Unterhaltungen mit Abegg


Den ausführlichsten und lebendigsten Bericht über Kants Unterredungen aber besitzen wir in dem, als Ganzes leider noch ungedruckten, Tagebuch des badischen Theologen Johann Friedrich Abegg, der im Sommer 1798 seinen in Königsberg als Großkaufmann (Weinhändler) ansässigen Bruder Georg Philipp Abegg besuchte und sich vom 28. Mai bis 9. Juli in Ostpreußens Hauptstadt aufhielt. Er war in diesen sechs Wochen, abgesehen von seinem längeren Antrittsbesuch am 1. Juni, dreimal bei Kant zum Mittagsmahl geladen: am 12. und 14. Juni und am 5. Juli. Seine Schilderungen haben den Vorzug, in der Regel gleich am selben oder nächsten Tag niedergeschrieben zu sein. Sie machen den Eindruck vollster Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit und Urteilsfähigkeit und sind dabei höchst anschaulich gehalten. Eingeführt wurde Abegg am 1. Juni vormittags um 10 bei dem Philosophen durch den Oberstadtinspektor Brahl, nachdem dieser ihn vorher von Abeggs Absicht unterrichtet hatte, denn er ließ nicht mehr jedermann vor. Abegg schildert Kants Äußeres mit den Worten: "Es trat mir ein Mann mittlerer Größe, sehr vorwärts gebückt, mit freundlich lebhaftem Angesicht entgegen", dem er dann zunächst Fichtes Empfehlungsschreiben (vgl. S. 263) überreichte. Auf dem Rückweg erzählte ihm Brahl noch vielerlei Interessantes von Kants politischen, religiösen und sittlichen Ansichten wie von seinen Lebensgewohnheiten, was wir zum großen Teil an seinem Orte bereits mitgeteilt haben.

Am 12. Juni traf er beim Mittagsmahl außer Brahl auch den Dr. med. Jachmann, "einen schönen und überaus geschickten Mann". Die von dem Philosophen sehr rege geführte Unterhaltung betraf das Verschiedenste: den nur eine Woche vorher stattgefundenen Einzug des jungen Königspaares, die Gewinnung des Bernsteins, das neue Unternehmen Bonapartes, über das damals alle Welt Vermutungen anstrebte, das neue preußische Gesetzbuch, die neueste Geschichte überhaupt, den "Erzroyalisten" Schmalz, den Rheinwein, von dem zu Ehren des Gastes aus der Rheingegend eine gute Flasche geleert wurde, und anderes. Auch Kant mißbilligte, dass der neue König nicht nach gut militärischer Sitte eingeritten oder wenigstens im offenen Wagen gefahren war. Er selbst hatte sich natürlich an den zahlreichen Huldigungsfeierlichkeiten nicht beteiligt. Von einigem Interesse dürfte es sein, dass die Königin Luise den berühmten Philosophen kennen zu lernen wünschte; allein dieser ließ sich nicht — durch den in sein Haus gesandten Kammerlakaien — auf das Schloß befehlen. Mit gelassener Ironie erzählte er seinen Mittagsgästen: "Ich bin höflich gegen jedermann. Dieser Besuch fiel mir aber doch etwas auf. Von Seiten dieses Mannes war es auch etwas Insolenz, besonders da er sich anbot, mich bei der Königin vorzuführen. Aber er war sonst ein wohlgebildeter Mensch."1) Die Auseinandersetzung über den Bernstein schloß sich an die Tatsache an, dass man der Königin einen Bernsteinschmuck für den Ball im Moskowitersaal des Schlosses geschenkt hatte. Kant meinte, man hätte ihr lieber eine Sammlung von besonders merkwürdigen Stücken, z. B. mit darin befindlichen seltenen Fliegen, verehren sollen, was dann vielleicht Anlaß zu Veranstaltung wertvoller Forschungen gegeben hätte. Dann verbreitete er sich über die Gründe dieser auffallenden Tatsache und gab auf Abeggs Fragen genauen Aufschluß über die Art, dies Gold der Ostsee zu gewinnen.

Am 14. Juni war die Unterhaltung wiederum "von der mannigfaltigsten Art". Sie betraf Politisches, wie die Expedition Bonapartes und den Egoismus der englischen Politik (s. Kap. 4), Soziales wie die Beurteilung der Juden (Buch III, Kap. 8) oder die ungerechte Bevorzugung vornehmer Verbrecher, allerlei Lebensgewohnheiten Kants, den Freimaurerorden. Am Schlüsse des Mahles, das von 1 bis nach 4 Uhr dauerte, überreichte er Abegg zwei Rosen aus seinem Garten, die dieser sich natürlich "zur lebendigen Erinnerung an seine mir erzeigte Güte" aufbewahrte.

