Kant und Fichte


Damit sind wir bei diesem bedeutendsten philosophischen Nachfolger Kants angekommen, und es geziemt dem Biographen des letzteren wohl, das persönliche Verhältnis beider etwas näher zu beleuchten, zumal die Art, wie es sich anknüpfte und wie es abbrach, für beide Männer charakteristisch ist. Auch Fichte war für die Kantische Philosophie, die er erst 1790 durch einen Zufall kennen gelernt, vor allem durch ihre Freiheitslehre gewonnen worden. Er fühlte sich durch sie wie erlöst, die durch Kant bewirkte "Revolution in seinem Kopfe und Herzen" machten ihn, der sich damals von einem Tag zum andern "verlegen um Brot befand", zu "einem der glücklichsten Menschen auf dem weiten Runde der Erden" (März 1791). Es drängte ihn nun, den Mann, "den ganz Europa verehrt, den aber gewiß in ganz Europa wenig Menschen so lieben wie ich" (an Kant, 18. Aug. 91), persönlich kennen zu lernen. Kurz entschlossen gibt er Ende Juni seine Warschauer Hauslehrerstelle auf, langt am 1. Juli in Königsberg an, wird bei seinem ersten Besuche drei Tage darauf von dem Meister "nicht sonderlich" aufgenommen und ist auch von seinem Kollegvortrag enttäuscht: "seine Kollegien sind nicht so brauchbar wie seine Schriften". Er überschickt ihm dann sechs Wochen später als besseres "Empfehlungsschreiben" das inzwischen in tiefster Zurückgezogenheit ausgearbeitete Manuskript seines 'Versuchs einer Kritik aller Offenbarung'. Kant empfängt ihn nun "mit ausgezeichneter Güte", lädt ihn zu Tische, bemüht sich, den in Königsberg völlig unbekannten jungen Mann in die gelehrten und gesellschaftlichen Kreise einzuführen. Dann geschieht etwas Merkwürdiges. Fichte sieht sich ohne Geld und wendet sich nun an den Mann, "dem ich alle meine Überzeugungen und Grundsätze, dem ich meinen Charakter bis auf das Bestreben, einen haben zu wollen, verdanke", kurz an Kant mit der Bitte, ihm — die Kosten für die Rückreise in die sächsische Heimat, wo er sich um eine Dorfpfarre zu bewerben gedenke, "gegen Verpfändung meiner Ehre" bis nächste Ostern vorzustrecken (2. Sept. 91). Der Philosoph handelte äußerst taktvoll: er ersparte dem Bittenden das immerhin Demütigende eines Darlehens, bewirkte dagegen durch den Einfluß Borowskis, dass dessen Schwager, der Buchhändler Härtung, Fichtes Manuskript in Verlag nahm und verschaffte ihm überdies, durch die Vermittlung des Hofpredigers Schultz, noch eine besonders günstige Hauslehrerstelle bei einem Grafen Krockow in der Nähe von Danzig.

Die Schrift aber, die um Ostern 1792 — durch ein Versehen oder durch eine Spekulation des Verlegers? — anonym erschien, sollte ihren Verfasser mit einem Schlage berühmt machen. Sie wurde infolge ihres Titels, Verlagsortes und ihrer allgemeinen Tendenz selbst von Kennern für ein Werk Kants gehalten, dessen Religionsphilosophie man gerade damals mit Spannung erwartete, und von Hufeland in der Literaturzeitung gewaltig gepriesen. Als nun Kant selbst in einer der nächsten Nummern (31. Juli 92) den Sachverhalt aufdeckte und Fichte einen "geschickten Mann" nannte, wurde dieser mit einem Male berühmt, Mitarbeiter an der Literaturzeitung und nach Reinholds Weggang dessen Nachfolger an der Jenaer Universität.

