Anständig. (Schöne Künste) Die Übereinstimmung des Zufälligen in sittlichen Dingen, mit dem Wesentlichen derselben. Jede Übereinstimmung des Zufälligen mit dem Wesentlichen ist eine notwendige Eigenschaft der Werke des Geschmacks; sie vermehrt ihre Vollkommenheit und das Gegenteil hat allemal etwas unangenehmes: in sittlichen Gegenständen aber ist diese Übereinstimmung um so viel notwendiger, da das Gegenteil anstößig ist. Es ist darin, was das übliche (il costume) in den Gebräuchen und Moden ist. Die Fehler gegen das übliche streiten gegen die zufällige Wahrheit unserer Vorstellungen; aber die Fehler gegen das Anständige beleidigen unsere Empfindungen und sind darum um so viel wichtiger. Der Maler, welcher bei der Einsetzung des Abendmahls unter der Tafel einen Hund und eine Katze vorstellt, die sich um einen Knochen zanken, erweckt zufällige Empfindungen, welche der Ernsthaftigkeit der Hauptsache ganz zu wider sind und sehr anstößig werden. Eben so anstößig ist es, wenn bei ernsthaften Handlungen, Personen von possierlichem Wesen, Kinder die mit Hunden spielen oder diese Tiere, welche die Szene verunreinigen, mit eingeführt werden; wie dieses vielfältig von unbedachtsamen Malern geschehen ist.
Ungeachtet dergleichen Fehler gegen das Anständi ge meistenteils von Malern begangen werden, so sind die anderen Künste gar nicht frei davon. In der Baukunst sieht man oft christliche Tempel mit Zierraten des heidnischen Götzendienstes oder Häuser gemeiner Menschen mit Tropheen behangen; Gebäude von einem ernsthaften Charakter, mit Verzierungen der ausschweifendsten und wollüstigsten Einbildungskraft. Auch große Dichter fallen bisweilen in diesen Fehler. Ein Beispiel davon gibt uns Milton, der dem erhabensten Wesen eine Sprache in den Mund legt, die einem finstern Schultheologen besser anstünde, wie Pope sehr richtig angemerkt hat. Von dem unanständigen der geistlichen Redner, so wohl in Sachen als in Worten und dem ganzen Vortrag, bedürfen wir keiner Beispiele, deren eine Menge jedem Menschen von Geschmack bekannt sein müssen.
Das anständige wird nicht bloß durch Vermeidung des unanständigen erhalten, ob gleich auch hier die Anmerkung des Horaz
Virtus est vitio caruisse.
Es muss sich durch Einmischung so vollkommen übereinstimmender Zufälligkeiten bemerken lassen, dass die Wirkung desselben lebhaft empfunden wird.
Dieses geschieht, wenn durch das zufällige die Wirkung des wesentlichen verstärkt wird, welches die bloße Vermeidung des unanständigen niemals tut. Einen solchen Erfolg hat es, wenn es dem Künstler gelingt, durch das zufällige eine unerwartete Empfindung zu erwecken, die mit der, worauf das wesentliche geht, übereinstimmt; denn dadurch bekommt unsere Aufmerksamkeit einen neuen Stoß, welcher uns das ganze lebhafter macht. Eine solche Wirkung tut ein zufälliger Umstand in einem Gemälde von Raphael, welches die Anbetung des Heilandes von den Hirten vorstellt. Einer dieser geringen, dem Ansehen nach der einfältigste und schlechteste, welcher sich kaum getraut nahe heran zu treten, bezeugt seine Ehrfurcht dadurch, dass er seine Mütze abnimmt.
Dieses ist vielleicht gegen das Übliche; aber für diese Personen von der größten Anständigkeit und tut die beste Wirkung auf das Ganze.
So wissen Künstler von glücklichem Genie und gründlicher Beurteilung dem wesentlichen zufällige Dinge an die Seite zu setzen, durch welche sie den Ausdruck verstärken, indem sie das höchst Anständige dabei beobachten.
Einige Neuere haben an den Alten manches unanständig gefunden, was keinem von den Alten anstößig gewesen. Das heftige Betragen einiger Helden der Ilias gegen andre, scheint vielen unanständig, weil sie es nach unseren Sitten, nicht nach den Sitten jener Helden beurteilen. Eben dieses Urteil muss man von der höchst unanständig scheinenden Vermahnung des Nestors fällen, die wir in dem Artikel über die Alten angeführt haben. Es streitet keinesweges gegen die Art der Sitten, welche durch die ganze Ilias zum Grund aller Vorstellung gelegt worden. Das Betragen des Herkules in dem Trauerspiel des Euripides Alcestis, da er in dem Hause des Adrastus, zu der Zeit da dieser in der höchsten Trauer war, munter zecht, ist nicht ganz anständig, wie wohl doch verschiedenes zu dessen Verteidigung kann gesagt werden.
Nur Künstler von großem Verstand erreichen das Anständige überall; denn das bloße Genie ist dazu nicht hinreichend. Homer ist der größte Meister darin. Vermutlich ist es deswegen, dass Horaz ihn denjenigen nennt, qui nil molitur inepte. Denn in Wahrheit; man findet bei der unendlichen Menge der Gegenstände, die er beschreibt, nicht nur nichts unanständiges; sondern alles, bis auf die kleinsten Nebenumstände, ist immer so, wie es sein musste. Dieses gehört unstreitig mit zum höchsten der Kunst. Und da eine starke Beurteilungskraft vielleicht seltener ist als ein starkes Genie; so ist die völlige Beobachtung des Anständigen in Werken der Kunst seltener als irgend eine andere gute Eigenschaft derselben.