Vorspiel zum Vorgehen gegen Kant


Zwar noch Monate nach dem Erscheinen der Schrift schien er [der Zusammenstoß] nicht bevorzustehen. Noch am 16. August 1793 riet der Philosoph seinem jungen Freunde Nicolovius, zur Förderung seiner akademischen Laufbahn sich mit — Herrn von Wöllner bekannt zu machen, wenn er selbst auch zu diesem "keinen Weg einer unmittelbaren Empfehlung" besitze! Einige Monate später indes berichtet der getreue Kiesewetter bereits aus Berlin allerlei Dinge, die bewiesen, dass "wir unter harten Zuchtmeistern stehen"; insbesondere hatte Hermes selbst Kiesewetters Verleger erklärt, "er erwarte nur den Frieden, um mehrere Kabinettsordres, die er im Pulte habe, ans Tageslicht zu bringen" (Kiesew. an Kant, 23. Nov. 93). Kants Erwiderung vom 13. Dezember desselben Jahres faßt die Sache noch sehr ruhig auf. Dass der "philosophische" Zensor sich der Anmaßung des theologischen nicht widersetze, sondern mit ihm verbinde, müsse einmal zur Sprache gebracht werden. Vorläufig müsse man sich indes "gedulden, dem Gesetz genaue Folge leisten und die Mißbräuche der literarischen Polizeiverwaltung zu rügen auf ruhigere Zeiten aussetzen".

In der Tat erschien zur Ostermesse des folgenden Jahres die zweite Auflage der 'Religion innerhalb' noch unbeanstandet. Indes es lag doch allerlei in der Luft. Der König hatte bereits im März an Wöllner geschrieben: "Mit Kants schädlichen Schriften muß es auch nicht länger fortgehen." Und der Philosoph sah pessimistischer in die Zukunft, "seitdem die Herren Hermes und Hillmer im Oberschulkollegio ihre Plätze eingenommen, mithin auf die Universitäten, wie und was daselbst gelehrt werden soll, Einfluß bekommen haben" (an Biester, 10. April 94). In der Tat wurden gerade um diese Zeit eine Anzahl strengerer Maßregeln gegen die "Neologen" ergriffen. Die königlichen Fiskale sollten, bei Strafe eigener Kassation, jede Saumseligkeit und Nachlässigkeit in ihrem Vorgehen vermeiden; alle Geistlichen, Universitäts- und Gymnasiallehrer sich in besonderen Reversen zur genauen Befolgung des Religionsediktes verpflichten. In einem königlichen Reskript an die Hallenser Theologen-Fakultät wurde jedes "Moralisieren" in den Predigten, jede rationalistische Erklärung der neutestamentlichen Wunder aufs strengste verpönt; keinem Lehrer an einer königlichen Universität sei es "gestattet, seine Pflicht gegen das heilige Wort Gottes so sehr zu vergessen". Nicolais 'Allgemeine Deutsche Bibliothek', vor weniger als zwei Jahrzehnten noch offiziell für ein "nützliches Werk" erklärt (Buch II, Kap. 6), wurde jetzt als Staats- und religionsgefährlich für die preußischen Lande verboten.

Kant hatte Biester noch am 10. April, gleichzeitig mit seinem Briefe, eine unpolitische kleine Abhandlung 'Uber den Einfluß des Mondes auf die Witterung' eingesandt, die nur gegen Schluß eine von uns schon (S. 154) berührte ironische Anspielung auf die jetzige Hochschätzung alter Schulkatechismen enthielt. Am 18. Mai ist er bereits auf das Schlimmste gefaßt, ohne indes seine philosophische Gelassenheit zu verlieren: "... überzeugt, jederzeit gewissenhaft und gesetzmäßig gehandelt zu haben, sehe ich dem Ende dieser sonderbaren Veranstaltungen ruhig entgegen ... Das Leben ist kurz, vornehmlich das, was nach schon verlebten 70 Jahren übrig bleibt; um das sorgenfrei zu Ende zu bringen, wird sich doch wohl ein Winkel der Erde ausfinden lassen." Gleichzeitig schickt er Biester, "ehe noch das Ende Ihrer und meiner Schriftstellerei eintritt", die schon in dem Aprilbrief als "teils kläglich, teils lustig zu lesen" angekündigte Abhandlung 'Das Ende aller Dinge', die denn auch sofort im Juniheft der Monatsschrift Aufnahme fand. Während sie in ihren beiden ersten Dritteln die bekannten, gegen allen Dogmatismus wie Mystizismus gerichteten Ansichten unseres Denkers über die kirchliche Lehre von den sogenannten "letzten Dingen", wie Ewigkeit, jüngster Tag usw., wiedergibt, wendet sich der Schlußabschnitt in zwar allgemein gehaltenen, aber doch sehr durchsichtigen, nach der Weise Kants mit spöttischer Ironie vermischten Ausführungen gegen die Torheiten des neuen Kurses. Anstatt "die Sachen so zu lassen, wie sie zuletzt standen und beinahe ein Menschenalter hindurch sich als erträglich gut in ihren Folgen bewiesen hatten", schmiedeten jetzt "Männer von entweder großem oder doch unternehmendem Geiste" immer neue Pläne und Entwürfe, um "Religion in einem ganzen Volke lauter und zugleich kraftvoll zu machen": durch Autorität und Gebote, unter Verheißung von Belohnungen und Androhung von Strafen. Dadurch gehe aber das Christentum gerade seines innersten Wesens, das heißt seiner sittlichen Liebenswürdigkeit (so spricht hier der angebliche "Rigorist" des kategorischen Imperativs) verlustig. Sollte es wirklich einmal dahin mit ihm kommen, so werde das verkehrte "Ende aller Dinge" (in moralischer Hinsicht), eintreten, nämlich, um in biblischer Sprache zu reden, der "Antichrist" sein "auf Furcht und Eigennutz gegründetes", obzwar nur kurzes, "Regiment anfangen".

