b) Verhältnis zur Kirche.
Gebet, Staatskirchentum, Geistliche


Wenn Konsequenz nach Kant eine "Hauptobliegenheit des Philosophen" ist, so konnte bei solchen Anschauungen sein Verhältnis zur Kirche nur ein sehr kühles sein. Wenn Hermann Cohen unseren Denker, im Gegensatz zu Spinoza, nicht bloß wegen seiner Dankbarkeit und Treue gegenüber der religiösen Atmosphäre des Elternhauses lobt, sondern auch meint, Kant habe "in friedlicher Eintracht mit seiner Gemeinde" gelebt, "positiv" gesinnte Geistliche und Theologie-Professoren seien "seine begeisterten Anhänger und Verkünder" gewesen,1) so kann das doch einen falschen Anschein erwecken. Gewiß, seine friedliche Natur hielt ihn von einem gewaltsamen Bruch mit der Kirche zurück, die ihrerseits in der Zeit der Aufklärung duldsam und — klug genug war, einen Mann wie Kant nicht abzustoßen. Aber im ganzen nimmt er doch, bei aller seiner inneren Religiosität oder vielleicht eben deswegen, eine Stellung ein, die man nur als unkirchlich bezeichnen kann: Nicht nur, dass er sich geradezu mit innerem Ingrimm gegen die Buß- und Zerknirschungsstimmung, gegen fromme Kasteiungen und gegen die gehäuften Andachtsübungen wendet, mit denen man ihm die Jugend verbittert hatte; er verschmähte auch dauernd Kirchen- und Abendmahlsbesuch.2) Selbst, wenn nach dem feierlichen Rektoratswechsel die Professoren der Sitte gemäß, nach Fakultäten geordnet, zum Gottesdienst in die Domkirche zogen, pflegte unser Kant, falls er nicht selber Rektor geworden war, "an der Kirchtüre vorbeizuschreiten" (Reusch, a. a. O., S. 5). Denn "kirchliche Formen, wie Gebete und Lobgesänge zu Ehren einer menschlichen Person mitzumachen, dazu kann der nicht verbunden sein, dessen Gewissen es verletzt" (bei Reicke, S. 67). Borowski, der nicht zu den orthodoxen Eiferern zählte, sondern sich als Kants Freund und Verehrer geriert, bedauert doch ausdrücklich, dass der Philosoph die christliche Kirche bloß als eine "zu duldende Anstalt um der Schwachen willen" angesehen, dass er Jesus nicht als Sohn Gottes und Heiland der Menschheit betrachtet, dass er dem öffentlichen Gottesdienst nicht beigewohnt und an den "segensreichen Stiftungen unseres Herrn" keinen Anteil genommen habe (Biogr., S. 196—202). Und ebenso bezeugt Jachmann (S. 119), dass er sich "aller äußeren und sinnlichen Religionsgebräuche" enthielt. "Ob er in seinen früheren Jahren in religiöser Absicht die Kirche besucht habe, ist mir nicht bekannt.3) In seinem Alter bedurfte er wenigstens keiner äußeren Mittel mehr, um seine innere Moralität zu beleben."

