b) Geringschätzung des Geschichtlichen
Mit dieser Begründung des Religiösen rein auf das Bewußtsein (Gewissen) des Einzelnen hängt weiter die, übrigens seiner gleichen Haltung in der Philosophie ganz entsprechende, Gleichgültigkeit, ja beinahe Abneigung gegenüber dem Historischen in der Religion zusammen. Auch das tritt schon in seiner vorkritischen Zeit in seinem Urteil über Herders 'Älteste Urkunde' (vgl. Bd. I, 233 f.) hervor. Nicht bloß, dass er ironisch zweifelt, ob der von Herder "vermeintlich gefundene Hauptschlüssel" auch wirklich "alle Kammern des historisch-antiquarisch-kritischen Labyrinths" öffne: er gibt dem bibelgläubigen Magus auch sehr hübsch zu verstehen, wohin die Konsequenzen eines solchen Standpunktes führen. Es bedeutet eine Verurteilung aller bloßen Gelehrsamkeit in der Theologie, wenn er die derb-klaren Worte schreibt: "Wenn eine Religion einmal so gestellt ist, dass kritische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundveste ausmacht, auf die sie durch alle Zeitalter und in allen Völkern erbauet sein muß, so schleppt der, welcher im Griechischen, Hebräischen usw. ... am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen wie sie wollen, als Kinder, wohin er will; sie dürfen nicht muchsen ..." Und es klingt wie eine Vorahnung der erst in unseren Tagen wenigstens teilweise zum Durchbruch gekommenen freien, philologisch-unbefangenen Bibelforschung, wenn er prophezeit: Erst, wenn "freiglaubende Philologen" sich jener "vulkanischen Waffen" bemächtigen würden, werde es mit dem Ansehen jener "Demagogen" zu Ende sein (an Hamann, 8. April 1774).
Noch deutlicher äußert sich ein in die erste Hälfte der 80er Jahre gehörendes, in weiteren Kreisen noch unbekanntes Loses Blatt (Ak.-Ausg. XV, Nr. 430). In Ansehung eben jenes "Historischen der Religion" müsse sich der bei weitem größte Teil der Menschen auf andere verlassen, und sei es darum unmöglich, je zur völligen Gewißheit zu gelangen. Ähnlich stehe es mit dem Glauben an eine Offenbarung. Entweder wird sie "durch Menschen mitgeteilt", dann beruht sie ebenfalls auf "historischem Glauben an Gelehrte"; oder sie wird jedem Individuum besonders erteilt, dann ist jeder "inspiriert" und kein gemeinschaftlicher Maßstab möglich. "Es ist aber auch etwas, was sie gar nicht anderen überlassen, sondern selbst ausmachen müssen, nämlich was ihr Gewissen ihnen erlaubt hierbei anzunehmen." Hier aber ist völlige Gewißheit nicht bloß möglich, sondern "schlechthin notwendig". Kann es uns auch keine neuen Erkenntnisse lehren, so kann es uns doch "davon ganz gewiß" machen, was oder wieviel man "auf seine Seele und Gewissen bekennen" kann. Eine "gelehrte" Religion kann nie für alle Menschen sein; deshalb wird und muß die Religion einmal dahin kommen, dass jeder nach seinem bloßem Menschenverstand sie zu fassen und sich davon zu überzeugen vermag; wie denn auch (genau wie bei der Sittenlehre, vgl. Buch III, Kap. 2) "nichts einfacher ist als der rein moralische Religionsglaube" (Reicke, S. 66). Jeder Punkt, der Gelehrsamkeit zur Überzeugung von seiner Richtigkeit voraussetzt, muß einmal wegfallen, wenngleich er — ein an Lessings 'Erziehung des Menschengeschlechts' erinnernder Gedanke — "vielleicht anfänglich zur Introduktion nötig war". Dagegen bleibt der theologischen Gelehrsamkeit die Aufgabe, durch ihre historischen Untersuchungen den "Vorwitz" zu zügeln und "Hirngespinste" hintanzuhalten.
