4. Das unvollendete Nachlaßwerk
Wir haben uns zum Schluß noch mit dem unvollendeten Nachlaßwerke (dem sogenannten Opus postunum) zu befassen, an dem der greise Philosoph in seinen letzten Lebensjahren gearbeitet hat: obwohl das keine gerade leichte Aufgabe ist.1)
Dies umfassend gedachte Werk sollte nach zwei Briefen aus dem Herbst 1798 — an Garve vom 24. September, an Kiesewetter vom 19. Oktober — sein "kritisches Geschäft beschließen" und eine in seinem System noch befindliche "Lücke" ausfüllen. Er hat bis mindestens in das Jahr 1801, wahrscheinlich aber bis 1803 hinein eifrig daran gearbeitet. Hasse, einer seiner häufigsten Besucher in den letzten Jahren, sah es "mehrere Jahre" lang in mehr als 100 dicht beschriebenen Foliobogen, auf seinem Arbeitstische liegen und fand ihn oft noch, wenn er sich zum Mittagessen einfand, daran schreibend. Kants eigenes Urteil darüber lautete sehr verschieden. Zu Jachmann sprach er, anscheinend in früherer Zeit, "mit einer wahren Begeisterung" über dies Werk, das den "Schlußstein seines ganzen Lehrgebäudes" bilden und die Haltbarkeit und Anwendbarkeit seiner Philosophie "völlig dokumentieren" sollte; und Hasse gegenüber nannte er es in den letzten Jahren "sein Hauptwerk, ein Chef d'oeuvre", das sein System zu einem Ganzen vollende und nur noch zu redigieren sei (Hasse, S. 19). Ähnlich meinte er zuweilen gegen Wasianski, nach dessen Ansicht er freilich "das Geschriebene selbst nicht mehr beurteilen konnte", es bedürfe nur noch der letzten Feile: während er zu anderer Zeit wieder es nach seinem Tode verbrannt wissen wollte. Professor Schultz, dem Wasianski als bestem Dolmetscher Kants nach dessen Hingang die Handschrift zur Beurteilung vorlegte, riet von einer Veröffentlichung ab, da es nur "der erste Anfang eines Werkes" und "der Redaktion nicht fähig" sei (Was., S. 195). Der letztere Punkt stimmt besser als der erstere. Bemüht man sich nämlich in den, zunächst einen verworrenen Eindruck machenden, Inhalt einzudringen, so entdeckt man, dass weit mehr als der erste Anfang eines Werkes vorhanden ist, dass sogar zwei verschiedene Themata behandelt werden: ein natur- und ein allgemeinphilosophisches.
Der bei weitem größte Teil der Gesamtmasse enthält Materialien zu dem geplanten naturphilosophischen Werk, das die Lücke zwischen den 1786 erschienenen 'Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft' und der Physik im engeren Sinne ausfüllen will. Zur Beschleunigung seiner Abfassung ist Kant wahrscheinlich durch Schellings damals in rascher Folge erscheinende naturphilosophische Schriften (1797: 'Ideen zu einer Philosophie der Natur'; 1798: 'Von der Weltseele'; 1799: 'System der Naturphilosophie') veranlaßt worden.
Als Grundprinzip für die Physik wird eine durch den ganzen Weltraum kontinuierlich verbreitete, alle Körper gleichmäßig durchdringende bzw. erfüllende, mithin keiner Ortsveränderung unterworfene Materie angenommen. Ohne diese, bald Äther, bald "Wärmestoff" genannte, Urmaterie, die uranfänglich bewegende Kräfte besitzt, würde kein Sinnengegenstand, keine Erfahrung möglich sein. Der Wert der Mathematik für die Naturwissenschaft erscheint eingeengt: sie stellt keinen "Kanon", sondern nur ein "vielvermögendes Instrument" für die Naturwissenschaft dar. "Mathematische" Naturwissenschaft ist, buchstäblich verstanden, ein Unding; sie bedeutet bloß, dass die Bewegung mathematisch behandelt, nämlich gemessen werden kann, vermag dagegen keine der Materie eigene (dynamische) Kräfte in das System hineinzubringen. Die Naturwissenschaft als (philosophia naturalis, auch wohl geradezu als "Physik" bezeichnet) wird in immer aufs neue sich wiederholenden Definitionen bestimmt als 'Wissenschaft von den bewegenden Kräften im Weltraum', als 'System der bewegenden Kräfte der Materie' oder 'Erfahrungswissenschaft von den bewegenden Kräften der Natur, insofern die Materie ein nicht künstliches, sondern natürliches System ausmacht' u. ä.