Dass er den Kirchengesang gelegentlich als "Plärren" bezeichnete, haben wir schon gehört. Besonders auffallend aber und nur durch die Erinnerung an seine Jugendeindrücke zu erklären ist die Härte, mit der er, namentlich in einem besonderen, aus Gesprächen mit seinem Zuhörer Kiesewetter (1789—1791) stammenden, Aufsatz 'Über das Gebet' urteilt. Es könne höchstens aus subjektiven Gründen denen empfohlen werden, die dadurch wirklich größere Klarheit und lebhaftere Antriebe zur Tugend empfingen. In der Regel sei aber Heuchelei dabei, denn [? K. V.] der Betende stelle sich die Gottheit als etwas vor, was den Sinnen gegeben werden könne; auch schäme er sich, wenn man ihn betend finde, und höre damit überhaupt auf, sobald er Fortschritte im Guten gemacht. Andererseits will er dennoch inkonsequenterweise "in den öffentlichen Vorträgen an das Volk", also in der Kirche, das Gebet beibehalten wissen, weil es — "wirklich rhetorisch von großer Wirkung" sein könne, und man überdies in solchen Vorträgen "zu ihrer Sinnlichkeit sprechen und sich zu ihnen soviel wie möglich herablassen muß". Einen offiziellen Bettag erklärte er noch in seinen letzten Jahren für "ein ganz überflüssiges Ding, welches alle Sonntage abgekanzelt wird und nichts bewirkt", während ein Bußtag, "kraftvoll und seel-eindringend vorgetragen, ein wahrer Heiligentag, asketisch, disziplinarisch, prophylaktisch und paränetisch" sei.4) Die 'Religion innerhalb' unterscheidet sehr scharf von dem als abergläubischer "Fetischdienst" bezeichneten formelhaften gottesdienstlichen Beten den "Geist des Gebets", das heißt die aufrichtige Gesinnung, unser ganzes Handeln so zu betreiben, als ob es im Dienste Gottes geschehe, wozu es keiner besonderen Worte und Formeln bedarf.

Auch das Staatskirchentum wird gelegentlich mit scharfen Pfeilen bedacht. Während die natürliche Religion nichts von Glaubensartikeln und Bekenntnisformeln weiß, haben "Regierungen gern erlaubt", die Religion "mit Bildern und kindischem Apparat reichlich versorgen zu lassen", um ihre Untertanen "als bloß passiv" leichter behandeln zu können (Kr. d. U). "Wenn ... die Moral nicht vor der Religion vorhergeht, so macht sich diese zum Meister über jene, und statutarische Religion wird ein Instrument der Staatsgewalt (Politik) unter Glaubensdespoten."5) Kurz, die Kirche ist "die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln". Der Bekenntnisglaube ist für gewissenhafte Menschen ein schwereres Joch als der ganze "Kram frommer auferlegter Observanzen" (Rel. 209 f.). Und zwar einerlei, ob Katholizismus oder Protestantismus. Der erstere ist nur folgerichtiger und gibt seinen Glauben als allgemeinverbindlich aus, während der Protestantismus sich auf Freiheit beruft und gleichwohl einer Autorität unterwirft (Lose Blätter, S. 402). Es gibt freilich rühmliche Beispiele von "protestantischen" Katholiken, andererseits noch mehr sehr anstößige von erzkatholischen "Protestanten".

Darum ist es auch kein Wunder, dass unser Held sich an dem Stande der Geistlichen in seinen populären Schriften und Vorlesungen gerne etwas reibt; besonders an solchen, die "dem Herrn des Himmels, zugleich aber auch den Herren der Erde ... den Hof machen" (Anthropol., S. 238 f.). Noch offenherziger in den nachgelassenen Reflexionen: "Das Evangelium extendiert unseren Begriff, die Theologen verengen ihn" (Ak.-A. XV, S. 776). "Der Mensch steht unter seinesgleichen in Ansehung der Religion und wird von Geistlichen zeitlebens gehudelt (!)" (ebd. 633). "Theologen schreien über Freigeister, sie sollten lieber untersuchen, ob es nicht an ihren eigenen Methoden liegt, die ... bei zunehmender Kultur unzulänglich sein" (ebd. 640). Die Priester 6) sind "jederzeit geneigt, aus dem bloßen Lehrstand in einen regierenden überzugehen" (Religion innerhalb, S. 151), wo dann "alles übrige Laie ist" (S. 211). "Von einem tungusischen Schaman [Zauberpriester] bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen Prälaten ... ist zwar ein mächtiger Unterschied in der Manier, nicht aber im Prinzip zu glauben" (S. 206). Dass er gleichwohl mit einzelnen Theologen, wie dem Hofprediger Schulz, den Pfarrern Fischer, Sommer und Wasianski gern verkehrte, beweist nur, dass er in ihnen die ehrlichen und wohlwollenden Menschen sah.

