Erneuerung des Kritizismus seit 1860
Während so in der leider nur vorübergehenden Reformepoche des preußischen Staates der Gedanke des kategorischen Imperativs zu siegreichem Durchbruch kam, waren auf Kants eigenstem Gebiet, der Philosophie, andere geistige Mächte an die Stelle des Kritizismus getreten. Die Philosophie und bald, ihr folgend, mehr oder weniger auch die übrigen Geistesgebiete: die Religion, Geschichte, Politik und vor allem die Dichtung gingen aus dem Zeichen der Klassik in das der Romantik über. Die kritische Philosophie schien schon bei dem Tode ihres Schöpfers, abgesehen etwa vom theologischen Rationalismus, fast vergessen. Aber auch die Philosophie der Fichte, Schelling, Hegel geriet trotz des Fruchtbaren, das sie namentlich zum Verständnis des geistigen und geschichtlichen Werdens beigetragen, infolge ihrer Geringachtung der positiven Wissenschaft schließlich auf ein totes Gleis. Der Alleinherrschaft der Hegeischen Spekulation in den 30er folgte der Tiefstand der deutschen Philosophie in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. Dann aber kam, nach dem Gesetz der geistigen Wellenbewegung, der Rückschlag in Gestalt einer philosophischen Selbstbesinnung.
Und nun erinnerte man sich ganz naturnotwendig des Mannes, der 80 Jahre zuvor die schlichten Grundsätze ernster Wissenschaft und Ethik verkündet hatte, welche von der nachfolgenden Entwicklung im Rausche der Spekulation zu ihrem eigenen Schaden vernachlässigt worden waren. Von den verschiedensten Seiten her erhob sich Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre der Ruf: Zurück auf Kant! Frühere Anhänger Hegels wie der besonnene Eduard Zeller, Gegner desselben wie Rudolf Haym, Herbartianer wie Drobisch waren einig in dieser Losung; Naturforscher wie Helmholtz und Zöllner begannen, sich auf Kant zu berufen; Schopenhauer, der eben damals berühmt zu werden anfing, wies nachdrücklich auf ihn hin; ebenso Kuno Fischer in seiner vielgelesenen Geschichte der neueren Philosophie. Den prägnantesten Ausdruck gab dieser neuen Zeitrichtung innerhalb der Gelehrtenrepublik der junge Otto liebmann in seiner Erstlingsschrift 'Kant und die Epigonen' (1865), in der jedes Kapitel mit dem Refrain schloß: Also muß auf Kant zurückgegangen werden! Für die allgemeine Weltanschauung aber des kritischen Idealismus wirkte noch durchschlagender, wenn auch nicht im Schulsinne, Friedrich Albert Langes vortreffliche 'Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart' (1866, 2. Aufl., 1873—1875). Bis dann Hermann Cohen (Marburg) in seiner 'Kants Theorie der Erfahrung' (1871) mit tiefschürfender, streng methodischer Arbeit auf den urkundlichen Kant zurückging und eine neue Epoche des Kantianismus heraufzuführen begann.
Seitdem hat die Kantische Philosophie geradezu eine Wiederauferstehung erlebt. Das Wort, das Kant einst, noch in der Zeit seines Ringens, geschrieben: "Vom Martertum der Philosophie" "die vor die jetzige Zeit vergeblich und nur nützlich vor die künftige schreibt", hatte sich nur einen Teil der 80er und 90er Jahre hindurch für ihn erfüllt. Jetzt sollte die Prophezeiung buchstäblich wahr werden, die er einst im Beginn seines abnehmenden Ruhmes zu Stägemann geäußert: "Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen; nach 100 Jahren wird man mich erst recht verstehen und dann meine Bücher aufs neue studieren und gelten lassen." Noch stehen wir mitten in dieser Bewegung, die — im Gegensatz zu der vor 100 und mehr Jahren — mehr in die Tiefe als in die Breite gegangen ist, deshalb auch länger angedauert hat und noch weitere Dauer verspricht. Wie befruchtend die kritische Methode in den letzten Jahrzehnten auf die verschiedensten Wissenschaftsgebiete gewirkt hat und noch wirkt, weiß jeder, der im wissenschaftlichen Leben steht. Um nur einiges Wichtige zu nennen, so hat auf dem Felde der theologischen Wissenschaft kein Geringerer als Albert Ritschi, der Begründer der in Kants erkenntniskritischen Bahnen wandelnden Ritschlschen Schule, der 'Fortbildung der Erkenntnismethode der Ethik durch Kant' die Bedeutung "einer praktischen Wiederherstellung des Protestantismus" zugesprochen, und nach Tröltsch "ringt noch heute die evangelische Kirche mit denselben Problemen". In der Naturwissenschaft folgte, noch entschiedener als sein Innrer Helmholtz, der früh verstorbene Heinrich Hertz (Prinzipien der Mechanik, 1894) den Spuren Kants, während sodann die neukantischen Philosophen selbst (Natorp, Cassirer, Bauch und andere) den Zusammenhang mit den exakten Wissenschaften zu pflegen begannen. Von den Juristen bezeugte der Königsberger Liebenthal in seiner Kantgeburtstags-Rede von 1897 zusammenfassend, dass "Kantischer Geist in unserem heutigen bürgerlichen Recht lebt und herrscht". Seitdem hat namentlich Rudolf Stammler in mehreren großen Werken (Lehre vom richtigen Recht, 1902, Theorie der Rechtswissenschaft, 1911) die Rechtsphilosophie im Geiste von Kants transzendentaler Methode auszubauen unternommen. Dasselbe hatte er schon vorher in 'Wirtschaft und Recht' (1896) nach der sozialphilosophischen Seite hin in kritischer Auseinandersetzung mit dem marxistischen Sozialismus versucht. Im Zusammenhang damit steht die starke neukantische Bewegung innerhalb des letzteren, der von Seiten der Neukantianer namentlich Staudinger und Vorländer entgegenkamen; ferner Natorp, der in seiner 'Sozialpädagogik' (1899) den kritischen Idealismus zugleich nach der pädagogischen Seite — gegen Herbart — weitergebildet und damit unter der Volksschullehrerschaft zahlreiche Anhänger gewonnen hat. Die stärksten Wirkungen hat natürlich dieser zweite Siegeszug des Kritizismus innerhalb der Philosophie selbst, von Kantianern im strengsten bis zu solchen im weitesten Sinne, entfaltet: so mannigfache und zahlreiche, dass sie an dieser Stelle nicht dargelegt werden können. Nur so viel sei gesagt: dass namentlich gegenüber dem zeitweise stark vertretenen Psychologismus heute, dank dem Durchdringen Kantischer Methode, der auf rein objektive Geltung drängende logische (erkenntniskritische) Charakter der eigentlichen Philosophie immer mehr wissenschaftliches Gemeingut zu werden beginnt; und dass auch die Gegner, kurz nach einem Worte Natorps, "jeder, der in der Philosophie vorwärts will, eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants als seine erste Pflicht erkennt".