Nach weit ausgesponnenen, sehr häufig sich wiederholenden methodischen Erörterungen, die zum Teil unmittelbar an die Kritik der reinen Vernunft, zum Teil an die 'Metaphysischen Anfangsgründe' von 1786 anknüpfen, über die Möglichkeit des Überganges von der Metaphysik zur eigentlichen Physik, nach weiteren Untersuchungen über Erkennbarkeit, Existenz und Wesen der Materie wird dann als Kern des Ganzen der Begriff und das nach den bekannten vier Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität eingeteilte Elementarsystem der "bewegenden Kräfte" der Materie entwickelt. Das alles geschieht unter so zahlreichen Wiederholungen des nämlichen Gegenstandes, dass nach Ausscheidung derselben der Inhalt des Ganzen, Reickes Schätzung zufolge, sich von etwa 100 auf kaum — 20 Foliobogen reduzieren würde. Wir müssen es dem Urteil der Fachleute überlassen, ob sie in den oft überlang sich ausspinnenden Meditationen des greisen Denkers fruchtbare Anregungen für die Naturforschung finden werden. Uns haben die meisten, insbesondere die nachweislich älteren, noch aus den 90er Jahren stammenden Niederschriften keinen wesentlich anderen Eindruck gemacht als die übrigen 'Losen Blätter' aus dieser Zeit, das heißt inhaltlich gegenüber den gedruckten Schriften nichts prinzipiell Neues bietend; wohl aber eine Reihe scharfsinniger oder anregender Einzelgedanken, in der Form zahlreiche Wiederholungen, neue Ansätze des gleichen Gedankens, Anakoluthe und andere Stillosigkeiten.
Auf die zahlreichen wertvollen Einzelgedanken können wir natürlich nicht eingehen; nur einen besonders wichtigen methodischen Grundzug möchten wir nachdrücklich betonen, der unseres Wissens noch von keinem Gelehrten 2) hervorgehoben worden ist: der methodische Idealismus, der Kants Philosophie von allen anderen unterscheidet, erscheint gerade in dem Nachgelassenen Werk, also bis zum Ende seiner philosophischen Denkarbeit, nachdrücklichst festgehalten. Wir heben im folgenden die wichtigsten Belegstellen 3) heraus: Die Erfahrung wird gemacht, nicht gegeben (79). Wir machen selbst die Gegenstände als Erscheinungen durch die Kategorien (84 b). Auch die Physik muß ihr Objekt selbst machen nach einem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung (166, vgl. 300). Wir können aus den Sinnenvorstellungen, welche die Materie der Erkenntnis ausmachen, nichts herausheben, als was wir selbst hineingelegt haben (97 c, vgl. 245). Die Vorstellungen der Sinnenobjekte kommen nicht ins Subjekt hinein, sondern sie und die Prinzipien ihrer Verknüpfung untereinander wirken zur Erkenntnis dessen hinaus, um Gegenstände als Erscheinungen zu denken (91, vgl. 67, 233 b). Und zwar fängt (logisch betrachtet) der Verstand mit dem Selbstbewußtsein, diesem logischen Akte an, an welchen sich dann das Mannigfaltige der äußeren und inneren Anschauung anlehnt (171 in Verbindung mit 84 und 298 a). Demnach "muß man vom Formalen anfangen, um zu wissen, wie man das Materiale suchen soll" (140).4) Auch Raum und Zeit sind Akte des Subjekts (102), "Aktus, wodurch das Subjekt sich selbst zum Behuf möglicher Erfahrung selbst setzt a priori und sich zu einem Gegenstande konstituiert" (98). Die Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung ... sind subjektiv und dadurch objektiv (102, vgl. 245); und das vollzieht sich vermittelst der Kategorien, die "sich selbst (das Subjekt) zum Objekt konstituieren" (253).
