Die letzten Monate.
Das Sterben


Im Dezember 1803 vermochte er seinen Namen nicht mehr leserlich zu schreiben. Wasianski ließ sich daher für die Fälle notwendiger Unterschriften unter Quittungen und dergleichen eine Generalvollmacht ausfertigen; die Unterschrift unter dieser ist der letzte Federstrich, den die Hand des alten Philosophen getan hat. Nach und nach begannen seine sämtlichen Sinne zu versagen. Speisen und Löffel, die sein schwaches Äuge nicht mehr fand, legte ihm der treue Helfer vor bzw. in die Hand. Auch sein bis vor kurzem noch ziemlich gutes Gehör schwand dahin, und seine Stimme war selbst aus der Nähe kaum zu verstehen. Zudem drückte er sich immer dunkler und unverständlicher aus, konnte auch immer weniger erfassen, was man zu ihm sprach. Am ehesten merkwürdigerweise noch gelehrte Fragen aus den Fächern, mit denen er sich in den letzten Jahren am meisten beschäftigt hatte: Physik, Naturgeschichte, physische Erdkunde und Chemie. So vermochte er noch in den letzten Zeiten die Keplerschen Gesetze ohne Anstoß herzusagen, gab auch noch sechs Tage vor seinem Tode bei Tisch ganz klare Auskunft über die Lebensweise der Berbern in Algier. Sonst begann er in seinen beiden letzten Wochen allerlei Zweckloses zu tun, z. B. seine Kleidungsstücke zu öffnen und zu schließen. Auch seine nächste Umgebung zu verkennen: zuerst seine Schwester, dann Wasianski, zuletzt den Diener. Vom 3. Februar an aß er so gut wie gar nichts mehr. Als ihn an diesem Tag sein Arzt, der Professor der Medizin und derzeitige Universitätsrektor Elsner besuchte, suchte Kant ihm in allerlei unzusammenhängenden, bloß dem gerade anwesenden Wasianski verständlichen Worten seine Dankbarkeit dafür auszudrücken, dass er bei seinen mannigfachen "beschwerlichen Posten" ihm so "viele Güte" bezeige. Auch wollte er trotz seiner Schwäche sich nicht niedersetzen, bis sein Arzt Platz genommen. Mit erzwungener Sammlung seiner letzten Kräfte brach er dann in die so recht sein ganzes Wesen bezeichnenden Worte aus: "Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen."

Die letzten acht Tage waren eigentlich nur ein langsames Hinsterben. Am Sonntag, den 5. Februar, saß er mit seinen beiden Getreuesten, Wasianski und Vigüantius, noch mit Mühe bei Tisch, jedoch ohne etwas zu genießen. Als ihn der erstere in seine Kissen gebettet hatte, gebrauchte er noch seine beliebte lateinische Wendung: Jetzt sei alles in bester Ordnung "testudine et facie, wie in der Schlachtordnung". Tags darauf war er schon viel schwächer und stumpfer: "verloren in sich selbst, saß er mit starrem Blicke da, ohne etwas zu reden". Nur wenn auf wissenschaftliche Dinge die Rede kam, gab er bisweilen Zeichen, dass er noch da sei. Sonst war er in den letzten Jahren manchmal etwas unwirsch gewesen, sobald seine Diener ihm etwas nicht recht machten, wollte er böse werden, ohne es eigentlich zu können. Jetzt hörte auch das auf, er blieb gegen jedermann ganz gelassen. Seit dem 7. Februar blieb er — ausgenommen eine kurze Weile am folgenden Mittag, wo er vergebens einen Löffel Suppe zu genießen versuchte — im Bett. Am Donnerstag zeigte sein Antlitz schon den hippokratischen Zug, auch blieb er seitdem meist ohne Bewußtsein. Freitag vormittag erkannte er noch Wasianski, erwiderte dessen Morgengruß und streichelte ihm Hebevoll die Wange. Als der Getreue ihn am folgenden Tage fragte, ob er ihn noch kenne, vermochte er nicht mehr zu antworten, reichte ihm jedoch — etwas ganz Ungewöhnliches bei ihm — seinen blassen Mund zum Kusse. Der Freund blieb auch in der letzten Nacht, vom 11. auf den 12. Februar, am Lager des Sterbenden und reichte ihm öfters zur Erquickung einen Löffel mit einer Mischung von Wein, Wasser und Zucker, bis er zuletzt leise sagte: "Es ist gut." Das waren die letzten Worte, die aus Kants Munde kamen. Gegen 4 Uhr früh gab er sich eine andere Lage, in der er von da an unbeweglich bis zu seinem Tode verharrte. Bald darauf begann der Puls schon auszusetzen, aber erst um 10 Uhr vormittags brach sein Auge, und um 11 Uhr tat er in Gegenwart seiner letzten Pfleger (seiner Schwester, des Neffen, des an seinem Bette knienden Wasianski, des herbeigerufenen Dieners und des eben eingetretenen Vigilantius) den letzten Atemzug. Sein Tod war nach dem Zeugnis Wasianskis (S. 207) "ein Aufhören des Lebens", aber nicht "ein gewaltsamer Akt der Natur".

