VI. Pessimismus oder Optimismus?


Wichtiger als die etwas zweideutige Temperamentsfrage, ob Kant mehr Sanguiniker oder mehr Melancholiker gewesen sei, ist die andere: wie er sich zu Welt und Menschen überhaupt gestellt hat; ob im Sinne des Pessimismus oder des Optimismus.

In der Beurteilung der Menschheit, wie sie tatsächlich ist, zeigt unser Weiser recht häufig sich stark pessimistisch. Die Welt erscheint ihm als ein "Narrenspital"; er wirft die Frage auf, "ob nicht alle Menschen in gewisser Weise gestört sind", und der Mensch nicht nach Haller "ein zweideutig Mittelding von Engeln und Vieh" sei (XV, 211). "Kleinigkeiten", so sagen andere Reflexionen des Nachlasses, "machen das Wichtige ihres Lebens aus", von Grundsätzen reden sie nur, sie sind "vollgepfropft von Torheit". In der menschlichen Natur steckt eine "große Portion Wind", die "in allen Teilen derselben ihren Sitz genommen hat". 'Mundus vult decipi', nur die Einbildung macht die meisten glücklich. Der Mensch ist "von Natur böse". "Die größten Übel tun sich die Menschen untereinander an". So ist denn auch des Menschen Bestimmung nicht, "hier jemals glücklich zu werden", sondern er ist das "geplagteste unter allen Geschöpfen". Und wie aus eigener Erfahrung gesprochen, klingt der Satz: dass der, "so durch das gute Ende seines Lebens wegen der Verdrießlichkeiten der jüngeren Jahre sich schadlos gehalten glaubt, doch auf eben die Bedingungen das geführte Leben nicht wieder anfangen würde". Und doch haben ihn seine Altersbekannten für einen glücklichen, ja einen der glücklichsten Menschen gehalten. Ob er selbst sich diese Frage wohl aufgeworfen hat? Vielleicht ist er der Größe seines Glückes, das freilich nicht im Genießen, sondern in der vollen Erfüllung seiner Lebensaufgabe lag, sich gar nicht bewußt geworden. Oder vielleicht wollte er auch gar nicht glücklich (im gewöhnlichen Sinne des Wortes) sein. Absolute Zufriedenheit galt ihm als "Stillstand aller Triebfedern oder Abstumpfung der Empfindungen"; Schmerz dagegen als "der Stachel der Tätigkeit", in der wir "allererst unser Leben fühlen" (Anthropologie).

Seine Endentscheidung liegt jedenfalls trotz alledem in der Richtung des Optimismus. Trotz seiner Einsicht in die "Verderbtheit der schlimmen Rasse, welche Menschengattung heißt" (Schluß der Anthropologie) — eine Einsicht, die sich nicht bloß bei dem Urheber dieses Wortes, dem großen Friedrich, sondern auch bei dem greisen Philosophen mit zunehmenden Jahren gesteigert hat —, hält er im letzten Grunde an seinem Rousseauschen Glauben an die ursprünglich gute Anlage der Menschennatur, vor allem aber an seinem Zukunftsglauben fest. "Der Mensch hat keine unmittelbare Neigung zum Bösen, aber das Gute liebt er aufrichtig und unmittelbar. Das Böse zieht er aus Verleitung, mit innerem Widerwillen, vor." Diese Reflexion (XV, S. 614, Nr. 1409) entstammt allerdings (nach Adickes) noch den 70er Jahren. Aber Kants gesamte Geschichtsphilosophie und Ethik, sein politischer und religiöser Glaube sind nur unter der Voraussetzung seines festen Glaubens an die Macht und den endlichen Sieg des Guten denkbar. Gerade die Tatsache, dass wir jenes wegwerfende Urteil über die Menschengattung, wie sie ist, fällen, beweist nach ihm unsere "moralische Anlage". So steht denn bei ihm, wie bei allen großen Naturen — sei es religiösen wie Augustin oder Luther, sei es Staatsmännern wie Friedrich der Große oder Bismarck, sei es Dichtern wie Schiller oder Philosophen wie dem Redner an die deutsche Nation — neben der pessimistischen Beurteilung der Wirklichkeit oder Gegenwart der unerschütterliche optimistische Idealismus des Ziels:

"Ich glaube festiglich, dass alle Keime des Guten noch entwickelt werden sollen. Sie liegen in uns; der Mensch war vor das gesellschaftliche Ganze geschaffen. Dieses muß einmal die größte Vollkommenheit erlangen und darin jeder einzelne. Alsdann dauert sie immer" (XV, 784). Und als die Bedingungen einer "allgemeinen Verbesserung" gelten ihm: Freiheit der Erziehung, bürgerliche Freiheit und Religionsfreiheit. Freilich — "noch sind wir ihrer nicht suszeptibel" (ebd. 899, vgl. überhaupt S. 885—899).

Doch er vertraut auf die Jugend, hofft von ihr Verbreitung seiner Philosophie, bleibt mit ihr bis in seine höchsten. Jahre in Verkehr und — bleibt im Inneren selbst jugendlich. Das erkannte Schiller an, wenn er noch 1797 in dem "alten Herrn", trotz seines philosophischen "Kanzleistils", etwas "wahrhaft Jugendliches" entdecken wollte; und Goethe, der ewig Junge, hat noch ein Jahr später ähnlich über ihn geurteilt (an Schiller, 28. Juli 1798). Es lebte eben auch in Kant etwas:

 

"Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,

Von jenem Mut, der früher oder später

Den Widerstand der dumpfen Welt besiegt ..."

 

Wenn Schiller am 5. Mai 1795 an den ihm allzu enthusiastischen Erhard schreibt: "Glühend für die Idee der Menschheit, gütig und menschlich gegen den einzelnen Menschen, und gleichgültig gegen das ganze Geschlecht, wie es wirklich vorhanden ist — das ist mein Wahlspruch": so gelten die beiden ersten Attribute auch für Kant. Nur "gleichgültig" gegen die vorhandene Menschenwelt würde er sich wohl kaum genannt haben, ob der 74jährige gleich in der Anthropologie (S. 288) meint, dass "nicht viel damit zu prahlen sei". Aber, feuriger als Schiller und Goethe in ihren letzten Jahren, verlor er trotzdem seinen Glauben auch an die gegenwärtige Menschheit nicht. Derselbe 74jährige schließt im 'Streit der Fakultäten' seine Beweisführung mit den nachdrücklichen Worten: "Es ist also ein nicht bloß gutgemeinter und in praktischer Absicht empfehlenswürdiger, sondern allen Ungläubigen zum Trotz auch für die strengste Theorie haltbarer Satz: dass das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde ..."

 

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