Dabei will jedoch Kant nichts von einem subjektiven Idealismus wissen, der die Wirklichkeit der Gegenstände bezweifelt (258). Es ist vielmehr "in der transsz. Philosophie einerlei, ob ich die Sinnenvorstellungen idealistisch oder realistisch zum Prinzip mache, denn es kommt nur auf das Verhältnis der Gegenstände untereinander, nicht zum Subjekte, an (97 b). Selbstverständlich "existiert" auch nach Kant "ein Sinnenobjekt außer uns", dessen "objektive Realität" aber logisch, nicht physisch begründet ist (269). Denn wir machen die Erfahrung selbst (s. oben) "nach einem formalen Prinzip der Zusammensetzung der empirischen Vorstellungen", von der wir nur "wähnen", sie "durch Observation und Experiment gelernt zu haben", während wir sie in Wahrheit "nicht aus der Erfahrung, sondern umgekehrt für diese und zum Behuf derselben nach Prinzipien zu einem objektiven Ganzen der Sinnenvorstellungen verbinden" (245, vgl. 166, 242 ff., 300, 371). "Rein" bedeutet "Einheit der durchgängigen Verbindung" (305), a priori "notwendige Voraussetzung" zum Behuf möglicher Erfahrung bzw. des Experiments (416). Das Zusammengesetzte kann als solches niemals durch bloße Anschauung, sondern nur durchs Zusammensetzen, mit Bewußtsein der Einheit dieser Verbindung, erkannt werden (365), weshalb denn auch die Zusammensetzung, nicht das Zusammengesetzte, zuerst gedacht werden muß; das ist der neue, kritische Sinn des alten scholastischen Prinzips: forma dat esse rei (369 d). Auch der "Als-ob"-Gesichtspunkt tritt kräftig hervor (vgl. Vaihinger, a. a. O., S. 721—733). Wir sehen mithin alle kritischen Grundbegriffe und Grundansichten in dem Nachlaßwerke, zum Teil in noch prägnanterer Form, wiederkehren.
Aber wir nehmen daneben doch noch eine neue Tendenz wahr, die freilich bei Kants unmittelbaren Nachfolgern eine weit bedeutendere Rolle gespielt hat: die von der Kritik zum System. Im Grunde ist ja in den drei "Kritiken" das System schon enthalten. Denn es "dürfen", wie das Kapitel von der Architektonik der reinen Vernunft (Kr. 860 ff.) ausführt, "unter der Regierung der Vernunft unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen"; und systematische Einheit "ist dasjenige, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, das ist aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht", das aus einem und demselben Prinzip folgt, nach notwendigen Gesetzen zusammenhängt, und in dem allererst die Vernunft Ruhe findet. Trotzdem hatte die Kritik an mehreren Stellen, die man im Sachregister meiner Ausgabe (Hendel, Halle) findet, auf ein künftig noch zu lieferndes System, eine "Metaphysik" der Natur und der Sitten, hingewiesen. Die letztere (eigentlich, wie wir in Buch III, Kap. 2 sahen, nur eine angewandte Ethik) war dann 1797, von der ersteren 1786 die 'Anfangsgründe' herausgekommen. Durch sein Manuskript vom 'Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik', das in der Tat in der Krauseschen Zusammenstellung bereits ziemlich weit ausgebaut erscheint, glaubte er nun jene Lücke ausgefüllt zu haben. Gleichwohl fühlte er sich auch dadurch noch nicht völlig befriedigt. "Es liegt in meinem Plane und sozusagen in meinem natürlichen Beruf, mich, was Philosophie betrifft, innerhalb der Grenzen des a priori Erkennbaren zu halten", aber "das Feld derselben womöglich auszumessen und in einem Kreise, der einfach und einig ist; einem nicht willkürlich ausgedachten, sondern durch reine Vernunft vorgezeichneten System darzustellen" (bei Krause, Nr. 15).
