Äneis. Ein episches Gedicht des Virgils, dessen Inhalt die Unternehmungen des Äneas sind, die auf seine Niederlassung in Italien abzielen. Eine von den wenigen Epopöen, welche von allen Kennern bewundert und so lange wird gelesen werden als guter Geschmack in der Welt sein wird.
Der Plan dieses Gedichts ist überaus weitläufig, indem der Dichter nicht nur die Zerstörung der Stadt Troja als die Gelegenheit des Auszuges seines Helden, nebst seinen weitläufigen Wanderungen in verschiedene Länder; sondern auch die auf seine Niederlassung in Italien erfolgten Kriege hineingebracht hat. Diese Weitläufigkeit könnte uns den Verdacht erwecken, dass er einiges Misstrauen in die schöpferische Kraft seines Genie gesetzt habe. Er hat die Begebenheiten von vielen Jahren und Zeiten und Ländern, mit nicht mehr Mannigfaltigkeit behandelt als Homer eine Geschichte von wenigen Tagen. Diese Art der Kleinmütigkeit zeigt sich auch in den beständigen Nachahmungen des Griechen, die sich sowohl auf ganze Episoden als auf besondere Begegnissen und sogar auf einzelne Verse erstreckt.1 Wo dieser Hauptführer ihm fehlt, da hilft er sich mit anderen griechischen Dichtern. Vielleicht war seine Bescheidenheit zu groß? Man entdeckt doch ein Genie in ihm, das stark genug möchte gewesen sein ein Original zu machen.
Die Begebenheiten sind in der schönsten Verbindung und folgen überall aus einer Quelle, die der Dichter keinen Augenblick aus dem Gesicht verliert. In dem Plan selbst herrscht eine sehr feine Kunst. Alles zielt auf die Hoheit des römischen Reichs, auf die Veranstaltung der Götter, dasselbe über alle Mächte zu erheben, und auf den besonderen Glanz des Hauses der Julier ab, welche beide Dinge vollkommen vereinigt sind. Ohne Zweifel hat der Dichter das seinige mit beitragen wollen, dem römischen Volke die Herrschaft der Cäsaren nicht nur erträglich, sondern angenehm und verehrungswürdig zu machen. Insofern hat dieses Gedicht wenig moralische Verdienste und Virgil konnte auch deswegen den Römern niemals das werden, was Homer den Griechen gewesen ist. Allein wir beurteilen hier nicht den Menschen2 sondern den Dichter.
Die Charaktere der handelnden Personen entwickeln sich in der Äneis nicht sonderlich und bei weitem nicht so, wie in der Ilias; woran zum Teil die große Weitläufigkeit der Materie Schuld ist. Die, welche sich am deutlichsten entwicklen, setzen uns in keine große Bewunderung oder Bewegung. Wir lernen Menschen kennen, wie die sind, mit denen wir leben, da uns Homer Menschen vom Heldengeschlechte zeigt. Die Reden bestehen oft aus etwas allgemeinen Sprü chen, die sich für andere Personen eben so gut schickten. Schlechte und gemeine Gedanken sind zwar nicht da, aber auch wenig ganz hohe. Man sieht gar wohl, dass der Dichter selbst das mittelmäßige der Charaktere seiner Zeit angenommen, wo das heroische der alten römischen Tugend nicht mehr gangbar war. Die Schwachheiten dieses Gedichts sind nicht Schwachheiten des Dichters, sondern seiner Zeit. Sehr selten erhebt sich ein Genie über seine Zeit und wenn es geschieht, so erlangt er gewiss keinen Beifall.
Im Ausdruck und in der Mechanik der Sprache ist er unverbesserlich, man wünscht bald jeden Vers auswendig zu behalten. Er ist kürzer im Ausdruck als Homer; ob gleich die lateinische Sprache schwieriger war als die griechische, zu aller der Anmut und Beugsamkeit erhoben zu werden, die er ihr gegeben hat. Seine Beiwörter sind immer nachdrücklich, malerisch und bezeichnen die Natur der Sache genau. Die Begriffe sind enge zusammen gepreßt und man wird ohne Ruhe fortgerissen. Überhaupt hat der Dichter die Poesie der Sprache im höchsten Grade der Vollkommenheit besessen.
Seine Schildereien erheben sich mehr durch die Höhe und den Glanz der Farben als durch die Wahl der Umstände und durch die Höhe der Gedanken. Das feinste und verborgenste der Kunst, in jedem besonderen Teil derselben, hatte er völlig in seiner Gewalt. Dabei blieb er immer bei sich selbst und seines Plans eingedenk. Die Hitze des Genies riss ihn niemals aus seiner Bahn weg. Er ist der größte Künstler und sein Genie ist durch das Studium zu aller Vollkommenheit erhoben worden, deren er fähig war. Wenn die Äneis nicht die erhabenste und wunderbareste Epopöe ist, so ist sie doch die untadelhafteste.
Jedoch kann man dem Virgil das Vermögen sich bis zum Erhabenen zu schwingen keinesweges absprechen. Die Schilderei im zweiten Buche, da die Venus dem Äneas die unwiderstehliche Gewalt vorstellt, wodurch Troja sollte in ihren Untergang gerissen werden, ist von sehr erhabener Art. Neptun erschüttert in den Tiefen die untersten Fundamente der Stadt; Juno hält mit Gewalt den Griechen die Tohre offen und treibt sie in einer Art von Wut von den Schiffen zum Sturm; Pallas zerstört selbst die festesten Schlösser und Jupiter reizt Götter und Menschen zum Zorn gegen diese unglückliche Stadt. Ein großes und wunderbares Gemälde!
Eine der vorhergehenden Anmerkungen macht begreiflich, warum dieses vortrefliche Gedicht in Rom nicht zu der Verehrung ist aufgestellt worden als die Ilias und die Odyssea in Griechenland. Homer war der vollkommenste Dichter für die Griechen; aber Virgil war es nicht für die Römer, die zu seiner Zeit doch noch nicht alle Stärke ihres ehemaligen Charakters verloren hatten. Da er aber der Dichter aller Menschen von feinem Geschmack und einem etwas ruhigen Temperament ist, da seine Materie und seine Charaktere allgemeiner sind als die, welche Homer behandelt, so ist auch sein Ruhm unter den Neuern, deren Art zu denken der seinigen näher kommt, allgemeiner geworden.
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1 S. Della ragion poetica di Vinc. Gravina Lib. I. c. 23. Macrob. Saturna.Lib. V. & VI.
2 Einige feine Betrachtungen über diesen Dichter, aus einem moralischen Gesichtspunkt, findet man in zwei Todtengesprächen, welche der neuesten Ausgabe der neuen kritischen Briefe des Herrn Bodmers angehängt sind.