Aufbahrung, Begräbnis und Trauerfeier


Von dem Lebenden hatte in der letzten Leidenszeit sein getreuer Helfer allen störenden Besuch ferngehalten. Der Anblick des allverehrten Toten sollte niemandem versagt werden. So wurde denn seine sterbliche Hülle, in ein Sterbegewand gehüllt, aus dem Studierzimmer in den geräumigen Speisesaal gebracht und dort auf zwei Decken, einer schwarzen und einer weißen, spitzenbesetzten, welche die Älterleute des Schneidergewerkes, "weil es für Kant wäre", freiwillig hinzugaben, feierlich aufgebahrt. Sein Haupt ruhte auf dem seidenen Kissen, auf dem ihm einst seine Zuhörer ihr Gedicht überreicht hatten, und das ihm auch ins Grab mitgegeben ward; zu seinen Füßen legte ein Unbekannter ein etwas hochtrabendes, "den Manen Kants" geweihtes Gedicht nieder. Es begann nun eine Reihe von Tagen hindurch eine förmliche Wallfahrt von Vornehm und Gering, vom frühen Morgen bis zum Abenddunkel: jeder wollte den berühmten Philosophen noch einmal sehen, manche kamen sogar mehrmals wieder. Allgemein und groß war das Staunen über die gänzliche Abgezehrtheit seines Körpers. Das Gesicht war nur wenig entstellt. Professor Knorre von der Kunstschule nahm einen Gipsabguß seines Kopfes; der Prosektor der Universität Kelch untersuchte und beschrieb seinen Schädel nach Galischer Methode.1)

Infolge dieser Trockenheit konnte der Leichnam, ohne zu verwesen, noch 16 Tage über der Erde bleiben, denn erst am 28. Februar fand das Begräbnis statt, Kant selbst hatte, nach einem noch erhaltenen Zettel aus dem Jahre 1799, ein ganz einfaches und stilles Begräbnis den dritten Tag, nach meinem Tode, unter Begleitung zweier oder dreier Kutschen mit meiner (!) dazu erbetenen Umgangsfreunde früh Vormittags auf dem neuen Friedhof am Steindammschen Tor gewünscht. Reg.-Rat Vigilantius oder Professor Rink möchten, ohne Einmischung seiner Verwandten, die Güte haben, für die vor der Hin- und nach der Rückfahrt im Sterbehause zu reichenden "anständigen Erfrischungen" sorgen. Indes hatte er, auf Wasianskis Vorstellungen, später diesem die gewünschte Vollmacht, alles nach Gutdünken zu erledigen, gegeben: weil ihm diese äußeren Dinge überhaupt ziemlich gleichgültig waren. Nun aber wollten es vor allem die Studierenden sich nicht nehmen lassen, dem berühmtesten Lehrer der Albertina eine würdige Totenfeier zu veranstalten. Nachdem schon mehrere andere "diesen Gedanken gefaßt und — aufgegeben hatten", bildete sich ein Ausschuß unter dem Vorsitz des Kandidaten der Theologie Böckel aus Danzig, um das Nötige in die Wege zu leiten. Sie scheinen jedoch, wie es bei solchen Gelegenheiten leicht zu gehen pflegt, auf allerlei Eifersüchteleien und andere unerwartete Hindernisse gestoßen zu sein — außerhalb ihrer Kreise unterstützte sie anscheinend nur Königsbergs Oberbürgermeister von 1813, der damalige Regierungsrat Heidemann —, so dass sie gemäß öffentlicher Bekanntmachung die Feier vom 23. auf Dienstag, den 28. Februar, verschieben mußten.

Ein so großartiges Leichenbegängnis hatte Königsberg noch nicht gesehen. Schon mehrere Stunden vor dem auf die dritte Nachmittagsstunde angesetzten Beginn der Feierlichkeiten waren die vom Schnee gesäuberten Straßen von einer zahllosen, trotz der Kälte unbewegt ausharrenden Menschenmenge erfüllt, die übrigens ein durchaus würdiges Benehmen an den Tag legte. Der Trauerzug nahm, unter dem Geläute sämtlicher Glocken der Stadt, seinen Anfang vom Sterbehause, wo nur die nächsten Freunde sich eingefunden hatten. Von der nahen Schloßkirche schlossen sich die eingeladenen Notabein: die höheren Beamten, darunter der Gouverneur von Preußen, General von Brünneck (Kants langjähriger Bekannter), die Geistlichen, viele Offiziere, Deputierte der Kaufmannschaft und zahlreiche andere angesehene Männer an: jedoch alle, dem demokratischen Sinne des Verstorbenen entsprechend, ohne alle Rangordnung. Von der Universität kamen die Studierenden gezogen. Den Trauerzug, dem eine Militär-Abteilung voranschritt, eröffneten die Trauermarschälle der Studentenschaft in großem Wichs, hinter ihnen ein Musikkorps. Dann folgte der in schwarzes, mit Fransen und Quasten besetztes Tuch geschlagene Sarg, von zwölf Studenten getragen. Eine ovale Platte trug die vergoldete Inschrift: Cineres mortales immortalis Kantii, eine zweite am Fußende die Worte: Orbi datus XXII. Aprilis 1724, ereptus XII. Febr. 1804. Unmittelbar hinter dem Sarge schritten zwei — nach anderer Angabe zwei Paar — Verwandte, dann die Tischfreunde und die näheren Bekannten, etwa zwei Dutzend an der Zahl. An sie schloß sich der erste studentische Redner sowie der Träger des von Böckel gedichteten Trauerkarmens, darauf, dem zweiten Redner (Böckel) und einem zweiten Trauermarschall folgend, das übrige Trauergefolge. Es war ein klarer Wintertag. Durch die Hauptstraßen der Altstadt und des Kneiphofs bewegte sich der Zug zur Dom- und Universitätskirche, an deren Portal er von dem akademischen Senat — Kurator, Rektor und Kanzler an der Spitze — empfangen und unter feierlichen Trauerklängen in das würdig ausgestattete, durch Hunderte von Kerzen erhellte Innere geleitet wurde.