Bald darauf verbreitete sich, über Preußens Grenzen hinaus, die Kunde, man wolle Kant zur Verleugnung seiner Ansichten, andernfalls zur Niederlegung seines Amtes zwingen. Der bekannte Pädagoge Joachim Heinrich Campe, jetzt Schulrat in Braunschweig, schrieb ihm am 27. Juni von diesem "alle denkenden und gutgesinnten Menschen" empörenden Gerücht. Er wolle zwar "zur Ehre des ablaufenden Jahrhunderts" noch annehmen, dass es eine Erdichtung sei. Sollte es sich aber bewahrheiten, sollte man dem "Lehrer des Menschengeschlechts" den Königsberger Lehrstuhl entziehen, so bitte er (Campe) ihn, sein Haus fortan als das seinige zu betrachten und die Stelle eines "Oberhauptes meiner kleinen Familie" darin einzunehmen. Dort könne er seinen Lebensabend in aller Ruhe, Bequemlichkeit und Unabhängigkeit genießen. Auch an einer anderen Stelle des Braunschweiger Händchens, an der kleinen Universität Helmstädt, dachte man damals daran, Kant durch eine Berufung an dieselbe ein Asyl zu bieten; nicht nur der freisinnige Theologe Henke, sondern auch Kants philosophischer Gegner G. E. Schulze traten warm dafür ein. Der freudigen Zustimmung des als aufgeklärt geltenden Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand hoffte man gewiß zu sein; aber dieser hatte — Angst vor Preußen. Er antwortete: "Es würde offenbar das Ansehen gewinnen, als mißbillige man das Verfahren im Preußischen, als nehme man ganz die Grundsätze an, welche Kant behauptet, als wolle man sie zu verbreiten suchen und die Folgen daran wagen." Und zum Schluß, als Erwiderung auf das ihm vorgehaltene Vorbild des hessischen Landgrafen im Falle Christian Wolffs (1730), die im Munde des preußischen "Manifest"-Generals von 1792 allerdings begreifliche Verquickung mit der Politik: "Wie Wolff nach Marburg ging, war kein Krieg gegen eine Nation, von welcher man der Meinung ist, dass sie zu dem hohen Grad der ausschweifendsten Raserei bloß durch die Wegräumung der Religiosität gelangt ist." So wurde aus diesem Plane nichts. Auf das warmherzige Anerbieten Campes aber, das in Erinnerung an ein ähnliches Anerbieten ihm gegenüber im Jahre 1777 (s. Bd. I, S. 224 f.) gemacht war, erwiderte der Philosoph gerührt und mit dankbarer Wärme, wie sie selten in seinen schriftlichen Äußerungen hervorbricht, am 16. Juli 1794, dass er glücklicherweise keinen Gebrauch davon zu machen genötigt sei. Er halte die von dem Gerücht behauptete Zumutung bzw. Androhung kaum für möglich, da ihm keine Gesetzesverletzung schuld gegeben werden könne. Auf den äußersten Fall aber sei er von Mitteln nicht so entblößt, dass er "Mangels wegen für die kurze Zeit des Lebens, die ich noch vor mir habe, in Sorge stehen und irgend jemanden zur Last fallen sollte, so gern er diese auch aus edler Teilnehmung zu übernehmen gesinnt sein möchte".

Das oberkirchenrätliche Paar Hermes und Hillmer hatte sein Heil zuerst an der "Pflanzschule der irrgläubigen Geistlichen", der Universität Halle, versucht. Beide Herren trafen am 29. Mai sogar persönlich dort ein, nahmen jedoch schon am nächsten Tage vor den Demonstrationen eines Haufens aufgeregter Studenten Reißaus. Seitdem regnete es bis in den Oktober hinein Berliner Verfügungen an die dortigen Universitätsbehörden, deren Vollziehung indes an der Charakterfestigkeit und dem Freimut der theologischen Fakultät scheiterte. Mehr Erfolg hatten sie in Königsberg. Von hier hatte Kants Kollege Hasse (s. B. III, Kap. 7) schon zwei Jahre vorher eine Broschüre 'Über jetzige und künftige Neologie' ausgehen lassen, die freiere Anschauungen vertrat. Jetzt zur Verantwortung aufgefordert, zog er sich feige zurück, bereute sie geschrieben zu haben, wollte sie nur "historisch" verstanden wissen und anderes mehr. Nichtsdestoweniger erhielt er im August 1794 eine ministerielle Verfügung, die ihm befahl, sich "in seinem mündlichen Unterricht und in seinen Schriften genau nach dem Religionsedikt zu richten und der Jugend, mehr als bisher geschehen, durch Gehorsam gegen seinen Landesherrn und dessen Befehle vorzugehen, widrigenfalls bei fernerer Renitenz die schon verdienten strengeren Verfügungen gegen ihn unfehlbar erlassen werden". Eine zweite Untersuchung betraf allerlei Unfug, den angeblich ein paar Königsberger Theologie-Studenten in einer der dortigen Kirchen verübt haben sollten. Ob nun diese Dinge die Aufmerksamkeit der geistlichen Machthaber von neuem auf den Königsberger Weisen gelenkt hatten, oder ob sie jetzt endlich auch an ihn sich heranwagen zu können glaubten: genug, am Tage nach dem Reskript, das den letzterwähnten Fall erledigte, zuckte auch auf ihn, um ein von ihm angewandtes Bild zu gebrauchen, der "Bannstrahl" aus dem Gewölke der "Hofluft" hernieder.


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