Schicksale des Wohnhauses und der Grabstätte
Noch trauriger ist es Kants Wohnhaus ergangen. Schon Jachmann hat sein verwundertes Bedauern darüber ausgesprochen, dass "sich kein Patriot gefunden hat, der das Haus, in welchem der Weise wohnte, und aus welchem er seine Weisheit der Welt verkündigte, zu einem edlen, des großen Mannes würdigen Zweck gekauft hat. Es ist zum Gasthause bestimmt worden, wo ein Billard und eine Kegelbahn angelegt ist" (S. 188 f.). Es wurde zu einem gewöhnlichen, vorzugsweise von Studenten besuchten Kaffeehaus mit der Überschrift Au billard royal, und in demselben Saal, wo Kants Stimme so oft von seinem Katheder getönt, huldigte man Bier, Tabak, Karten- und Billardspiel; was schon im selben Jahre von einem unbekannt gebliebenen Kollegen Kants in einem satirischen "Trinklied" gegeißelt wurde. Und zwar muß diese Verunglimpfung von Kants Andenken schon sehr bald nach seinem Tode geschehen sein, denn Jachmanns Vorwort ist vom 8. Juni 1804 datiert! Der neue Besitzer war ein Gastwirt Meyer. Von diesem kaufte es 1835 ein Zahnarzt Döbbelin, der es erneuerte und mit einer Marmor-Gedenktafel versehen ließ, welche die Inschrift trug: "Immanuel Kant wohnte und lehrte hier von 1783 bis zum 12. Febr. 1804." Eine Zeitlang befand sich auch ein Erkundigungsbüro darin. Umsonst machte Rosenkranz, Kants langjähriger Nachfolger auf dem philosophischen Lehrstuhle (1833—1879), den Vorschlag, wenigstens ein Zimmer als Erinnerungsraum an den großen Toten mit einer Sammlung seiner Werke in allen Ausgaben und Übersetzungen, seines Nachlasses und seiner Briefe, aller Bildnisse und Reliquien (von denen sich unter anderem Kants Zopf und Spazierstock im Besitze seines Kollegen Schubert befanden) anzulegen. Erst unsere Zeit hat sich der jetzt viel schwierigeren Aufgabe solcher Sammlung unterzogen. Das Traurigste aber ist im Jahre des Heils 1893 geschehen: im April dieses Jahres ist, ohne anderen Widerstand als den des damaligen Vorsitzenden der Königsberger Kantgesellschaft (Dr. Otto Schöndörffer), mit Genehmigung von Bürgermeister und Rat, Kants Wohnhaus niedergerissen worden! An seiner Stelle erhebt sich jetzt ein modernes Geschäftshaus.
Auch Kants Grabstätte sollte keine ungestörte Ruhe genießen. Zunächst wurde der Grabstein während der Franzosenzeit (1807), aus Besorgnis vor etwaigen Räubereien, eine Zeitlang entfernt. Dann aber ward 1809 das "Professorengewölbe", auf Anregung von Kants altem Freund Scheffner, in eine offene Halle, Stoa Kantiana genannt, verwandelt, in welche Sommers die Linden des Kollegienplatzes ihren Duft strömten, und auf deren Steinplatten bei Regenwetter die Professoren und Studenten während der Vorlesungspausen sich zu ergehen pflegten. Auf ihrem östlichen Flügel in einem abgegitterten kapellenartigen Raume wurde nun der Sarg in die Erde gesenkt.
An Kants nächstem Geburtstag, dem 22. April 1810 — es war der erste Ostertag — versammelten sich die Freunde Kants, die Mitglieder der Universität (Professoren und Studenten) und viele andere Männer aus allen Ständen im nahe gelegenen Auditorium maximum. Hier würdigte Kants derzeitiger Nachfolger auf dem philosophischen Lehrstuhl, der bekannte Philosoph J. Fr. Herbart, damals Rektor der Albertina, in ausführlicher Rede — nicht ohne Kritik, doch voll warmer Anerkennung — die philosophischen Verdienste seines Vorgängers. Dann begab sich die Versammlung, von ernster Musik empfangen, hinab in die Halle, wo im Namen der Kantfreunde deren ältester, J. G. Scheffner, den von diesen gestifteten Grabstein aus grauem schlesischen Marmor, auf dem die Hagemannsche Büste aus Carrarischem Marmor aufgestellt war, mit einer kurzen Ansprache enthüllte.
Sieben Jahrzehnte später sollte eine nochmalige Störung von Kants Grabesruhe stattfinden. Da im Laufe der Jahre die schon bald vernachlässigte Stoa Kantiana stark verfallen war, wurde 1880 an deren Ostende eine neue, einfache Kapelle in gotischem Stil erbaut und in deren Gewölbe die Überreste des Philosophen, deren Auffindung und Ausgrabung nicht ohne Schwierigkeiten bewerkstelligt werden konnte, am Totensonntag, 21. November d. J., in aller Stille von neuem beigesetzt. Über dem Grabstein steht eine Nachbildung der in das Senatszimmer der Universität gekommenen Hagemannschen Marmorbüste Kants von Siemering; auf die Wand dahinter ist eine Kopie von Rafaels 'Schule von Athen' gemalt, auf der gegenüberliegenden Wand liest man die berühmten Worte aus der Kritik der praktischen Vernunft: "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."1)
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1) In ihrem gegenwärtigen Zustand freilich wirkt die Kantkapelle, die Halle selbst ist 1898 abgebrochen worden, zumal sie wieder infolge von Witterungseinflüssen sehr gelitten hat, recht wenig stimmungsvoll oder gar erhebend, im Gegenteil dürftig und nüchtern. Schon im Januar 1898 verhandelte daher die Königsberger Stadtverordneten-Versammlung über einen Antrag des Magistrats, die Kapelle abzubrechen und das Grab in den Dom zu verlegen, doch wurde der Antrag abgelehnt (vgl. den Bericht darüber 'Kantstudien' XIII, 170—173). Seit etwa Ende 1913 war nun eine starke Bewegung im Gange, den Gebeinen des größten deutschen Philosophen endlich eine endgültige würdige Ruhestätte zu bereiten, sei es im Chor des Domes oder, wofür die Mehrzahl der Kantforscher sich aussprach, in einer eigenen, freien Grabstätte, einem künstlerisch auszustattenden Kantmausoleum. Durch den Ausbruch des Krieges ist diese Frage, wie so viele andere, vorläufig vertagt worden. Vgl. Goldstein in 'Kantstudien' XIX (1914).. S. 285 ff., 439 ff. — Nachschrift vom März 1924: Inzwischen ist die Kapelle von 1880 abgebrochen und an ihrer Stelle, nach Plänen von Prof. Lahrs, eine neue, von hohen Sandsteinpfeilern getragene Halle errichtet worden, die in ihrem Innern einen schlichten Sarkophag bergen, jedermann zugänglich sein und am 200. Geburtstage des Philosophen (22. April 1924) eingeweiht werden soll.