Offenbar hat zu diesem "Plan" das Auftauchen der neuen "Systeme" seiner Nachfolger: der Reinhold, Fichte, Schelling usw. mit beigetragen, anscheinend wieder besonders Schellings 1800 erschienenes 'System des transzendentalen Idealismus', das in dem Manuskript zweimal mit vollem Titel zitiert wird. So erscheinen denn neben jenem schon ziemlich weit ausgeführten naturphilosophischen Werk, das in dem bisher Veröffentlichten bei weitem den meisten Raum einnimmt, die Anfänge eines zweiten Werkes allgemein-philosophischen Charakters, an dem er anscheinend erst in seinen allerletzten Jahren, von 1801—1803, gearbeitet hat. Es wird — an die eigene "transzendentale" Methode, aber doch auch an den Titel von Schellings Werk anklingend — gewöhnlich als 'Transzendental-Philosophie', genauer 'System der Transzendentalphilosophie', auch 'Der Transzendental-Philosophie höchster Standpunkt', aber auch als 'System der reinen Philosophie,' mehrmals auch mit dem auffallenden Nebentitel 'Zoroaster' bezeichnet: im ersten Konvolut finden sich nach Reickes Zählung ungefähr 30 Ansätze zur Formulierung! Und da das Letzte, wozu des Menschen Gedanken gelangen können, die drei Ideen: Gott (selbst wenn man sein Dasein leugnet), die Welt und der Mensch selbst als vernünftiges Wesen sind, so zerfällt es in drei Abschnitte: 1. "Gott, 2. die Welt und 3. ich selbst, der Mensch als moralisches (an einzelnen Stellen auch: denkendes) Wesen".
In einem Gegensatz zu seinem kritischen Lebenswerk stehen die Ausführungen der Handschrift nicht. Denn die drei genannten Ideen werden ausdrücklich 'Dichtungen' der reinen Philosophie oder reinen Vernunft genannt, die nur behufs der "Einheit möglicher Erfahrung" erdacht sind. Sie haben also genau den gleichen Sinn wie die regulativen Ideen der transzendentalen Dialektik, als deren Fortsetzung man das geplante 'System der Transzendental-Philosophie' ebenso betrachten könnte, wie das naturphilosophische Werk 'Vom Übergang' als Fortsetzung der Lehre von den Grundsätzen gelten kann.
Deutlich ausgeführt sind in dem Entwurf nur eine Anzahl Paragraphen des ersten Abschnittes: über Gott. "Gott" erscheint auch hier als bloße Idee oder, wie es an einer Stelle (Reicke, S. 412 Anm.) besonders klar heißt: "Gott ist nicht ein Wesen außer mir, sondern bloß ein Gedanke in mir." Ausdrücklich wird darum auch der Gegensatz zu dem Pantheismus Schellings (Weltseele) und des damals viel gefeierten Spinoza betont. Trotzdem ist der Idee Gottes "nicht Persönlichkeit zu attribuieren", sondern "die Idee von Gott als lebendigem Gott ist immer das Schicksal, welches dem Menschen unausbleiblich bevorsteht". Auch sonst finden sich höchst interessante Gedanken, wie wenn die Frage aufgeworfen wird: "Ob Gott auch einen guten Willen dem Menschen geben könne?" mit der Antwort: "Nein, sondern der verlangt Freiheit." Oder welch weite Perspektive ergibt sich aus folgender Parallele zwischen theoretischer und praktischer Idee: "Der kategorische Imperativ (die Freiheit des Menschen) eine Idee analog der Newtonschen Attraktion durch den leeren Raum" (Reicke, S. 336 Anm.)! Und solcher Gedankenblitze ließen sich noch eine ganze Reihe anführen.