Übrigens zogen ihn, wie bei dieser Gelegenheit bemerkt sein mag, auch die liberalen Theologen von der Art der Semler, Teller und Jerusalem wenig an. Da er ein Feind aller Halbheit und jedes "Synkretismus" war, wird er über die Versöhnungssucht der Vermittlungstheologen ähnlich geurteilt haben wie Lessing: "Man macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen ... Flickwerk an Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will und mit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt" (Lessing an seinen Bruder Karl, 2. Febr. 1774).

Mehr Freude hatte er an radikal-aufklärerischen Theologen. So überwand er seine Unlust am Rezensieren, um das Buch von Joh. Heinrich Schulz:, Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen ohne Unterschied der Religion' (1783), und zwar alsbald nach seinem Erscheinen, im Königsberger 'Räsonnierenden Bücherverzeichnis' sympathisch zu besprechen. Schulz (1739—1823), Prediger in Gielsdorf bei Berlin, im Volksmund der Zopfschulz genannt, weil er aller behördlichen Anordnungen zum Trotz die Kanzel nicht in der üblichen Perücke, sondern mit dem bei den Weltleuten Mode gewordenen Zopfe betrat, — hatte in seiner Schrift der Überzeugung Ausdruck zu geben gewagt, dass nicht Religion oder gar kirchliche Lehrmeinung, sondern nur die Moral allgemeinverbindlich sei. Unseren Philosophen mochte zu seiner Besprechung außerdem der Umstand reizen, dass Schulz auch sonst ganz neue, erst in unserer Zeit in weitere Kreise gedrungene Gedanken, wie den von der Relativität aller Erkenntnis, sogar der sittlichen Begriffe, und eine darauf sich gründende Milieu- und Straftheorie vertrat. Jedenfalls erkennt Kants, allerdings anonym erschienene, Rezension den Freimut, das Selbstdenken und die Aufrichtigkeit des von der gesamten Orthodoxie verketzerten Mannes offen an. Was er an ihm auszusetzen hat, ist sein "Fatalismus", der alles menschliche Tun und Lassen in ein bloßes Marionettenspiel verwandle. Unter dem Wöllnerschen Regime konnte sich der wackere Mann nicht halten; obgleich seine Gemeinde und selbst das Kammergericht für ihn eintraten, verfügte des großen Königs beschränkter Nachfolger seine Absetzung. — Auch die Geschichte mit den "Domnauern" (s. Buch III, Kap. 8) beweist Kants Radikalismus in seinen Vorlesungen, jedenfalls in der Auffassung eines Teiles seiner Zuhörer.

 

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1) H. Cohen, Kants Begründung der Ethik. 2. erweiterte Auflage. 1910. S. 466—468.

2) Die konfessionellen Verschiedenheiten in der Abendmahlsauffassung waren ihm sehr gleichgültig: "Ob der eine glaubt, dass die Gemeinschaft des Genusses durch bloße Gedanken oder durch die Seelenvereinigung des Leibes beim Brot oder durch Verwandlung geschehe, das ist alles einerlei" (Lose Blätter, ed. Reicke, S. 93).

3) Vgl. auch die 47. der unbeantworteten 52 Fragen, die Jachmann zwecks einer späteren Biographie am 16. August 1800 an Kant richtete: "Wurden die kirchlichen Gebräuche je (!) mitgemacht, und wann wurden sie aufgegeben ...?" Hier ist die Fassung der Frage schon bedeutsam.

4) Nachgelassenes Werk, Altpreuß. Monatsschrift XXI, S. 415.

5) Schluß der 'Anthropologie'; vgl. auch 'Religion', S. 210 f.

6) "Der Prediger ist bloß Religionslehrer, der Geistliche verbindet 'Seelsorge' damit, der Priester gilt als der ausschließliche Spender himmlischer Gnadenmittel und wird zum Pfaffen, wenn er sich auch noch als geistliche Obrigkeit aufspielt" (Lose Bl., S. 48). — In diesen Zusammenhang gehören auch seine bitteren Bemerkungen über die Wirkungen von Predigten im Anthropologiekolleg (vgl. das Sachregister in meiner Ausgabe der 'Anthropologie', Philos. Bibl., Bd. 44, außerdem Ak.-Ausg. XV, S. 73 Anm., und S. 119).


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