Ausdruck in der Schauspielkunst. Das Studium des vollkommenen Ausdrucks hat so wohl der Schauspieler als der Tänzer mit dem zeichnenden und bildenden Künstler gemein. Gewissermaßen ist es jenen noch notwendiger, weil ihre ganze Kunst darin besteht. Ein Tänzer ohne Ausdruck ist ein bloßer Luftspringer; und ein Schauspieler, dem er fehlt, ist gar nichts. Er verdirbt alles Gute, was der Dichter ihm in den Mund legt und beleidiget, an statt zu ergötzen oder zu reizen. Was also vorher über das Studium des Ausdrucks und über die Betrachtung der Natur und der Kunst gesagt worden, wollen wir diesen mit dem vorzüglichsten Nachdruck gesagt haben. Er muss jede Empfindung in sich zu fühlen im Stande sein; kein bedeuten der Blick, kein kräftiger Zug des Gesichts, keine Gebärde, nicht die geringste Bewegung der Gliedmaßen, die er an anderen wahrnehmen kann, muss ihm unbemerkt vorüber gehen. Alles, was er zum Behuf des Ausdrucks in der Natur und Kunst entdecken kann, muss er seiner Einbildungskraft tief einprägen und durch unermüdete Übung nachzuahmen trachten.
Das vorzüglichste Mittel zu einem vollkommenen Ausdruck scheint dieses zu sein, dass der Schauspieler sich selbst so stark als möglich ist, in die Empfindung der Personen setze, welche er vorstellt. Der jüngere Riccoboni aber widerspricht diesem und nennt es einen glänzenden Irrtum. Ich habe, sagt er, allezeit als was gewisses angenommen, dass man, wenn man das Unglück hat, das was man ausdruckt, wirklich zu empfinden, außer Stand gesetzt wird, zu spielen.16) Ganz anders dachte jener alte Schauspieler, der in der Elektra des Sophokles die Asche seines Sohnes in der Urne hatte, um den Schmerz dieser Prinzeßin, da man ihr die Gebeine des Orestes bringt, desto vollkommener auszudrücken. Der angeführte französische Schauspieler muss dafür halten, dass man durch deutlich bestimmte Regeln alles nachmachen könne. Es scheint aber, dass ein Mensch, der in eine gewisse Leidenschaft gesetzt ist, sie durch viel kleine, niemals deutlich zu merkende Kennzeichen äußere, die, zusammen genommen, den wahren Ausdruck der Natur ausmachen. Altes geht mechanisch ohne unser Bewußtsein zu. Da uns nun alle die Kräfte, wodurch jede Muskel des Leibes gezogen wird, wenn wir gewisse Leidenschaften fühlen, unbekannt sind, so kann der Vorsatz zu ihrer Wirkung nichts beitragen. Es gibt keine Theorie, nach welcher wir unserem Gesichte die Traurigkeit einprägen können. Sind wir aber wirklich traurig, so setzt sich alles von selbst in die gehörige Gestalt.
Wir scheuen uns also nicht, gegen das Ansehen eines Meisters in der Kunst den Schauspielern zu empfehlen, dass sie sich unaufhörlich befleißen sollen, sich in alle Arten der Empfindungen zu setzen. Finden sie ihre Seele nicht weich genug, mit dem Weinenden zu weinen, mit dem Zornigen aufgebracht zu sein, so tun sie wohl, wenn sie solche Rolen, für die sie das nötige Gefühl nicht haben, niemals auf sich nehmen. Ein Mensch, der vorzüglich zu sanften, zärtlichen und gefälligen Neigungen aufgelegt ist, muss sich nicht unterstehen, die Role eines Wüterichs zu spielen.
Der Schauspieler, dem die Natur eine Fähigkeit, alles zu empfinden, verliehen hat, kann dieselbe durch fleißige Übung erweitern. Er muss die Werke der besten Dichter ohne Unterlaß lesen, und jeder merkwürdigen Szene so lange nachhängen, bis seine Einbildungskraft dieselbe ihm auf das lebhafteste vormalt. Denn dadurch wird er selbst in die Leidenschaft ver setzt werden. Dabei bleibt ihm immer noch so viel Nachdenken übrig, dass er auf den guten Ausdruck denken kann.
Ungeachtet aber in der Natur gleiche Ursachen auch gleiche Wirkungen haben, so sind diese doch in Absicht auf die Äußerungen der Leidenschaften, bei verschiedenen Menschen verschieden. Eine große Seele äußert jede Empfindung größer und edler als eine kleine. Zwei Menschen von verschiedenen Charakteren, in gleichem Grad traurig oder freudig, legen ihr Gefühl ungleich an den Tag. Es ist demnach nicht genug, dass der Schauspieler sich in die Empfindung setze, die er ausdrücken soll: er muss sie in dem besonderen Licht, in der bestimmten Zeichnung des Charakters ausdrücken, den er angenommen hat. Der Held trauert und freuet sich anders, wie der gemeine Mensch. So wohl durch einen übertriebenen als durch den falschen Ausdruck wird das Gegenteil dessen, was der Dichter gesucht hat, erhalten. Wenn der Dichter edeln Stolz schildert, der Schauspieler aber einen hochtrabenden Menschen vorstellt, so verändert sich die Hochachtung in Verachtung. Wenn der Dichter einen stillen tiefsitzenden Schmerz haben will, der Schauspieler aber heult, so wird das Weinen in Lachen verwandelt. Auch der falsche Nachdruck verderbt alles.
