Anfang. (Schöne Künste) Aristoteles welcher angemerkt hat, dass jeder Gegenstand, der ein schönes ganzes ausmacht einen Anfang und ein Ende habe, sagt: der Anfang sei dasjenige, dem in derselben Sache nichts vorher gehen könne und was allen anderen Dingen vorher gehen müsse. Der Anfang der Begebenheiten, welche die ganze Handlung der Ilias ausmachen, ist der Streit, zwischen Achilles und Agamemnon; denn alles, was nachher geschehen ist, war eine Folge dieses Streits: hingegen gehört das, was diesem Streit vorher gegangen, nicht zu dieser Handlung. Man kann die ganze Handlung vollkommen begreifen, wenn man auch von dem, was diesem Anfang vorher gegangen ist, keine Nachricht hat: es liegt ganz außer der Kette dieser Begebenheit.
Ohne einen Anfang kann man sich demnach keine Reihe von Dingen vollkommen vorstellen; weil man nicht begreift, warum die Sachen da sind. Es gehört notwendig zu der Vollkommenheit eines Werks von Geschmack, dass es einen bestimmten Anfang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der Ilias besungen hätte, ohne uns zu sagen, warum Achilles sich von dem Heer entfernt habe und warum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, so würde uns das Vornehmste der Handlung gefehlt haben: dieses aber der Erzählung vorher gesetzt, gibt uns den vollen Aufschluß zu der Sache; und wir bekommen dadurch eine vollständige Vorstellung, dessen, was der Dichter hat besingen wollen; wir werden völlig befriediget, nachdem wir den Anfaug, den Fortgang und das Ende der Sache erkennt haben.
Hieraus folgt, dass der epische Dichter, welcher eine vollständige Handlung erzählt oder der dramatische, der sie uns auf der Schaubühne vorstellt, sorgfältig sein müssen, den Anfang der Handlung deutlich vor Augen zu legen. Dabei aber haben sie einige Vorsichtigkeit nötig, weil dieses mit mehr oder weniger guter Wirkung geschehen kann. Die Sache ist der Mühe wert ausführlich entwickelt zu werden.
Weil der Anfang das erste in der Sache ist, dem nichts, was zu derselben gehört, vorhergehen kann, so muss die Handlung mit nichts anfangen, was wirklich vor ihr gewesen ist. Dieses wäre ein verwerflicher Überfluss. Die Vorstellungskraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht gehört, beschäftigt. In diesen Fehler ist Euripides bisweilen gefallen. In der Hekuba lässt er zum Anfange der Handlung diese Königinn auftreten und kläglich tun, noch ehe der der Zuschauer weiß, welches Elend, das eigentlich der Inhalt des Stücks ist, ihr bevorsteht. Der wahre Anfang dieser Handlung ist der Entschluß der Griechen, die Tochter dieser Königinn auf dem Grabe des Achilles zu opfern. Dieses hat uns der Dichter gleich sollen be kannt machen. Denn alle Klagen der Hekuba, über die ihr vorher begegneten Unglücksfälle, gehören nicht zu dieser Sache. Eben so lässt er in der Iphigenia bei den Tauriern, diese Prinzeßin zum Anfang der Handlung erscheinen, ehe sie weiß, dass Orestes und Pylades angekommen; da doch die Handlung erst durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen Eingänge sind wirklich von der Handlung abgerissen und also der Einheit der Vorstellung entgegen.
Ein anderer Fehler ist es in epischen und dramatischen Gedichten, wenn man den Anfang mit sehr entfernten Veranlassungen zu der Handlung macht. Es würde ungereimt sein, wenn man, wie Horaz sagt, die Erzählung des Trojanischen Krieges von dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die Ursache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen weite Umschweife geben der Vorstellung eine Unvollkommenheit, die scharfsinnigen Lesern anstößig ist. Der Dichter muss demnach ohne Umschweife gleich zur Sache kommen und sein Werk beim unmittelbaren Anfang der Handlung anheben.
Zwar hängen in der Welt gar alle Begebenheiten so an einander, dass in strengem metaphisischen Sinn keine, die mitten aus der Geschichte der Welt heraus genommen wird, ein für sich bestehendes ganzes ausmacht. Allein da der Dichter seinen Plan so machen muss, dass die Handlung die er bearbeitet als ein für sich bestehendes ganzes erscheine; so muss er einen solchen Anfang suchen, der unsere Vorstellung befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu suchen übrig lasse. Hat er ein Misstrauen in die Fruchtbarkeit seiner Erfindungskraft, so nimmt er einen entfernten Anfang, damit die Menge der Begebenheiten den Mangel der Erfindungen ersetze. Vielleicht würde Homer die Äneis von der Ankunft des Helden in Italien angefangen haben. Virgil glaubte einen entfernten Anfang nötig zu haben. So würde ein minder fruchtbarer Dichter sich kaum getraut haben, die Meßiade, wie Klopstock getan hat, mit dem letzten Einzug des Erlösers nach Jerusalem anzufangen.