Jeder Leser dieser Kantischen Aufzeichnungen wird erkennen, wie recht ein Professor Mehmel aus Erlangen hatte, wenn er nach seiner Rückkehr aus Königsberg Wilhelm von Humboldt erzählte, der 71jährige Denker habe "noch eine ungeheuer große Menge unbearbeiteter Ideen im Kopfe, die er noch ... alle in einer gewissen Reihe bearbeiten wolle" (Humboldt an Schiller, 5. Okt. 95); und wie oberflächlich Kuno Fischer das Opus postumum eingesehen haben muß, wenn er es für ein ziemlich wertloses Erzeugnis von Kants "Senilität" erklärt. Gewiß, namentlich das am spätesten entstandene zuoberst liegende, 11 Bogen umfassende Konvolut, an dem der Greis, nach dem Umschlag (vom 22. Mai 1801) zu schließen, vielleicht erst von diesem Jahre an, und sicher bis in sein letztes, achtzigstes Lebensjahr gearbeitet hat, enthält manche tragische Spuren von der erschöpften Kraf des einst so gewaltigen Geistes. Nach Rudolf Reicke findet sie bei keinem anderen "so viel ausgestrichen, über- und zwischengeschrieben, so dicht und mit so kleiner, bisweilen unleserlicher Schrift, dass das Ganze buntscheckig aussieht und das Auge beim Lesen ermüdet". Und, was mehr als diese nicht nur bei dem früheren Kant, sondern sicherlich auch bei vielen heutigen Gelehrten vorkommenden Äußerlichkeiten besagen will: "Ermüdend wirkt auch der Inhalt. Wohl mehr als 60mal versucht Kant den Titel für sein Werk [gemeint ist das zweite. K. V.] zu fixieren ... noch viel häufiger, mindestens 150mal, müht er sich ab, eine Definition der Transzendental-Philosophie zu geben und den Gegenstand derselben zu bestimmen." Zuletzt gehorcht ihm, wie wir hinzufügen möchten, auch die Feder nicht mehr. Er verschreibt sich öfters, besonders bei den eingestreuten Gedächtnisnotizen ('Allotriis'); z. B. "das von Rhodsche Stidendium" — "Ein Vligilantius" — "Olbers P(l)anet" (S. 310) und vor allem (S. 311): "Im 80 sich sechsten [sic!] Jahr meines Alters Nach dem die 70sechsicher und auch die 70siebscher verlaufen."
Indes die letzterwähnten Stellen sind doch nur Ausnahmeerscheinungen fortgeschrittener Altersschwäche aus seinem letzten Lebensjahre. Und was die häufigen Wiederholungen und Formulierungsversuche eines und desselben Gedankens betrifft, so ist immerhin zu bedenken, dass er diese Bogen bloß für seinen eigenen Gebrauch niederschrieb, und dass sie sich, wenngleich bei weitem nicht in dem Maße, auch in seinen früheren Losen Blättern finden. Schließlich gelingt ihm doch eine durchaus klare und wertvolle Bestimmung der 'Transzendental-Philosophie' als desjenigen "philosophischen Erkenntnissystems, welches a priori die Gegenstände der reinen Vernunft in einem System notwendig verbunden darstellt". Jedenfalls darf der Eindruck der spätesten Niederschriften nicht unser Urteil über das Ganze bestimmen. Wer sich auch nur einigermaßen in die allerdings nicht leichte Lektüre des Nachlaßwerkes vertieft hat, der wird seine Bedeutung weder über- noch unterschätzen. Er wird es zwar nicht mit A. Krause für die "tiefste und folgenschwerste aller Schriften Kants" oder für "ein Riesenwerk" erklären, das "jeden Sachkundigen zum Staunen und zur Bewunderung hinreißen müsse", aber noch viel weniger mit Kuno Fischer von dem "traurigen und öden Anblick des nachgelassenen Kantischen Werkes" reden. Er wird das unvollendete Erzeugnis seines höchsten Alters gewiß den großen kritischen Werken seiner Reife- und auch den geistvollen Schriften seiner Werdezeit nicht gleichstellen; aber er wird sich freuen, in ihm zahlreichen Bestätigungen, ja hier und da sogar glücklichen neuen Formulierungen seiner philosophischen Methode und daneben einer ganzen Reihe von interessanten, seinen Geistesreichtum auf allen Gebieten menschlicher Weisheit verratenden Bemerkungen zu begegnen, den ihm auch das hohe Greisenalter nur geschwächt, nicht geraubt hat.
