Wöllners Religions- und Zensur-Edikt


Und doch war kurz vorher der Umschwung eingetreten: an Stelle von Kants freisinnigem Freund und Gönner Zedlitz war am 3. Juli 1788 zum Justizminister und "Chef des geistlichen Departements" aus "besonderem Vertrauen" des Königs derselbe Johann Friedrich Wöllner ernannt worden, den einst eine der berühmten Randbemerkungen des großen Friedrich als einen "betriegerischen und Intriganten Pfafen, weiter nichts" gekennzeichnet hatte. Er oder seine Hintermänner hatten es recht eilig: schon sechs Tage darauf, am 9. Juli, erschien sein berüchtigtes Religionsedikt, das darauf hinwies, dass sogar Lehrer des lutherischen und kalvinischen Glaubensbekenntnisses die Grundwahrheiten der Heiligen Schrift zu untergraben versuchten und, unter dem falschen Schein der "Aufklärung", in unverschämter Weise unzählige Irrtümer verbreiteten. Zwar solle die in Preußen von alters her geübte Toleranz und Gewissensfreiheit noch bleiben, jedoch nur so lange, als jeder die eigene Meinung "für sich behalte" und "sich sorgfältig hütet, andere ... in ihrem Glauben wankend zu machen".

Anfangs schien das Edikt in dem freigeistigen Berlin seine Wirkung völlig zu verfehlen. Wie Berens in einem interessanten Brief vom 5. Oktober d. J. an Kant schreibt, war es "nicht von dem geringsten Effekt". Die liberalen Theologen Spalding und Teller redeten und schrieben freier wie je; ein anderer hatte die Kühnheit, ein Kind, bei dem der Minister selbst Gevatter stand, nach einem freien Ritual zu taufen; ein vierter gab einen Auszug aus Luthers Schriften über Denkfreiheit in Glaubenssachen heraus, worin der Satz vorkam: "die Junker, Bischöfe und Fürsten sind Narren, die sich in Glaubenssachen was anmaßen". Berens selbst riet, ähnliche Stellen aus Friedrichs des Großen Schriften zu veröffentlichen. Da geschah am 19. Dezember 1788 ein neuer Schlag. Ein von diesem Tage datiertes Zensur-Edikt stellte, um der "Zügellosigkeit der jetzigen sogenannten Aufklärer" und der "in Preßfrechheit ausartenden Preßfreiheit" Schranken zu setzen, alle im Inland verfaßten und nach dem "Ausland", d. i. Nicht-Preußen, eingeführten Schriften unter scharfe Kontrolle; der König erwarte, dass die Zensur "dem steuere", was "wider die allgemeinen Grundsätze der Religion, den Staat und die bürgerliche Ordnung" sei.

Zu einem Konflikt mit dem Königsberger Philosophen schien es gleichwohl vorerst nicht kommen zu wollen: sei es, dass man sich an ihn doch nicht heranwagte, oder auch dass Wöllner und seine Leute die Meinung mancher anderer Orthodoxen teilten, die Konsequenz von Kants System sei, dass wir "wegen der Eingeschränktheit unserer Vernunft doch endlich zum blinden Glauben zurückkehren müßten!" (Buchhändler Meyer aus Berlin an Kant, 5. Sept. 1788). Konnten sie doch auf des Philosophen vieldeutigen Satz hinweisen: "Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." So wurde denn Kiesewetter, als er, von Dankbarkeit für den "Unterricht, die Güte und Sorgfalt" Kants, seines "zweiten Vaters", erfüllt, im Herbst 1789 nach Berlin zurückgekehrt war, nicht bloß von Hertzberg — Zedlitz hatte sich schon ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen —, sondern auch von dem hochmütigen, fast unzugänglichen Wöllner, allerdings erst nach mehreren vergeblichen Gängen, gnädig empfangen; dieser gedachte auch Kants "mit großer Achtung" und versicherte ihn, dass es ihn gefreut habe, dem Philosophen "durch die Bewilligung der Zulage einen kleinen Dienst erweisen zu können". Kiesewetter begann denn auch wirklich bald darauf (am 1. Dezember 1789) seine Vorlesungen über Logik und über die Kritik der praktischen Vernunft vor 20 bzw. 25 Zuhörern. Wöllner hatte ihn "in den prunkvollsten Ausdrücken seiner Gnade versichert"; andere aber rieten ihm, sich in seinen Vorlesungen in acht zu nehmen, zumal da der Minister seine Spione in dieselben schicken würde. Er werde gut tun, die Übereinstimmung von Kants Sittenlehre mit der christlichen zu betonen. Wirklich erschien denn auch gleich in der ersten Vorlesung ein unbekannter junger Mann, der Kiesewetters Vortrag wörtlich nachschrieb und "durch seine emsige Ängstlichkeit" die allgemeine Aufmerksamkeit erregte, künftig aber — wegblieb. In einer gedruckten, dem König zugeeigneten Abhandlung 'Über den ersten Grundsatz der Moralphilosophie' hob Kiesewetter wirklich die Übereinstimmung des Kantischen Moralgebots mit der Lehre Christi hervor. Er meinte so der Wahrheit nichts zu vergeben und wollte sich anderseits doch nicht durch allzugroße Offenherzigkeit schaden. "Heucheln kann ich und werde ich nicht," schrieb er am 3. März 1790 an Kant, "aber ich werde für die gute Sache tun, was ich kann."

Der erst 23 jährige Kantianer muß wohl doch den den Hofkreisen angemessenen Ton zu treffen verstanden haben; denn er bekam, neben jenen öffentlichen, bald auch verschiedene Privatvorlesungen übertragen, unter anderen bei der Oberhofmeisterin der kleinen Prinzessin Auguste, Baronesse von Bielefeld, einer "jungen schönen Dame", die mit der gewissenhaften Erfüllung ihrer Hofpflichten das Studium, ja das "wirkliche Erfassen" der Geheimnisse des a priori und a posteriori, der analytischen und synthetischen Urteile, der kritischen Theorie von Raum und Zeit zu vereinigen wußte: obwohl man, wie er vielsagend bemerkt, "an unserem Hofe durch Philosophie nicht glänzt" (an Kant, 20. April 90). Durch ihre Vermittlung kam er auch, als Hofmeister des einzigen 17jährigen Sohnes, in das Haus des Ministers Grafen von Schulenburg und unterrichtete daneben die königlichen Prinzen Heinrich und Wilhelm nebst der eben erwähnten Prinzessin Auguste in den allerdings ungefährlichen Fächern der Geographie und Arithmetik. Auf diese Weise erfuhr er allerlei, was hinter den Kulissen vorging, und was er seinem dafür interessierten Meister nach Königsberg zu melden nicht verfehlte: von der Günstlingswirtschaft am Hofe, der Bigamie des Königs, den kriegerischen Absichten gegenüber Österreich und Rußland, der Leere des königlichen Schatzes und anderes mehr.


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