Es gehört so sehr viel dazu, im Ausdruck vollkom men zu sein, dass man sich über die kleine Anzahl vollkommener Schauspieler gar nicht wundern darf. Natur und Fleiß müssen sich zu seiner Bildung vereinigen. Von jener hat er einen feinen durchdringenden Verstand, jeden Charakter sich auf das bestimmteste vorzustellen, eine lebhafte Einbildungskraft, die ihm alles mit lebendigen Farben vor das Gesicht stellt, ein fühlendes Herz, das jede Empfindung in sich hervor bringen kann. Aber ohne Fleiß und Studium sind diese Gaben nicht hinreichend, ihn vollkommen zu machen. Er muss den Charakter seiner Role auf das vollkommenste ergründen, bis er die kleinsten Schattierungen desselben erkennt; die Handlung, in welcher dieser Charakter sich äußert, muss ihm in ihren kleinsten Umständen ganz vor Augen liegen; die besondere Veranlassung zu dem Spiel der Leidenschaften muss er auf das genaueste erwägen und alles so lange überlegen, bis er sich selbst vergisst und sich gleichsam in die Person verwandelt, die er vorstellt.
Man hat die Frage aufgeworfen, ob es nötig sei, den Ausdruck desto vollkommener zu erreichen, die Natur etwas zu übertreiben. Der ältere Riccoboni pflegte zu sagen, wenn man rühren wolle, so müsse man zwei Finger breit über das natürliche gehen.17) Allein die Gefahr, durch das übertriebene frostig zu werden, muss den Schauspieler sehr behutsam machen. Der jüngere Riccoboni hat sehr wohl angemerkt, dass die Natur ohne alle Übertreibung vollkommen stark genug ist. Leute, welche sich allen Eindrücken der Leidenschaften ohne Verstellung überlassen, dergleichen man unter dem gemeinen Volke genug antrifft, zeigen uns hinlängliche Stärke des Ausdrucks. Kann der Schauspieler dieselbe erreichen und mit dem edlen Wesen, das Personen von erhabnerm Stande an sich zu haben pflegen, verbinden, so braucht er nichts zu übertreiben.
Was wir vorher von der Notwendigkeit, sich selbst in die Empfindungen, die man auszudrücken hat, zu versetzen, gesagt haben, gilt hauptsächlich für denjenigen Teil des Ausdrucks, der in der Stellung des ganzen Körpers und in der Bewegung der Gliedmaßen liegt. Es ist unmöglich, darüber Regeln zu geben. Die Natur hat die Triebfedern, die sie dabei braucht, uns verborgen. So wie ein Mensch, der unversehens fällt, aus einer sich selbst unbewußten Furcht, Schaden zu nehmen, durch den Instinkt die Stellung annimmt, die ihn am sichersten bewahrt; eine Stellung, welche er durch keine Überlegung erfinden würde; eben so wirkt sie in allen Leidenschaften auf die verschiedene Nerven des Körpers. Der Schauspieler, der sich in ein richtiges Gefühl zu setzen weiß, wird sich auch bei jedem Ausdruck richtig und natürlich gebehrden.
Von dem Ausdruck, insofern er von der Stimme und der Sprache abhängt, haben wir anderswo gesprochen. (S. Vortrag.)
Unter allen Künstlern hat der Tänzer das schwerste Studium, zum vollkommenen Ausdruck zu gelangen. Er kann sich nicht an die Natur halten; denn die Bewegungen, die er machen muss, findet er darin nicht. Er muss sie nach den Anzeigungen, die er in der Natur findet, nachahmen und in einer ganz anderen Art wieder darstellen. Alle seine Schritte und Bewegungen sind künstlich, sie kommen in der Natur niemals vor und dennoch müssen sie den Charakter der Natur an sich haben. Man muss aus jeder Bewegung des Tänzers erkennen, was für eine Empfindung ihn treibt. Seine Schritte find die Worte, welche uns sagen, was in seinem Herzen vorgeht.
Es ist den großen Schwierigkeiten, die diese Sache hat, zuzuschreiben, dass man so wenig vollkommenes in dieser Kunst zu sehen bekommt. Die Tänzer sind mehr gewohnt, künstliche Bewegungen, schwere Sprünge und kaum nachzumachende Gebehrdungen des Körpers auszudenken als den wahren Ausdruck der Natur nachzuahmen. Nicht nur jede Hauptleidenschaft, sondern bei nahe jede Schattierung derselben Leidenschaft, hat ihren eigenen Ausdruck in der Stellung und Bewegung des Körpers. Diese sind die wahren Elemente, das Alphabet des echten Tanzens oder diese Kunst beruht auf gar keinen Grundsätzen. Diese Elemente aufzusuchen, sie in ordentlichen und zusammenhängenden Bewegungen wieder darzustellen, aus verschiedenen zusammenhängenden Bewegungen ein ganzes Balett zusammen zu setzen, das eine bestimmte Handlung ausdrückt, ist das eigentliche Werk des Tänzers.
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16) S. die Schauspielkunst in Leßings Beiträgen zur Historie des Theaters im 1. Th. S. 506.
17) Riccoboni im angeführten Orte. S. 509.