Anstößig. (Schöne Künste) Man braucht dieses Wort gemeinhin um dasjenige anzudeuten, was den sittlichen Grundbegriffen entgegen ist; es schickt sich aber eben so gut, einen in der Theorie der schönen Künste wichtigen Begriff auszudrücken, für den man noch kein Wort angenommen hat. Es zeigen sich nämlich in den Werken der Kunst bisweilen solche Fehler, die den notwendigsten Grundbegriffen entgegen sind, die man deswegen mit dem Namen des Anstößigen belegen kann; solche Fehler also, über welche niemals ein Zweifel entstehen kann, weil sie geradezu dem entgegen sind, was jedermann erwartet.
So ist es in einem Gebäude anstößig, wenn eine Säule, die notwendig senkrecht stehen muss, überhängt; oder wenn ein Boden, der notwendig wagenrecht liegen sollte, sich senkt. So auch in anderen Sachen ist das Anstößige allezeit dem Wesen der Sachen gerade entgegen. Es geschieht öfterer als man es vermuten sollte, dass Künstler das Wesen der Sachen aus dem Gesichte verlieren und dann mit Zuversichtlichkeit ganz anstößige Sachen zulassen. Am öftersten trifft man dieses in der Baukunst an, wo auch gute Baumeister die wahre Natur oder die ursprüngliche Beschaffenheit einiger Sachen, aus der Acht lassen. Daher kommt es, dass man so oft das, was seiner Natur nach ganz ist, gebrochen, was notwendig gerade sein sollte, krumm, was stark sein sollte, schwach macht. Gebrochene Giebel, verkröpfte Gebälke, Säulen oder Pfeiler, die nichts tragen oder von nichts getragen werden. Am meisten kommt das Anstößige in den Verzierungen vor. Man verwandelt Stürze über Camine, die notwendig ein Gebälk vorstellen müssen, in zwei gegen einander laufende Schnürkel, die in der Mitte durch eine Muschel oder auch wohl durch Eiszapfen mit einander verbunden sind und man lässt Lasten auf Laubwerk ruhen. Aber die Baumeister sind nicht die einzigen, die in das Anstößige fallen. Man trifft es auch in anderen Künsten an. Die Maler drängen oft eine Menge Personen in einen Raum zusammen, wo sie schlechterdings nicht Platz haben können; sie bringen Licht dahin, wo es unmöglich hinfallen kann; sie zeichnen Figuren in unmöglichen Stellungen. Dahin gehören auch alle Fehler gegen die Perspektive, weil sie alle dem notwendigen entgegen sind.
In den Schauspielen trifft man das Anstößige oft an. Plautus versetzt seine Zuhörer bisweilen aus Athen nach Rom oder lässt sie vielmehr zu gleicher Zeit an beiden Orten sein; auch ist oft eine handelnde Person zugleich der, den er vorstellt und auch das, was er wirklich ist, ein bloßer Komödiant. So ist es anstößig, wenn Sachen, die schlechterdings Geheimnisse sein sollen, laut ausgerufen werden; wenn in Selbstgesprächen die Personen das Wort an die Zuschauer richten, wodurch sie zugleich allein und doch auch in Gesellschaft sind.
Das Anstößige gehört unter die wichtigsten Fehler, besonders deswegen, weil es die Täuschung, die so oft der vornehmste Grund der guten Wirkung eines Werks ist, gänzlich vernichtet. Es beleidiget die Vorstellungskraft so sehr, dass man gezwungen wird, das Auge von dem beleidigenden Gegenstand wegzuwenden. So wie bisweilen ein einziger kleiner Spaß eine sehr ernsthafte Szene lächerlich machen kann; so kann auch das Anstößige, in einem einzigen Teile, die Wirkung eines sonst guten Werks völlig auf heben.
Geschickte Künstler fallen bloß aus Unachtsamkeit in diesen Fehler, den sie also durch eine strenge Aufmerksamkeit auf die Natur jedes einzelnen Teiles ihrer Werke leicht vermeiden. Wer nur auf die Wirkung des Ganzen sieht und sich die Mühe nicht gibt, jeden einzeln Teil in besondere Aufmerksamkeit zu nehmen, kann leicht darein fallen.