Dort vollzieht sich dann seine hier nicht weiter darzustellende philosophische Abwendung von Kant. Persönlich blieb das Verhältnis zunächst noch ein gutes. Am 20. September hat er dem "großen und guten Mann" noch versichert, dass "der Gedanke an Sie immer mein Genius sein wird", bei der Übersendung seiner 'Wissenschaftslehre' (Oktober 1794) nennt er ihn den "Meister" gegenüber dem "Nachfolger", und noch im Sommer 1796 gibt er seinem am 18. Juli geborenen einzigen Sohn den Namen Immanuel. Allein schon 1794 ziehen die strengen Kantianer in Jakobs 'Annalen' gegen ihn zu Felde, abfällige Urteile Kants gelangen zu seinen Ohren, der Briefwechsel versiegt immer mehr. Gegen Ende 1797 entschuldigt sich Kant wegen langen Schweigens und gibt ihm, wenn auch in freundschaftlicher äußerer Form, zu verstehen, dass er (Kant) "die Subtilität der theoretischen Spekulation", zumal deren neueste "äußerst zugespitzte apices [= Gipfel]", gern anderen überlasse; Fichte möge, nachdem er "die dornigen Pfade der Scholastik durchwandert" habe, nunmehr sein "treffliches Talent" populärer Darstellung "kultivieren". Worauf Fichte sofort, ebenfalls in der Form freundlich, in der Sache aber womöglich noch schärfer, erwidert: er denke gar nicht daran, der "Scholastik" den Abschied zu geben, treibe sie vielmehr "mit Lust und Leichtigkeit"; sie "stärke und erhöhe" seine Kraft (an Kant, 1. Januar 98).

Doppelt interessant ist unter diesen Umständen der bisher noch nicht gedruckte Bericht, den Abegg von seinen Besuchen bei Fichte und Kant im Sommer 1798 liefert. In Jena, das er auf der Hinreise nach Königsberg berührte, unterhielt sich Fichte, "ein kleiner, wohlgepflegter, ganz lebendiger Mann mit etwas starker, breiter Nase und großen, mehr grauen als braunen Augen und schwarzem, etwas krausem Haar", mit ihm ganz zutraulich, so dass es ihm unmöglich an Milde und moralischer Güte fehlen könne, wie viele seiner Gegner behaupteten. Abegg werde sich gewiß freuen, in Königsberg Kant zu sehen, gern wolle er ihm an Kant, Schultz und andere Empfehlungsschreiben mitgeben. Schon der Kupferstich Kants zeige ihn, "wie er ist, selbst mit seinen Fehlern, mit seiner Dunkelheit und Verworrenheit". Dann machte er noch einen Scherz darüber, dass der vorige König bei der Huldigung Kant "als dem Fürsten unter den Philosophen" doch bloß 200 Taler Zulage verliehen habe, ging aber im übrigen auf sein eigenes Verhältnis zu dem kritischen Philosophen nicht ein. Offenherziger äußerte sich Kant, nachdem er Fichtes Empfehlungsbrief gelesen, gegen den Überbringer. "Das ist", sagte er, "nun so ein Kompliment. Auch schreibt er mir immer höflich, aber eine Bitterkeit läuft mit unter, dass ich mich nicht über ihn oder gar für ihn erkläre. Ich lese seine Schriften nicht alle, aber neulich las ich die Rezension seiner Schriften in der Jenaer Literaturzeitung. Ich wußte beim ersten Male nicht recht, was er wollte; ich las zum zweitenmal, und oft glaubte ich: nun werde ich etwas brauchen. Aber es war nichts. Den Apfel vor dem Munde hält er und gibt keinen Genuß. Es kommt auf die Frage am Ende hinaus: mundus ex aqua. Er bleibt immer im allgemeinen, gibt nie ein Beispiel und, was noch schlimmer ist, kann keines geben; weil dasjenige nicht existiert, das zu seinem allgemeinen Begriffe paßte." Bleiben Kants philosophische Erörterungen gewiß auch oft im "allgemeinen" stecken, so ist doch Fichtes Art hier sehr gut und anschaulich charakterisiert, und dabei ohne Bitterkeit.