___________________
1) Hier nur das Nötigste über die äußere Überlieferung und teilweise Veröffentlichung der Handschrift. Um 1865 kam sie aus der Hinterlassenschaft von Konsistorialrat Schoen (S. 340) in die Hände von Rudolf Reicke (Königsberg), der in drei Jahrgängen der 'Altpreußischen Monatsschrift' (1882—1884) unter dem Titel 'Ein ungedrucktes Werk von Kant aus seinen letzten Lebensjahren' etwa zwei Drittel des Ganzen, nämlich neun von den 13 "Konvoluten" auf nahezu 700 Druckseiten mit Hilfe E. Arnoldts herausgegeben hat: übrigens an einer Reihe von Stellen zusammenhanglose Worte und außerdem einen Teil der gerade für den Biographen wertvollen "Allotria", das heißt mit dem Werk nicht in Zusammenhang stehenden Notizen, auslassend und an zahlreichen anderen Stellen den Text durch willkürliche Konjekturen verändernd. So steht der Leser, namentlich der Laie, vor ihr wie vor einem Labyrinth, das er selbst erst enträtseln soll. Darum sollte man nicht mit Kuno Fischer, der früher durch sein Ansehen das Urteil des großen, auch des philosophischen, Publikums fast ausnahmslos bestimmt hat, über das Unternehmen des Pastors Albrecht Krause (Hamburg) schlechtweg aburteilen, der das Manuskript um 1884 von einem Enkel Schoens gekauft und reiche Auszüge aus demselben unter dem Titel 'Das nachgelassene Werk I. Kants: Vom Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik mit Belegen populär-wissenschaftlich dargestellt' (Frankfurt 1888) veröffentlicht hat. Gewiß ist Krauses eigene "populäre Darstellung" wissenschaftlich ziemlich wertlos. Aber er hat sich wenigstens das eine Verdienst erworben: durch die Art der Anordnung, in der er den Kantischen Text bringt, zum erstenmal Ordnung in das Durcheinander der Handschrift gebracht, ja eine klare sachliche Übersicht über den naturphilosophischen Teil der veröffentlichten Stücke gegeben zu haben. Auf jeden Fall aber ist im Interesse der Wissenschaft aufs tiefste zu bedauern, dass anscheinend auch für die Zukunft keine Aussicht besteht, den gesamten Text des Nachlaßwerkes in authentischer Form der großen Akademie-Ausgabe von Kants 'Gesammelten Schriften' einverleibt zu sehen
Nachschrift. Mehrere Jahre, nachdem wir dies geschrieben, ist eine wichtige Neuveröffentlichung von dem verdienten Herausgeber des Kantischen Nachlasses in der Akademie-Ausgabe, Professor Erich Adickes in Tübingen, erschienen, auf die in Zukunft alle diejenigen werden zurückgehen müssen, die sich mit Kants Nachlaßwerk beschäftigen wollen. Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass Adickes, der das Nachlaßwerk genau studiert, auch eine Woche lang in Hamburg das Manuskript einzusehen Gelegenheit hatte, in seinem Urteil über den Wert des Ganzen im wesentlichen denselben Standpunkt teilt wie ich, ja diesen Wert beinahe noch höher anschlägt, namentlich 1. in bezug auf die noch reinere Durchbildung der Moral, während die Religion ganz auf das Gebiet des persönlichen Glaubens verwiesen wird, wie 2. in der Richtung auf die noch stärkere Ausbildung des theoretischen Idealismus. (E. Adickes, Kants Opus postumum dargestellt und beurteilt. Berlin 1920, 855s.)
2) Wie denn überhaupt in der Legion der Kantliteratur das Opus postumum allein noch wenig behandelt worden ist (vgl. jedoch S. 287 Anm.).
3) Wir zitieren nach den Nummern von Krauses Ausgabe» die ihrerseits auf den Ort in Reickes Ausgabe genau verweist.
4) Wie denn ein gleichzeitiges (um 1798/99) Loses Blatt (bei Reicke, G 3, S. 11) sagt: "Man könnte mit Hrn. Beck von den Kategorien anfangen." Die heutige 'Marburger Schule' H. Cohens und P. Natorps ist dem gefolgt.