Dem Dichter bleibt also immer die Freiheit den Anfang seiner Handlung näher oder entfernter von dem Ende zu nehmen. Nur muss er dieses genau beobachten, dass er seinem Gedicht einen wahren Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege, noch unvollständig sei. Je näher der Anfang der Handlung an dem Ende derselben liegt, je enger kann das ganze zusammen getrieben werden, dass es mit einem Blicke zu übersehen ist. Ist der Anfang vom Ende sehr entfernt, so wird das Werk zu weit ausgedehnt oder es entstehen in der Handlung große Lücken, welche der Lebhaftigkeit der Vorstellung viel Schaden tun.
Die dramatische Handlung erfordert notwendig, dass der Anfang nahe am Ende genommen werde. Wenn der Dichter dieses versäumt, so ist er genötigt, entweder die ganze Handlung so einzuschränken, dass er uns gleichsam nur einen Auszug davon sehen lässt oder er muss einen großen Teil hinter der Bühne geschehen lassen. In beiden Fällen ist es unmöglich, dass sich die Charaktere der Personen hinlänglich entwickeln. Die Alten haben dieses fast allemal sehr genau beobachtet und eben deswegen sehen wir überall so gut entwickelte Charaktere in ihren dramatischen Stücken. Wir können sie auch darin den Neueren empfehlen, dass sie in Bestimmung des Anfangs meistens sehr sorgfältig gewesen. Sie legen uns gemeinhin bei dem ersten Auftritt den Anfang der Handlung so deutlich vor Augen, dass wir gleich von dem Inhalte derselben und von dem Charakter der Hauptpersonen hinlänglich unterrichtet werden. Dieses wird in viel neuen Stücken so sehr versäumt, dass wir oft eine lange Zeit nicht wissen, worauf es bei der Handlung ankommt. Man wird dieses insbesondere lebhaft fühlen, wenn man den Anfang des Oedipus in dem Trauerspiele des Sophokles mit dem Anfange vergleicht, den Voltaire seinem Oedip gegeben.
In der Musik muss jedes Tonstück so anfangen, dass das Gehör auf nichts vorhergehendes geführt werde. Die Harmonie muss ganz und vollständig sein, der Gang oder die Figur nicht abgebrochen. So viel immer möglich, muss gleich die erste Periode den Charakter des ganzen Stücks enthalten. Indessen gibt es doch Gelegenheiten, besonders wenn Arien auf Rezitative folgen und dieselbe Empfindung in der Arie nur fortgesetzt wird, dass der bestimmte Anfang unnötig wird. In dem Tanze muss ebenfalls ein bestimmter Anfang gesetzt werden, damit man nicht glaube, man sehe nur ein Stück desselben. Dieses geschieht bisweilen in den Balleten, da die Tänzer mit einem Sprung aus den Culissen hervor kommen und uns glauben machen, dass der Tanz, den wir sehen, nur eine Fortsetzung der Handlung sei, die außer unserem Gesichte ihren Anfang genommen hat.
Es ist überhaupt in allen Werken des Geschmacks nötig, den Anfang so zu machen, dass man natürlicher Weise nicht auf den Gedanken kommen könne, was dieser Sache, die wir jetzt sehen oder hören, könnte vorher gegangen sein. Denn diese Frage würde offenbar anzeigen, dass man uns nicht ein Ganzes, sondern nur ein Stück vorstelle. Hermogenes erinnert, dass es sehr unschicklich und bäurisch sei, wenn man in einer Abhandlung gleich in die Sache hineinspringt.1 In einer förmlichen Rede, darin etwas abgehandelt wird, ist nicht der Eingang, sondern der Vortrag der Sache, der eigentliche Anfang.
In den Werken der Kunst, die sich auf einmal darstellen, wie alle Werke der zeichnenden und bilden den Künste sind, scheint zwar weder Anfang noch Ende zu sein. Dennoch ist unumgänglich notwendig, dass sie mit einer Art von Anfang und Ende als ganz beschränkte und für sich bestehende Dinge, in die Augen fallen. S. Ganz.
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1 Hermog. de Invent. L. II. c. 1.