In Italien und Frankreich
Sogar nach Italien war Kants Ruf gedrungen. Nicht nur, dass der kantbegeisterte junge Kunsthistoriker Fernow im Oktober 1795 in Rom Vorlesungen über Ästhetik hielt, wobei er fast die ganze deutsche Landsmannschaft zu Zuhörern hatte, und dass ebendort der bekannte Maler Asmus Carstens Kantische Ideen, nämlich Zeit und Raum, in allegorischen Bildern darstellte (welcher "köstliche Spaß" das Weimarer Dichterpaar zu einem Xenion veranlaßte). Sondern auch die rein "italienische Akademie" zu Siena nahm ihn am 4. April 1798 unter ihre 20 auswärtigen Mitglieder auf, da sie "Ihre erhabene Philosophie in Italien bekannt zu machen" beabsichtige. Auf die Aufforderung, zu diesem Zwecke alle zwei Jahre eine Abhandlung für die Akademie zu liefern (!), wird der 74jährige Philosoph kaum reagiert haben.
In Frankreich konnte natürlich während der ersten Revolutionsjahre, zumal man sich mit Preußen im Kriege befand, von irgendwelcher tieferer Einwirkung deutscher Philosophie keine Rede sein. Aber April 1795 hatte die Republik mit dem Königreich Preußen Frieden geschlossen, und schon am 16. Mai kann Goethe seinem kantischen Freunde Schiller mitteilen: im 'Moniteur', dem offiziellen Regierungsblatte, stehe, dass "Deutschland hauptsächlich wegen der Philosophie berühmt sei, und dass ein Mr. Kant und sein Schüler Mr. Fichte den Deutschen eigentlich die Lichter aufsteckten". Zur Michaelimesse desselben Jahres erschien Kants weltbürgerliche Abhandlung 'Zum ewigen Frieden', die auch das Interesse der Franzosen zu erregen geeignet war. Schon gleich nach ihrer Veröffentlichung schrieb der treue Kiesewetter — der mehrjährige Lehrer königlich-preußischer Ministersöhne, Prinzessinnen und Hofdamen! — an den Philosophen: "Leid tut es mir, dass diese Schrift nur den Deutschen bekannt werden sollte ...; gewiß würde diese Schrift bei jener großen Nation, die so manche Riesenschritte auf dem Wege der politischen Aufklärung gemacht hat, viel Gutes stiften." Er wolle daher einem seiner Freunde, einen "hoffnungsvollen jungen Mann", Kenner und Verehrer der kritischen Philosophie, der kürzlich von Berlin nach Paris gegangen sei, um dort kritische Philosophie zu lehren, anregen, sie zu übersetzen und dort bekannt zu machen (an Kant, 5. Nov. 95). Der "hoffnungsvolle junge Mann" war vermutlich derselbe "neu angekommene Kantianer", den ein gleich noch näher zu erwähnender, in französische Dienste getretener Landsmann Kants am Neujahrstage 1796 bei dem berühmten Abbé Sieyès antraf: ein Herr von Bielefels.1) Besagter Landsmann Kants war der Bürochef im Wohlfahrtsausschuß Karl Theremin, der, selber ein großer Verehrer Kants, bereits am folgenden Tage seinem Bruder Anton Ludwig Theremin, Prediger in Memel, von dem im Hause Sieyès' stattgefundenen Gespräche Mitteilung machte. Es sei viel über Kantische Philosophie gesprochen worden, und Sieyès, der "sich viel mit Metaphysik beschäftigt hat, ohne je etwas darüber herauszugeben", habe einige von seinen Grundsätzen angeführt, "worüber der Kantianer bemerkte, sie träfen mit Kant seinen überein, welches Sieyès sehr zu schmeicheln schien". Der "Chef des Bureau" zeigte nun sogleich großes Interesse für die Sache. Er veranlaßte einerseits den von Bielefels, in Paris mit Vorlesungen über Kants Philosophie zu beginnen und suchte andererseits durch Vermittlung seines Bruders in Memel einen Briefwechsel zwischen dem berühmten Staatsmann der Republik und dem Königsberger Denker zustande zu bringen, in der Überzeugung, dass dadurch "der Philosophie überhaupt und der französischen Nation ein wirklicher Dienst geschehe". Denn eine Nation, welche so viel Empfänglichkeit habe wie diese, und eine Revolution, "wovon das Schöne und Edele den Fremden nicht bekannt genug ist, weil sie zu sehr ist besudelt worden", verdienten die Aufmerksamkeit eines Philosophen. Er regte dann auch die Übersetzung von Kants "Buch" an — ob damit dessen Hauptwerk oder, was wahrscheinlicher ist, die Schrift vom Ewigen Frieden gemeint ist, ist zweifelhaft —, die vielleicht wegen ihrer Terminologie Schwierigkeiten biete. Vielleicht könne auch der Bruder selbst dabei behilflich sein "und ein Professorat der Kantischen Philosophie würde wahrscheinlich hier gut bezahlt werden". Er solle "dem Herrn Kant" jedenfalls Mitteilung von dem allen machen und ihn um seine Meinung und seinen Rat ersuchen. Der Memeler Prediger übermittelte denn auch dem Philosophen das Schreiben seines Bruders und schloß sich dessen Bitte an; er würde gern die "Übersendung einiger Zeilen an Sieyès vermitteln (an Kant, 6. Febr. 96).
