2. Die Begründung
a) Das Gewissen


Das Nächste und Grundlegendste ist auch hier seine tiefe Wahrhaftigkeit. Es gibt nicht viele Menschen, die in ihren Briefen und Schriften das Pathos so wenig lieben wie unser Kant. Als ihn aber Lavater um sein Urteil über seine (Lavaters) Abhandlung 'Vom Glauben und Gebet' ersucht hat, da erhebt er sich zu den fast feierlich klingenden Worten: "Wissen Sie auch, an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblick des Lebens stichhält, als die reinste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens, und der es mit Hiob für ein Verbrechen hält, Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat, und womit das Gemüt nicht in freiem Glauben zusammenstimmt" (an Lavater, 28. April 1775). Und die einzige Apostrophe außer der berühmten an die Pflicht, deren wir uns aus seinen Schriften erinnern, findet sich in der 'Religion' (1793) und ist an die — Aufrichtigkeit gerichtet. "O Aufrichtigkeit, Du Asträa, die Du von der Erde zum Himmel entflohen bist, wie zieht man Dich (die Grundlage des Gewissens, mithin aller inneren Religion) von da zu uns wieder herab?" Aus diesem Grunde verlangt er ein andermal: "Alle Glaubensbekenntnisse müssen so gefordert werden, dass volle Aufrichtigkeit damit verbunden werden kann"; denn ist erst einmal das Gewissen abgehärtet, "worauf will man" dann "Religion gründen"? (Reicke, Lose Bl., S. 31.)

Darum war ihm auch Aufrichtigkeit in religiösen Dingen heilig, wo und bei wem immer er sie antraf. Ich erinnere an die ehrfürchtige Achtung, mit der er zeitlebens über die wahrhafte Frömmigkeit seiner Eltern und des Dr. F. A. Schultz geurteilt hat, an den Gedenkvers auf seinen theologischen Kollegen Lilienthal, an seinen Respekt vor dem "wackeren" Spener, seine Freundschaft mit Hofprediger Schultz und anderen Theologen, auf deren Aufrichtigkeit er sich verlassen konnte. Anderseits war ihm nichts, gerade auf dem Gebiet der Religion, so verhaßt wie Heuchelei. Statt anderer Beispiele sei ein bisher noch unbekanntes aus Abeggs Tagebuch angeführt. An seiner Mittagstafel vom 5. Juli 1798 hatte man von dem Tode eines alten pietistischen Predigers in Königsberg gesprochen, bei dem sich Kants juristischer Kollege, der später als "Denunziant" berüchtigt gewordene Schmalz, vergeblich anzubiedern versucht hatte. Da wandte sich Kant lebhaft an einen der Tischgenossen (Regierungsrat Jensch) mit der Aufforderung: "Erzählen Sie doch, wie der alte rechtschaffene Mann, der durch seine männliche Standhaftigkeit im Tode schon verehrungswürdig gewesen ist, dem Erzschleicher Schmalz mitgespielt hat!" (Es war mit den Worten geschehen: Geld und Silber habe ich nicht und achte den nicht, der alles darauf hält.) Er empfand eben, um mit F. A. Lange zu reden, mehr Sympathie mit "den Stillen im Lande, die im ärmlichen Kämmerlein auf ihren Knien ein Reich suchen, das nicht von dieser Welt ist", als mit "dem reichen Pastor, der den Glauben tapfer zu schirmen, seine Würde wohl zu behaupten und seine Güter klug zu bewirtschaften weiß". Nur im Sinne dieser Begründung der Religion auf den innersten Grund der eigenen Persönlichkeit oder, wie Kant es mit dem alten Worte nennt: auf das Gewissen, im Gegensatz zu aller äußeren Autorität, könnte man Kant einen "Philosophen des Protestantismus" nennen; von kirchlich-konfessioneller Gesinnung kann, wie wir unten noch deutlicher sehen werden, bei ihm keine Rede sein.


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