Wir geben nun zum Schluß die Schilderung des letzten Mittagsmahles, am 5. Juli 1798, im Zusammenhang: "Gegen 1 Uhr ging ich zu Professor Kant. Er war überaus freundlich. Ich mußte mich zu ihm setzen, und er freute sich über die übersandten Proben von Steinwein. Kriminalrat Jensch und Prediger Sommer speiseten mit. Von Kaiser Paul 2) gibts wieder viel Originelles zu reden. Zwar nicht im guten: es gibt auch originelle Tollheiten. Doch glaubt Kant, Bonaparte würde bei Spanien landen und Portugal erobern, und dann würde im September allgemeiner Friede sein. Er findet es nicht unwahrscheinlich, dass England republikanisiert (!), und der König Kurfürst von Hannover ist und bleibt. Dann würde England wieder aufblühen, ohne andere zu drücken. Den Aufstand in Irland hält er für rechtmäßig; wünscht und hofft, dass die Schotten gemeine Sache mit ihnen machen möchten. Die letzteren erhebt er gar sehr, gegen die Engländer. Sie sind wißbegierig, fleißig und achten auf fremde Menschen und Sachen. Die Engländer sagen: Wenn man den Schotten im Sack durch Europa trägt, hat er doch, wenn er zu Hause kommt, die Sprachen gelernt. — [Dann folgen einige Zeilen betreffend zwei unbekannte Persönlichkeiten, deren Namen nicht genau zu entziffern sind.] — Von den Kohlen, wenn sie gut ausgebrannt sind, redete Kant auch und Prediger Sommer. Pulverisierte Kohlen ziehen alles Faulartige aus dem Körper. Ein Abenteuer: Kant reisete mit einem Rehbraten. Er stank schon. Er wickelte ihn in Kohlen. Auf der nächsten Station hatte sich der faule Geruch verloren, und er schmeckte delikat. Eier, in Kohlenstaub gesteckt, halten sich länger. Kohlenstaub mit etwas Rosenhonig vertreibt das Zahnweh, besonders wenn die Zähne skorbutisch sind. Kant will dem Hofprediger Schultz, der Zahnweh hat, das Rezept schicken... Ich mußte ihm das Verhältnis des Adels zu den Reichsständen in dem ganzen Reiche auseinandersetzen, weil er einige Stellen in der Zeitung nicht recht verstehen konnte. — Als eine sehr interessante und angenehme Lektüre empfahl er uns Meiners 'Über den Zustand der Russen', zwei Teile. Es ist ihm leid, dass er nur noch einige Bogen in diesem Werke zu lesen hat. Über Tabakrauchen, Schnupfen, Betelkauen: Bemerkung, wie es immer etwas abführe. Ich bemerkte ihm, dass die Türken und Rotmäntler alles hinunterschluckten. Es ist wohl mehr ein Ableiten der Gedanken, die nicht zur Sache gehören, ein sanftes Bewegen der Seele durch die leichte Beschäftigung der Organe, die gekitzelt werden. — Er ließ mir Rheinwein holen, den er sehr lobte. Mit dem Baron Brose, der vom Dresdener Hofe so recht die Erbärmlichkeit der Höfe gesehen und gefühlt hatte, trank er oft ein Glas Rheinwein. Sie begeisterten sich miteinander [vor der Karte?]. Er war Sprachenkenner, Arzt Chymikus. Er hatte ganz eigentlich Sentiment. — "Dass es mit der französischen Republik gut gehen müsse, glaubte man lange, und man glaubte es, weil man es so sehr wünschte. Aber wie verschieden sind diese Wünsche selbst von denen, welche preußische Patrioten fühlten, wenn ihr König in die Schlacht zog. Hier hat die Freundschaft doch Anteil." — Wir sehen, sagte Jensen, die unendlichen Folgen der Kreuzzüge, der Reformation, und was ist dies gegen das, was wir jetzo erleben? Welche Folgen muß dies haben! — "Gewiß unendlich groß und wohltätig, sagte Kant. Die Religion wird keinen Verlust mehr haben, und alles wird nach freier Überzeugung geschehen. Die Natur der Text, und von den früheren Religionskenntnissen wird man beibehalten, was man für gut erachtet. Die Bibel wird immer viel Autorität haben, und sie ist auch das beste Buch von dieser Art ... Nichts Privilegiertes. — — Die Schweizer wollen nichts geben, und doch soll ihre Republik durch französische Soldaten gegründet und erhalten werden. Wollen die Franzosen auch diese Trappen noch nähren? — Es ist gut, dass man manchmal zur Ordnung der Lebensgeister Wein trinke."

"Nach 4 Uhr standen wir erst auf. Ich nahm Abschied und dankte mit Rührung für die mir bewiesene Gewogenheit und Güte. Er versicherte mich seines Wohlwollens, seines guten Andenkens. ... Immer preise ich mich glücklich, ihn kennen gelernt zu haben, von ihm Beweise von Achtung und Wohlwollen erfahren zu haben! Zum letztenmal habe ich ihn wahrscheinlich hier gesehen! Oft werde ich an ihn denken, ihn mir vorschweben lassen und werde ihn wieder suchen, wenn und wo noch etwas jenseits zu suchen und zu finden ist."

 

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1) Es wäre nicht ohne Interesse festzustellen, ob dieser "sonst wohlgebildete Mensch" vielleicht identisch war mit dem späteren berühmten Bildhauer Christian Rauch, der in der Tat damals als Lakai in den Diensten der Königin stand und sich, wie von anderer Seite berichtet wird, 1798 den berühmten Denker zeigen ließ, den er dann ein halbes Jahrhundert später in Erz gebildet hat.

2) Paul I. von Rußland (1796—1801).


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