Diese interessanten Beziehungen müssen entweder von Königsberger Bekannten des Philosophen, der z. B. Jachmann davon Mitteilung machte, oder auch von Paris aus in die öffentlichen Blätter gebracht worden sein und verdichteten sich bald zu ganz Deutschland durchschwirrenden ausschweifenden Gerüchten, die dann wieder Kant zu Ohren kamen. So hatte der Kaufmann Johann Plücker aus Elberfeld den Blättern entnommen, "dass die französische Nation durch den Abt (!) Sieyès Sie ersucht habe, ihre entworfene Konstitutionsgesetze zu untersuchen, das Unnütze wegzustreichen und das Bessere anzugeben" (an Kant, 15. März 1796), während Matern Reuß (Würzburg) gar in "mehreren Zeitungen" gelesen hatte, "dass Sie als Gesetzgeber, als Stifter der Ruhe und des Friedens nach Frankreich gerufen worden seyn, und dazu von Ihrem König Erlaubnis erhalten haben" (an Kant, 1. April 96). Dass die Bemühungen Theremins bzw. Sieyès noch länger fortdauerten, geht aus einem Briefe an Kants Berliner Verleger Lagarde vom 20. Dezember d. J. hervor, wonach man in Paris "sehr wünschte", mit Kants Schriften näher bekannt zu werden, und "ein gewisser Theremin" (doch wohl der Memeler Bruder, da der Bürochef "seiner Geschäfte wegen sich diesem Fach nicht ganz widmen" konnte) eine Übersetzung derselben ins Französische übernommen habe; eine Übersetzung der vorkritischen Schrift 'Über das Schöne und Erhabene' sei bereits erschienen. Lagarde empfahl statt dessen (warum ?) eine lateinische Übersetzung; doch habe ein Leipziger Buchhändler eine solche (wohl die einzige wirklich zustande gekommene von Born) bereits nach Paris gesandt.
Leider scheint aus den schönen Plänen K. Theremins nichts geworden zu sein. Mit den Vorlesungen seines Schützlings von Bielefels wollte es gleich von Anfang nicht recht fort (A. L. Theremin an Kant, 6. Febr. 96), und vor allem — der geplante Briefwechsel zwischen dem Verfasser des 'Qu'est-ce que le tiers Etat?' und dem der Vernunftkritik ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zustande gekommen. Wenigstens hören wir von beiden Seiten nicht das Geringste davon. Auch Lagarde beklagt sich, dass der Philosoph sein ein halbes Jahr vorher (23. Juni) an ihn gerichtetes Schreiben, das von jenem Wunsche der Pariser handelte, auch das Werk eines französischen Philosophen Montreal begleitete, nicht beantwortet habe. Nach Jachmann (Biographie S. 130 f.) hätte Kant den Briefwechsel mit Sieyès aus patriotischen Gründen abgelehnt: "er wußte es, wie weit ein Staatsbürger, selbst als Weltbürger und Weltweiser, gehen könne und überschritt diese Grenzen nie". Eine Verletzung seiner staatsbürgerlichen Pflichten kam indessen doch nicht in Frage, da ja zwischen beiden Staaten Friede war; wir möchten eher glauben, dass der Gedanke daran, dass doch nicht viel Praktisches dabei herauskommen werde, außerdem vielleicht das Ruhebedürfnis des 72jährigen ihn zu seiner Zurückhaltung bestimmt hat.