Genau im gleichen Sinne spricht sich der von uns schon an früherer Stelle (S. 80) besprochene wichtige Brief an Moses Mendelssohn vom 16. August 1783 aus: Wenn es dort hieß: "alle das Gewissen belästigende Religionssätze kommen uns von der Geschichte, wenn man den Glauben an deren Wahrheit zur Bedingung der Seligkeit macht", so erinnert auch dieser Satz an das bekannte Wort von Mendelssohns größerem Freund, dass zufällige Geschichtswahrheiten nie der Grund von ewigen Vernunftwahrheiten werden können.
Aus diesem Gegensatz zur historischen Begründung der Religion — die mit dem Fehlen geschichtlichen Interesses keineswegs identisch ist — erklärt sich auch Kants Mangel an literarischen Kenntnissen auf dem Gebiet theologischer Dogmatik. Er, der sonst so Belesene, berührte in seiner im übrigen auf alle möglichen Gegenstände sich erstreckende Unterhaltung, selbst im Verkehr mit alten theologischen Bekannten wie Borowski, theologische Untersuchungen, besonders aus dem dogmatischen und exegetischen Fache, nie. Nach des letzteren Zeugnis wäre sein Wissen im Fache der Dogmatik "wirklich nicht" über die Zeit von 1742/43, in der er sie einst bei F. A. Schultz gehört, hinausgegangen. Eine Ausnahme habe in seinen späteren Jahren nur das Studium der Kirchengeschichte gemacht (was also gerade für sein historisches Interesse spricht): als ihn Borowski einst besuchte, legte er gerade den 17. Band von Schröckhs Kirchengeschichte fort und versicherte dem Besucher, sämtliche Bände bis zu diesem gelesen zu haben. Vereinzelt gefielen ihm auch Predigten, wie die des Berliners Spalding und des Engländers Blair. Vielleicht wollte er sich jedoch auch mit Borowski über theologische Gegenstände nicht unterhalten. Denn wir wissen, dass er sich für die modern-theologischen Bestrebungen seiner Zeit interessiert, dass er z. B. den Wolfenbüttler Fragmentisten, den "Naturalisten" Bahrdt, den später zu nennenden "Zopf-Schulz" und, außer Rousseau, ziemlich sicher auch Lessings und wohl auch anderer theologische Schriften gelesen hat.*) Einmal wirft er in den Losen Blättern (Reicke, G 18) die bibelkritische Frage auf: "Wer mag wohl der Redakteur der biblischen Schriften gewesen sein?", um darauf zu antworten: "Es muß ein Judenchrist gewesen sein." Ein anderes Mal (ebd. E 73) will er die lokale, zeitliche und nationale Bedingtheit der biblischen Schriftsteller, ja auch Christi und der Apostel selbst, berücksichtigt wissen und führt sehr hübsch gegen den "Mystizismus oder Buchstabenglauben" die Verse 1. Timotheus 1, 4—6 ins Feld, wo von den Allegorien und Geschlechtsregistern gewarnt wird, "die kein Ende haben" und mehr zu unnützem Schulgezänk als zu christlicher Besserung führen. Am radikalsten aber klingt eine frühestens 1796 entstandene Aufzeichnung (a. a. O., E 23), wonach "der Kanon der heil. Schrift, vornehmlich Alten Testaments", "offenbar lange nach Christi Geburt" zustande gekommen sein soll, "selbst die alexandrinische Bibelübersetzung". "Die Juden scheinen in Opposition mit den Christen jenes Werk zusammengeschrieben oder wenigstens kollegiert [wohl = zusammengestellt, K. V.] zu haben."
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*) An Lessing erinnert u. a. auch ein Gedanke aus den Losen Blättern (Reicke, S. 90): Auch die Bibel könne wegfallen, "ohne dass dadurch die Religion ihrem Geiste nach aus der Menschen Kenntnis käme." Im übrigen vgl. über das Verhältnis beider Männer die eingehende Untersuchung von E. Arnoldt in 'Kritische Exkurse zur Kantforschung'. 1894.