Die Kabinettsorder
Am 1. Oktober 1794 erging "auf Seiner Kgl. Majestät allergnädigsten Spezialbefehl" folgende von Wöllner ausgefertigte königliche Kabinettsorder an den "würdigen und hochgelehrten Unseren Professor, auch lieben, getreuen Kant":
"Unsern gnädigen Gruß zuvor. Würdiger und Hochgelehrter, lieber Getreuer! Unsere höchste Person hat schon seit geraumer Zeit mit großem Mißfallen ersehen: wie Ihr Eure Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung *) mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums mißbraucht; wie Ihr dieses namentlich in Eurem Buch: 'Religion innerhalb der Gränzen der bloßen Vernunft', desgleichen in anderen, kleineren Abhandlungen getan habt. Wir haben Uns zu Euch eines Besseren versehen, da Ihr selbst einsehen müsset, wie unverantwortlich Ihr dadurch gegen Eure Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen Unsere Euch sehr wohl bekannte landesväterliche Absichten handelt. Wir verlangen des ehsten Eure gewissenhafteste Verantwortung und gewärtigen Uns von Euch bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade, dass Ihr Euch künftighin Nichts dergleichen werdet zu Schulden kommen lassen, sondern vielmehr Euer Ansehen und Eure Talente dazu anwenden, dass Unsere landesväterliche Intention je mehr und mehr erreicht werde; widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt.
Sind Euch mit Gnade gewogen.
Berlin, den 1. Oktober 1794."
Auf dieses ihm am 12. Oktober eingehändigte Reskript erwiderte Kant, unbekannt an welchem Datum, mit einem ausführlichen, auf alle Hauptpunkte der Anklage eingehenden Schreiben, das er — zusammen mit der Kabinettsorder selber — vier Jahre darauf in der Vorrede zu seinem 'Streit der Fakultäten' im Wortlaut veröffentlicht hat. Als "Lehrer der Jugend", das heißt in seinen Vorlesungen, habe er sowohl den von ihm zugrunde gelegten Handbüchern Baumgartens, wie seinem Grundsatz reinlicher Scheidung der Wissenschaften gemäß, Bibel und Christentum überhaupt nicht beurteilt. Seine 'Religion innerhalb usw.' — auf die "kleineren Abhandlungen" ging er nicht ein — sei für das große Publikum unverständlich und nur für "Fakultätsgelehrte" bestimmt, die das Recht freien öffentlichen Urteils "nach ihrem besten Wissen und Gewissen" behalten müßten; während allerdings die "Volkslehrer" in den Schulen und auf den Kanzeln an die von den Fakultäten geprüfte, von der Regierung sanktionierte "öffentliche Landesreligion" gebunden seien. Übrigens könne sein Buch schon deshalb keine "Abwürdigung" des Christentums enthalten, weil es "eigentlich" nur eine Würdigung der natürlichen Religion oder des "Wesentlichen einer Religion überhaupt" enthalte, welches im Moralisch-Praktischen bestehe; von diesem Gesichtspunkte aus erscheine freilich die Offenbarung, als "an sich zufällige" Glaubenslehre, als "außerwesentlich", darum aber nicht als "unnötig und überflüssig". Seiner großen Hochachtung vor Bibel und Christentum habe er in seinem Buch vielmehr offenen Ausdruck verliehen, auch die "Unbescheidenheit", gegen ihre "geheimnisenthaltende" Lehren in Schulen oder auf Kanzeln oder in Volksschriften ("denn in Fakultäten muß es erlaubt sein") Einwürfe und Zweifel zu erregen, getadelt und für "Unfug" erklärt. Die beste und dauerhafteste Lobrede aber auf das Christentum sei die in seiner Schrift betonte "Zusammenstimmung" desselben "mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben", durch den das öfters entartete Christentum immer wieder hergestellt worden sei und allein wieder hergestellt werden könne. Endlich habe er stets in seinen Schriften nur das gelehrt, was er selbst mit Gewißheit als wahr erkannt; so sei auch diese seine jetzige "Verantwortung" von ihm, der jetzt in seinem 71. Jahre vielleicht bald "einem Weltrichter als Herzenskündiger Rechenschaft geben müsse", mit "völliger Gewissenhaftigkeit" freimütig abgefaßt.
Was schließlich den zweiten Punkt, sein künftiges Verhalten, anbetreffe, so wolle er, um dem mindesten Verdacht darüber vorzubeugen, "hiermit, als Ew. Königl. Maj. getreuester Untertan, feierlichst" erklären: dass er sich fernerhin "aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften, gänzlich enthalten werde".
Über dies Verantwortungsschreiben unseres Philosophen ist von jeher sehr verschieden geurteilt worden, von solchen an, die es in jedem Punkte gerechtfertigt finden, bis zu denen, die ihm unlautere Nachgiebigkeit vorgeworfen haben. Wer hat recht ?
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*) In dem Akademie-Ausgabe XI, S. 506 veröffentlichen Entwurf folgten hier sogar noch die Worte: "und Entehrung".