Dagegen kam es nicht bloß zu einer, sondern sogar zu drei Übersetzungen seiner Friedensschrift ins Französische. Eine erste, sehr bald nach der Originalausgabe in Bern erschienene brachte den Text jedoch sehr schlecht und verstümmelt, und auch die zweite 1796 in Paris veröffentlichte war unvollständig. So sorgten Verfasser und Verleger für eine unter ihren Augen bei dem letzteren (Nicolovius) selbst erscheinende (1796), die bereits die Zusätze der zweiten Originalauflage bringen konnte, übrigens von den Parisern als hart empfunden wurde. Auszüge, die der Moniteur, das offizielle Blatt der Republik, aus Kants Schrift brachte, reizten 1798 mehrere französische Gelehrte, nähere Bekanntschaft mit dessen Lehre zu machen; auch das Institut National forderte einen Bericht über das neue System ein und veranlaßte den damals in Paris anwesenden, schon mehrere Jahre vorher durch Schiller für die kritische Philosophie gewonnenen Wilhelm von Humboldt, dort eine Vorlesung über Kantische Philosophie zu halten. Dass Kiesewetter in seinem alle diese Dinge dem Philosophen berichtenden ausführlichen Briefe vom 25. November 1798 meint, Humboldt habe bloß die "negative" Seite des Kritizismus dargestellt, überhaupt "nicht das gehörige Zeug dazu" gehabt, beweist natürlich nicht gegen Humboldt, sondern eher gegen den Berliner Damenphilosophen, der seinerseits eine "positive" Darstellung niederschreiben und diese dann mit Hilfe verschiedener Schüler und Freunde ins Französische übertragen wollte. Ganz anders lautet das Urteil Schillers, der am 29. Dezember 1797 seinem Briefe an Goethe ein langes Schreiben Humboldts beilegt und dazu bemerkt, dass dieser "mitten in dem neugeschaffenen Paris seiner alten Deutschheit treu bleibe". Mit einer gewissen Art zu philosophieren und zu empfinden sei es wie mit einer bestimmten Religion: "sie schneidet ab von außen und isoliert, indem sie von innen die Innigkeit vermehrt". Auf Schillers Mitteilung bezieht sich dann wieder Goethe, wenn er ein Halbjahr später dem "citoyen" Humboldt schreibt: "Sie haben, wie ich aus einem Briefe an Schiller sah, der Kantischen Philosophie mitten in Paris energisch genug gedacht ... als ein erklärter Deutscher" (G. an H., 16. Juli 1798). — Als das Pariser Institut sich endlich dazu entschloß, Kant zu seinem auswärtigen Mitglied zu ernennen, hatten sich dessen Augen schon geschlossen.