Hier vollzog sich die eigentliche Trauerfeier. Auf einem neben den gewöhnlichen Professorensitzen aufgeschlagenen Podium zwischen mehreren Postamenten, deren mittleres die Hagemannsche Kantbüste trug, ward der Sarg niedergelassen; auf einem nahen Altar lagen die bedeutendsten Werke des Toten. Nach einem musikalischen Vorspiel hielt der junge von Schroetter eine Ansprache in gebundener Rede. Darauf folgte, vom Gesangpersonal der Oper unter Leitung des Musikdirektor Hiller vorgetragen, eine Trauerkantate, deren — ursprünglich auf den Tod König Friedrich Wilhelms II. gedichteter — Text durch Böckel die nötigen. Änderungen erfahren hatte. Daran schloß sich die den Dank an das Trauergefolge mit warmen Gedenkworten zu Ehren des Entschlafenen verbindende Hauptansprache des redebegabten "Entrepreneurs". Währenddessen überreichte Studiosus Graf Truchseß dem Kurator, Oberburggrafen von Ostau, das in Distichen verfaßte Trauerkarmen ("Empfindungen am Grabe Kants"). Unter den Klängen eines zweiten von Hiller vertonten Chorais wurde schließlich der Sarg nach der an der Nordseite des Doms befindlichen akademischen Grabstätte, dem sogenannten "Professoren-Gewölbe", getragen, wo er — dem Sinne des Verstorbenen gemäß — ohne weitere kirchliche Zeremonien im Beisein der Professorenschaft in die ihm bestimmte Gruft gesenkt ward. Traurig standen Kants Freunde dabei, als die hartgefrorenen Erdschollen in das Grab hinabfielen (Scheffner).

Hatte die Studentenschaft aus eigenem Antrieb die Bestattungsfeier in die Hand genommen, so wollte doch auch der Senat nicht ganz zurückbleiben. Er faßte in einer außerordentlichen Sitzung vom 20. Februar den — wie es heißt, in den Annalen der Universität ohne Präzedenzfall dastehenden! — Beschluß, eine besondere Gedenkfeier am Geburtstage Kants, das heißt, weil dieser auf einen Sonntag fiel, am folgenden Tage (dem 23. April) im großen Hörsaale der Akademie abzuhalten und die Hagemannsche Marmorbüste des Philosophen an diesem Tage endgültig dort aufzustellen. Die Einladung, die eine kurzgefaßte, aber warmherzige Würdigung Kants enthielt, ließ Professor Johann Schultz ergehen, während Pörschke ein Gedicht beisteuerte. Die Gedächtnisrede dagegen hielt leider kein dem Toten als Freund oder Philosoph nahestehender Kollege wie Kraus, sondern der offizielle Festredner der Universität, Professor der Eloquenz Samuel Gottlob Wald. Sie ist daher auch weniger ihres Gedankeninhalts halber bemerkenswert, als wegen verschiedener schriftlicher Beiträge, die eine Reihe persönlicher Freunde des Philosophen über Einzelheiten aus dessen Leben dem damit wenig vertrauten Redner geliefert haben.2)

 

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1) In einer besonderen Abhandlung: Über den Schädel Kants. Ein Beitrag zur Galischen Hirn- und Schädellehre. Königsberg 1804. Eine ausgezeichnete Untersuchung von fachmännischer Genauigkeit an dem 1880 wieder ausgegrabenen Schädel haben dann der Anatom C. Kupffer und sein Schüler F. Bessel-Hagen unter dem Titel 'Der Schädel Kants' im 'Archiv für Anthropologie', XIII, 4 (August 1881), S. 359—410 geliefert. Die Hauptergebnisse (vgl. S. 398 f.) sind folgende:

1. Die Schädelkapsel ist allseitig abgerundet, nach Umfang und Kapazität (1740 ccm gegenüber einem Durchschnitt der preußisch-litauischen Schädel von 1400) besonders groß.

2. Bei mittlerer Länge und Höhe, zeigt er auffallende Breite (ausgeprägte Brachykephalie).

3. Und zwar besonders über den Mittel- und Hinterkopf hin, während Vorderkopf und Stirn nur gewöhnliche Breite besitzen.

4. Die Stirn insbesondere ist weder breit noch besonders hoch, noch, abgesehen von der Schläfengegend, gewölbt.

5. Besonders stark entwickelt war also der Hinterkopf. Demnach war

6. das Hirn im Scheitel- und Okzipital-Lappen besonders stark entwickelt.

7. Die rechte Seite des Schädels überwiegt der Wölbung wie dem Umfang nach.

8. Das Gesicht ist orthognath (das heißt geradlinig ohne Vorspringen der unteren Partien) und zeigt, bei im übrigen greisenhaftem Charakter, eine beträchtliche Jochbreite und eine bedeutende Höhe der Augenhöhlen.

2) Sie sind zusammen mit der Rede, nach Walds Handschrift, zuerst von Rudolf Reicke unter dem Titel 'Kantiana, Beiträge zu J. Kants Leben und Schriften' (Königsberg 1860) veröffentlicht worden.


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