Schon die letzten Tage über bangte ganz Königsberg um das Leben seines größten Sohnes. Nun verbreitete sich die Todesnachricht schnell von Mund zu Mund. Sie wirkte auf die gesamte Einwohnerschaft, vom Vornehmsten bis zum Geringsten. Der Tag, ein Sonntag, war besonders klar und wolkenlos, ein einziges zartes Wölkchen schwebte im Zenit des tiefblauen Himmels. Darauf soll ein Soldat auf der Schmiedebrücke die Umstehenden mit den Worten aufmerksam gemacht haben: "Seht, das ist die Seele Kants, die gen Himmel fliegt.1)"

Die erste öffentliche Kunde von Kants Abscheiden brachten die 'Kgl. Preuß. Staats-, Krieges- und Friedens-Zeitungen' (jetzige 'Königsberg. Hartungsche Zeitung') vom Montag, den 13. Februar, an der Spitze des Blattes unter dem 12. Februar: "Heute Mittags um 11 Uhr starb hier an völliger Entkräftung im 80sten Jahre seines Alters Immanuel Kant. Seine Verdienste um die Revision der speculativen Philosophie kennt und ehrt die Welt. Was ihn sonst auszeichnete, Treue, Wohlwollen, Rechtschaffenheit, Umgänglichkeit — dieser Verlust kann nur an unserem Orte ganz empfunden werden, wo also auch das Andenken des Verstorbenen am ehrenvollsten und dauerhaftesten sich erhalten wird." In den beiden folgenden Nummern vom 16. und 20. Februar erschien dann die eigentliche Todesanzeige:

Den 12. Februar c. Mittags um 11 Uhr starb Herr Professor Immanuel Kant, alt 79 Jahre 10 Monate, ohne vorhergegangene Krankheit an der eigentlichen Entkräftung vor Alter.

Im Namen seiner hiesigen und abwesenden Verwandten meldet diesen Todesfall seinen gesamten Freunden

der Diakonus Wasianski,

als Cur. Fun.2) und Executor Testamenti.

 

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1) Reusch, a. a. O., S. 11. Nach Wasianski (S. 213) wäre das Sterbebett des großen Mannes von dem unheimlichen Zwielicht einer fast totalen Sonnenfinsternis beleuchtet worden, allein das scheint in dem Zusammenhang des Textes schon auf den Tag vorher (11. Februar) zu gehen. (Dies wird mir nachträglich durch eine genaue kalendarische Feststellung meines Freundes A. Warda-Königsberg bestätigt.) So paßt das poetische Bild Professor Rhesas: "Er fiel — an jenem Unglückstage, Barg sich die Sonne im Schattenschleier" freilich nicht. Im Anschluß an die Erzählung Reuschs hat Schopenhauer 1820 ein stimmungsvolles kleines Gedicht verfaßt:

 

An Kant.

"Ich sah Dir nach in Deinen blauen Himmel,

Im blauen Himmel dort verschwand Dein Flug,

Ich blieb allein zurück in dem Gewimmel,

Zum Troste mir Dein Wort, Dein Buch.

 

"Da such' ich mir die Öde zu beleben

Durch Deiner Worte geisterfüllten Klang:

Sie sind mir alle fremd, die mich umgeben,

Die Welt ist öde und das Leben lang."

 

2) Curator Funeris = Besorger des Leichenbegängnisses.


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