Am meisten jedoch für die Bekanntmachung seiner Landsleute mit der Philosophie Kants hat damals der Lothringer Charles de Villers getan, der 1792 als 27jähriger das revolutionäre Frankreich verließ2) und 1815 als Professor in Göttingen gestorben ist. Er trat schon 1797 literarisch für den Königsberger Philosophen ein und schickte ihm am 12. Mai 1799 eine zusammenfassende französische Darstellung der Kritik der reinen Vernunft zu, die Rink mit ausdrücklicher Genehmigung Kants in seinem gegen Herders feindselige 'Metakritik' gerichteten Buche: 'Mancherley zur Geschichte der metakritischen Invasion' (1800) verdeutscht wiedergab. Hierdurch ermutigt, schrieb Villers dann sein zweibändiges Hauptwerk 'Philosophie de Kant' (Metz 1801). Das Interessanteste aber ist die Nachgeschichte dieses Buches.3)
Bei einem ihn von dem Ersten Konsul verstatteten viermonatlichen Aufenthalt in Paris im selben Jahre 1801 gelang es ihm nämlich, — diesen selbst für seine Bestrebungen zu interessieren. Napoleon Bonaparte gab Villers den Auftrag —, sehr bezeichnend für seine Art, auch in wissenschaftlichen Dingen zu verfahren —, ihm in vier Stunden auf vier Seiten ein Aperçu über Kants Philosophie zu liefern. "Der erste Konsul von ganz Europa", schrieb Villers an einen Freund, "hat sehr wenig Zeit zu verlieren, und man gestand mir nur vier Seiten zu, um ihm zu sagen, worum es sich handelte, und vier Stunden daran zu denken." Schon 1799 bei einem vorübergehenden Aufenthalt in Genf hatte ein begeisterter, aber unklarer Kantianer Napoleon vergebens für die neue Lehre zu erwärmen gesucht. Als dieser bald darauf in Lausanne mit einem dortigen Gelehrten in ein Gespräch geriet, fragte er ihn sehr lebhaft: "Was hält man in der Schweiz von Kants Philosophie?" Die ehrliche Antwort lautete: "General, wir verstehen sie nicht." Darauf Napoleon mit froher Gebärde zu seinem Begleiter: "Haben Sie's wohl gehört, Berthier? Kant wird hier auch nicht verstanden!" Villers gab nun auf in der Tat äußerst knappem Raum — die als Manuskript gedruckte, im Buchhandel nicht erschienene und bisher nur in drei Exemplaren aufgefundene Broschüre enthält nur 12 Kleinoktavseiten — einen anerkennenswert klaren4) gedrängten Abriß (aperçu rapide) der 'Grundlagen und der Richtung' der Kantischen Philosophie, der durch eine scharfe Zurückweisung des in Frankreich vorherrschenden Lockeschen Empirismus eingeleitet wird. Ob er damit Eindruck auf seinen Auftraggeber gemacht hat? Schwerlich. Napoleon wird wohl bei seiner verständnislosen Geringschätzung der deutschen "Ideologie" geblieben sein, der er zur nämlichen Zeit (1801), in der er das Konkordat mit der römischen Kirche vorbereitete, gegenüber Pelet den krassen Ausdruck gab: "Die Religion ist noch eine Art Blatternimpfung, die uns, indem sie unsere Liebe zum Wunderbaren befriedigt, vor den Charlatans und Zauberern bewahrt: die Priester sind mehr wert als die Cagliostro, die Kant und alle die deutschen Träumer!5)
"Selbst in dem fernen Spanien ward Kants Name bekannt. "Wenn ich nicht fürchtete, von Ihnen als Missionar verlacht zu werden," schreibt Wilhelm von Humboldt am 28. Nov. 1799 aus Madrid an Goethe, "so möchte ich Ihnen sagen, dass ich noch heute einem Spanier die alleinseligmachende Lehre gepredigt habe."
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1) Das ist um so wahrscheinlicher, als zu den begeisterten Schülerinnen Kiesewetters, wie wir aus Kap. I des 4. Buches (S. 142) wissen, eine "Baronesse von Bielefeld" gehörte, mit deren Namen der des jungen Barons doch wohl identisch ist.
2) Zu den aristokratischen Emigranten gehörte wohl auch ein anderer Verehrer Kants, der Marquis R. de Mesmon, der ihm am 28. März 1798 aus Hamburg schreibt und kantfreundliche Artikel im dortigen Spec-tateur du nord veröffentlichte.
3) Vgl. über das Folgende Vaihingers Kantstudien III, 1 ff.; IV, 360; V, 249 f.; VIII, 343 f.
4) Wovon sieb, jeder überzeugen kann, der das von mir 1897 im Weimarer Goethehause in Goethes Bücherei entdeckte und in den 'Kantstudien' III, 4—9 veröffentliche Aperçu rapide zu lesen sich die Mühe nimmt.
5) Auf dieser Grundlage beruht anscheinend die von Heine ('Lutetia', 2. Juli 1842) nach seiner Art geistreich, aber nach der eigenen Phantasie wiedergegebene Version, in der er den "Kaiser" nach der "aufmerksamen Lektüre" der "wenigen Quartseiten" sagen läßt: "Alles dieses hat keinen praktischen Wert, und die Welt wird wenig gefördert durch Menschen wie Kant, Cagliostro, Swedenborg und Philadelphia" (der letztere ein berühmter Taschenspieler des 18. Jahrhunderts!).