quelle alles Guten und Schönen, der Natur, geschöpft haben.

  Es scheint, dass der Mensch ein gewisses Maas von Verstandeskräften habe, in die Beschaffenheit sittlicher Gegenstände einzudringen, welches er nicht überschreiten kann und dass die besten Köpfe jeder Nation, die sich die Kultur des Verstandes ernstlich hat angelegen sein lassen, den höchsten Grad dieses Maasses erreichen. Daher geschieht es denn, dass die Schriften dieser Männer, in welcher Nation und in welchem Jahrhundert sie gelebt haben mögen, jeder anderen Nation, die ungefähr auch den höchsten Grad der Vernunft erreicht hat, notwendig gefallen müssen. Diese sind dann die wahren klassischen Schriftsteller für alle Völker.

  Der beste Schriftsteller einer Nation aber, die jenen hohen Grad der Kultur noch nicht erreicht hat, kann seiner Nation sehr gefallen, kann einen allgemeinen Ruhm bei seinen Zeitverwandten haben, ohne in die Zahl der klassischen Schriftsteller zu gehören. Nicht die besten jeder Nation sind klassische Schriftsteller, sondern die besten der Nation, welche die Kultur der Vernunft auf das höchste gebracht hat.

 Auch nicht die Kultur des Verstandes, die nur auf das abstrakte Denken geht, die alle Begriffe bis auf das einfachste auflöset, bildet solche Schriftsteller; denn unter allen Scholastikern findet sich keiner. Also können die strengen Wissenschaften unter einem Volke auf einen hohen Grad der Vollkommenheit gestiegen sein, ohne dass sie einen einzigen klassischen Schriftsteller hat. Der klassische Verstand geht nicht auf das Abstrakte; er setzt das Mannigfaltige in einer Sache nicht aus einander, sondern weiß es in seiner Mannigfaltigkeit einfach zu sagen und es dem anschauenden Erkenntnis klar darzustellen. Er macht mehr feine, ein durchdringendes Auge erfordernde Beobachtungen als richtige auf die Entwicklung der Begriffe gegründete Schlüsse. Der abstrakte Denker sagt mit viel Worten wenig, weil er bloß die höchste Gewissheit zum Augenmerk hat: der klassische Denker sagt in wenig Worten viel und gibt uns durch einen kurzen und leicht zu fassenden Spruch, das Resultat eines langen und scharfen Nachdenkens.

 Der scharfe Beobachtungsgeist, der die Haupteigenschaft eines klassischen Kopfs ist, entwickelt sich nicht durch das Studium der abstrakten Wissenschaften; wird nicht durch die Arbeit im Kabinet ausgebildet, sondern in der Welt, unter Geschäften und vornehmlich durch den Umgang mit Menschen, die denselben schon besitzen. Nicht die Schulen, sondern die Gesellschaft, da wo sie sich am meisten mit großen Gegenständen beschäftigt, wo die schnelle Anstrengung der Verstandeskräfte notwendig wird, wo man vieles auf einmal übersehen und sich angewöhnen muss, auch ohne methodisches Nachdenken gründlich zu sein, geben dem Geist die Stärke, die männliche Kühnheit und die Sicherheit, welche zum klassischen Denken nötig ist. Doch kann ein glückliches Genie, durch den bloßen lebendigen oder toten Umgang mit wahrhaftig klassischen Köpfen, sich selbst zum klassischen Schriftsteller bilden.

 Wenn diese Anmerkungen ihre Richtigkeit haben, so können daher die Gründe angegeben werden, warum ohne irgend einen Mangel an Genie, bis jetzt noch so wenig deutsche Schriftsteller sich hervorgetan haben, von denen man vermuten kann, dass sie, sowohl bei der deutschen Nachwelt als auch bei anderen Nationen als klassische Schriftsteller werden angesehen werden. Dass überhaupt aller Orten mehr klassische Dichter als andere klassische Schriftsteller erscheinen, lässt sich leicht begreifen. Die Einbildungskraft und die Empfindungen zeigen sich allemal früher als der Verstand und der Beobachtungsgeist; also können sie in einer Nation auch eher zur Vollkommenheit kommen als die Talente, die nur auf eine gewisse Größe des Verstandes gegründet sind. Daher ist es, wie Cicero angemerkt hat,1 leichter, einen großen Dichter als einen großen Redner anzutreffen.

 

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1 Multo tamen pauciores oratores quam poetae boni reperientur. Cic. de Orat. Lib. I.

 


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