Kant als "Jakobiner"
Anfangs wurde die neue Freiheitsbewegung im Westen von nahezu der gesamten deutschen Bildung aufs freudigste begrüßt: nicht bloß von den Führern der Aufklärung wie Campe ("Rousseau hat die Ruten der Kinder und der — Völker zerknickt"), Wieland, Nicolai, Biester usw., sondern auch von den Klopstock, Bürger, Herder, Voß, Jacobi, Schiller. Noch weiter ging, abgesehen von den für ihren Profit fürchtenden Geschäftsleuten, das mittlere Bürgertum, zumal im westlichen Deutschland. Die Begeisterung erfaßte selbst Hof- und Regierungskreise. Hatte doch die Herzogin von Gotha die Büsten der Revolutionshelden in ihren Gemächern stehen, und trugen doch aristokratische Damen Bänder in den Farben der Trikolore. Ja, von der Musik der Potsdamer Gardes du Corps hörte man das Ça ira blasen, und der Rektor des Joachimstaischen Gymnasiums in Berlin pries öffentlich in seiner Königsgeburtstagsrede die Revolution, wobei ihm der anwesende erste Minister Graf Hertzberg, der Verehrer Kants, lebhaft applaudierte! Wie weit verbreitet republikanische Gedanken, trotz einer gewissen Anhänglichkeit an das "angestammte" Königshaus, auch in Königsberg waren, geht daraus hervor, dass der sehr zahme Prediger und spätere evangelische Erzbischof Borowski (Kants Biograph) auf einem Spaziergang zu Hippel äußerte: "Ich glaube, im 19. Jahrhundert gibt es keine Könige mehr."
Anders, als die Ereignisse der Schreckenszeit die Anhänger der neuen Ideen auf die Probe stellten. Da wandte sich einer nach dem anderen von denen, welche die "begeisternde Freiheit" und die "löbliche Gleichheit", die selbst Goethe in seinem 'Hermann und Dorothea' freudig bewillkommnet hatte, von dem "verderbten Geschlechte", von den "Henkersknechten" ab. Sogar der Dichter der 'Räuber' und des 'Fiesko' fühlte sich angewidert von der krassen Wirklichkeit und zog sich in eine erträumte reinästhetische Idealwelt zurück, die "Ordnung" des biederen deutschen Philisters denen vorziehend, die "dem Ewig-Blinden des Lichtes Himmelsfackel zu leihen" gewagt hatten. Nicht so Immanuel Kant. Auch er hatte an dem Gang der Dinge in Frankreich manches auszusetzen, auch er wünschte statt der revolutionären Gewaltsamkeiten eine friedlich und gesetzmäßig sich vollziehende "Evolution". Aber er ließ sich, wie sehr man es ihm auch verdachte, durch die Ausbrüche politischer Leidenschaft nicht an den großen Grundprinzipien einer weltgeschichtlichen Bewegung irre machen. Sein (ihm gegnerisch gesinnter!) medizinischer Kollege Metzger bezeugte nach seinem Tode "die Freimütigkeit und Unerschrockenheit, mit welcher Kant seine der französischen Revolution viele Jahre hindurch ... günstigen Grundsätze gegen jedermann, auch gegen Männer von den höchsten Würden im Staat verfocht. Es war eine Zeit in Königsberg, wo jeder, der von der französischen Revolution nicht etwa günstig, sondern nur glimpflich urteilte, unter dem Namen eines Jakobiners ins schwarze Register kam. Kant ließ sich dadurch nicht abschrecken, an den vornehmsten Tafeln der Revolution das Wort zu reden". Damit stimmt überein, was des Philosophen früherer Schüler und späterer Verleger F. Nicolovius aus dem Jahre 1794 berichtet: dass Kant "noch immer ein völliger Demokrat sei und neulich sogar die Äußerung getan habe, dass alle Greuel, die jetzt in Frankreich geschähen, unbedeutend seien gegen das fortdauernde Übel der Despotie, das vorher in Frankreich bestanden, und dass höchstwahrscheinlich die Jakobiner in allem, was sie gegenwärtig täten, recht hätten". Und ebenso, was unser Politikus selbst am 12. Juni 1798 zu Abegg bemerkte, indem er auf das gefährliche Denunziantentum seines Kollegen Schmalz, dieses "Erzroyalisten" hinwies: "Wenn man über die französische Revolution seine Ideen frei bekennt, so gilt man für einen Jakobiner, da es doch im Grunde, wie andere Lieblingsideen, wenigstens in den ersten Jahren, eine Art Steckenpferd vieler Menschen gewesen war. Man muß niemand hindern, auf seinem Stecken auch durch die Straßen zu reiten, wenn er nur nicht verlangt, dass man deswegen von dem großen Weg gehe oder gar ihm nachtrabe, wenn man nicht Lust hat dazu." In ganz Königsberg war es noch 1798 bekannt, dass Kant "mit ganzer Seele die Sache der Franzosen liebe, durch alle die Ausbrüche der Immoralität usw. nicht irre gemacht werde zu glauben, das Repräsentativsystem sei das beste" (Abeggs Tagebuch zum 1. Juli 98). — Ähnlich radikal wie er scheint nur sein eifrigster Anhänger, der Hofprediger und Mathematiker Schultz, gestanden zu haben; auch er, notiert Abegg, der ihn sehr hochhält, in sein Tagebuch, "ist ein offener Republikaner".