Anders in der öffentlichen Erklärung vom 7. August des folgenden Jahres, durch die es zum endgültigen Bruche kam. Die Veranlassung war die förmliche Aufforderung eines Rezensenten in der Erlanger Literaturzeitung vom 11. Januar 1799: Kant möge sich doch endlich darüber erklären, ob seine Lehre "buchstäblich" zu nehmen sei, oder ob Fichte (oder Beck) mit seiner Auffassung derselben recht habe. Darauf erklärte Kant in der Jenaer Literaturzeitung vom 7. August in den schärfsten Worten Fichtes Wissenschaftslehre für "ein gänzlich unhaltbares System", das nichts als bloße Logik sei, er sage sich von allem Anteil an solcher Philosophie los. Allerdings sei die Kritik "nach dem Buchstaben" zu verstehen und setze nichts anderes als einen zu dergleichen abstrakten Untersuchungen hinlänglich kultivierten Menschenverstand voraus. Er sei überzeugt, dass ihr "kein Wechsel der Meinungen, keine Nachbesserungen oder ein anders geformtes Lehrgebäude bevorstehe, sondern das System der Kritik auf einer völlig gesicherten Grundlage ruhend, auf immer befestigt und auch für alle künftige Zeitalter zu den höchsten Zwecken der Menschheit unentbehrlich sei". Das sind stolze Worte, die unser Philosoph mit diesem Grade von Siegesgewißheit früher nicht ausgesprochen hat. Indessen er mochte sich zu scharfer Grenzscheidung im Interesse seiner Sache berechtigt fühlen. Weniger schön vom allgemein menschlichen Standpunkte aus und nur durch den Einfluß übereifriger, zuträgerischer Freunde zu erklären war die Art und Weise, wie er damit auch einen persönlichen Angriff auf Fichte verband: Es gebe nicht bloß gutmütig-tölpische, sondern bisweilen auch "betrügerische, hinterlistige, auf unser Verderben sinnende und dabei doch die Sprache des Wohlwollens führende sogenannte Freunde, vor denen und ihren ausgelegten Schlingen (!) man nicht genug auf seiner Hut sein kann". Das war, wenn es auf Fichte gehen sollte, entschieden ungerecht. Es war um so weniger am Platze, als Kant, wie er noch am 5. April 1798 an Tieftrunk schrieb, Fichtes Wissenschaftslehre nur aus der Rezension in der Allgemeinen Literaturzeitung kannte. Mochte er in diesem Briefe sie nicht übel mit einer "Art von Gespenst" vergleichen, "was, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst, und zwar auch hiervon nur die Hand, die danach hascht, vor sich findet", mochte er schon ihren Titel als "Wissenschaftswissenschaft" verspotten: zu so persönlichen Invektiven hatte er kein Recht.

Dem gegenüber hielt sich Fichtes Erwiderung, der er die Gestalt eines offenen Briefes an den ihm damals noch befreundeten Schelling gab, in maßvollen Grenzen, indem sie auf einige sachliche Einzelheiten einging und zum Schluß auf die psychologische und historische Bedingtheit aller philosophischen Systeme hinwies. In unschönem Widerspruch zu dieser, bei einem so selbstbewußten Charakter wie dem Fichtes auch ganz ungewohnten, Mäßigung steht freilich die entgegengesetzte Art, wie er sich gleichzeitig in Privatbriefen ausließ, indem er gegen Schelling Kants Lehre, falls man sie nicht in Fichteschem Sinne auffasse, für "totalen Unsinn", gegen Reinhold gar den Königsberger Weisen für "doch nur einen Dreiviertelskopf" erklärte, der sich recht "kräftig prostituiert" habe.

Jedenfalls: der persönliche wie sachliche Bruch zwischen beiden war unheilbar vollzogen. Die Philosophie des beginnenden 19. Jahrhunderts aber folgte mehr den Spuren des Jüngers als des Meisters.


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