Kanon. (Musik) In der Musik der alten Griechen bedeutete dieses Wort das, was man jetzt ein Monochord nennt, nämlich eine gespannte Saite, auf einem Brett, worauf die Länge der Saite so eingeteilt war, dass man leicht alle gebräuchliche Intervalle darauf haben konnte. S. Monochord.
Gegenwärtig bedeutet es, ein zwei- oder mehr stimmiges Tonstück, darin eine Partie oder Stimme, nach der anderen eintritt und denselben Satz oder dasselbe Thema, höher oder tiefer singt und beständig wiederholt, dergestallt, dass ein solcher Gesang nie zu Ende kommt, sondern so lange fortgesetzt werden kann als man will, wie aus folgendem Beispiel zu sehen ist. Dieser Kanon ist zweistimmig; der Alt fängt den Gesang an; einen halben Takt später und eine Quarte höher, fängt der Diskant denselben Gesang an. Nach dem vierten Takt wiederholt jede Stimme ihren Gesang und so singt der Diskant beständig die Melodie des Alts einen halben Takt später und eine Quarte höher, so lange, als man will. Weil ein solcher Gesang niemals zu Ende kommt, so wird er von einigen eine Kreisfuge oder ein unaufhörlicher Kanon genannt. (Kanon perpetuus.) Auf diese Art kann der Kanon in mehreren Stimmen gesetzt werden, davon immer eine später, als die andere eintritt und den Gesang um ein bestimmtes Intervall höher oder tiefer wiederholt.
Man kann also einen solchen Kanon, so viel Stimmen er haben mag, auf ein einziges System schreiben, wenn man nur die Zeit des Eintritts der übrigen Stimmen und die Höhe, darauf sie eintreten, anzeigt, wie in diesem Beispiel: Bei dem Zeichen § 4 tritt die zweite Stimme eine Quarte höher, bei § 8 die dritte eine Oktave höher und bei § 11 die vierte eine Undezime höher ein. Diese kurze Bezeichnung enthält also die vollständige Regel oder Vorschrift eines vierstimmigen Gesangs und hat eben davon den Namen Canon bekommen, welches Wort eine Regel oder Vorschrift bedeutet.
Wenn in einem ordentlichen Tonstück einzelne Stellen von dieser Art vorkommen, da eine Stimme nur eine kurze Stelle einer anderen Stimme wiederholt, so gibt man auch solchen einzeln Stellen bisweilen den Namen Kanon; gemeiniglich aber werden sie kanonische Nachahmungen genannt.
Ehedem, da die Liebhaber des Satzes einander in künstlichen Aufgaben übten, legten sie einander solche Kanons, ohne die, zu völliger Aussetzung der Stimmen, nötigen Zeichen vor und begnügten sich blos, etwa die Anzahl der Stimmen feste zu setzen. Dieses waren musikalische Rätsel, die einer dem anderen aufgab und daher kommt der Ausdruck, einen Kanon auflösen.
Der Kanon wird auch so gemacht, dass jede Stimme bei jeder Wiederholung des Satzes, denselben um ein gewisses Intervall höher nimmt. Man hat z. B. solche, da das Thema zwölfmal wiederholt wird, jedesmal den nächsten halben Ton der Tonleiter seines Grundtons höher und so, dass das Thema durch alle zwölf Töne seiner Tonart, durch geführt wird. Ein solcher Kanon wird in der Kunstsprache Canon per tonos genannt.
Wenn aber auch die nachahmenden Stimmen das Thema der ersten nicht genau wiederholen, sondern nur unter gewissen ganz bestimmten Bedingungen, so behält das Stück doch den Namen des Kanons. Dergleichen Bedingungen sind z. B. dass das Thema in der Nachahmung die Gattung der Noten ändere und aus Vierteln Achtel oder halbe Takte mache, dadurch die Arten herauskommen, die man Canones per diminutionem und C. p. augmentationem nennt – dass die nachahmende Stimme sich der führenden entgegen bewege; daher Kanon in motu contrario – u. s. f. Man hat so gar solche, da die nachahmende Stimme das Thema rückwärts singt, indem die führende ordentlich fortgeht oder solche, da eine Stimme ihren Gesang führt, wie er auf dem Papier geschrieben ist, da die andere dasselbe so vorträgt, wie die Noten liegen würden, wenn man das Papier umkehrte. Von diesen und noch viel anderen Arten des Kanons, können Liebhaber in Marpurgs Abhandlung von der Fuge, nicht nur vielfältige Beispiele, sondern auch die zu ihrer Verfertigung dienende Regel finden.
Obgleich viel von dieser Materie in die Klasse der Dinge gehört, die Martialis difficiles nugas nennt, so ist doch nicht zu leugnen, dass nicht die Kunst des Kanons wirklich ein wichtiger Teil der Setzkunst sei. Denn
1. Gibt es Gelegenheiten, wo der Setzer zu dem besten Ausdruck seines Textes wirklich kanonische Nachahmungen nötig hat. In vielstimmigen Sachen, Arien, Symphonien, Konzerten, besonders aber in Duetten und Terztten, kommen dergleichen überall vor, die allerdings nur der Setzer, der sich in dergleichen, vielen altväterisch scheinenden, Sachen geübt hat, ohne Fehler machen wird.
2. Wenn in verschiedenen Stimmen feine Nachahmungen bald freiere, bald gebundenere vorkommen, so wird dadurch die wahre Einheit des Gesangs beibehalten. Da hingegen ein seltsames Gemisch entstehen würde, wenn man jeder Stimme und bald in jedem Takt, eine andere Gestalt der Melodie geben wollte. Darin aber ist nur der recht glücklich, der sich in dem kanonischen Satz wohl geübt hat.
3. Überhaupt aber gibt diese Übung dem Setzer eine Fertigkeit, auf alle mögliche Weise eine Harmonie und Melodie zu verwechseln, und immer rein zu erhalten, welches ihm unfehlbar dazu dient, sich aus allen vorkommenden Schwierigkeiten heraus zu helfen.
Also würde es der Musik gewiss nicht zum Vorteil gereichen, wenn dergleichen Übungen gänzlich abkommen sollten. Es wäre leicht zu zeigen, dass der unsterbliche Graun seine Duette und Terztte in den berlinischen Opern, welche unter die vortreflichsten Werke der Musik, die man jemals gesehen hat, gehören, nicht in dieser großen Vollkommenheit würde verfertigt haben, wenn ihm die Künste des kanonischen Kontrapunkts unbekannt gewesen wären. Allein seine Zeit damit allein zubringen und sich selbst bereden, dass allein darin die wahre Kunst des Komponisten bestehe, ist freilich eine Torheit, die man den Liebhabern des musikalischen Satzes benehmen muss.